Wenn sich in den kommenden Tagen evangelikal geprägte Leiter in Berlin zum Europäischen Kongress für Evangelisation treffen, so knüpfen sie auch am bedeutsamen Weltkongress von 1966 an. Es gibt von der damaligen Konferenz einige Schätze zu heben — zum Beispiel die Rede des äthiopischen Kaisers vor der versammelten evangelikalen Elite jener Tage.
„Der Kaiser von Äthiopien ist ein Mann, der regelmäßig in die Kirche geht und Jesus Christus, unseren Herrn und Erlöser, verehrt.“[1]
Mit diesen Worten begrüsste Rev. Billy Graham 1966 am Weltkongress für Evangelisation in Berlin den Kaiser von Äthiopien, Haile Selassie. Heute eine vergessene Randnotiz der Geschichte, war die Kunde der kurzfristig anberaumten Visite des Kaisers damals ein ziemlicher Aufreger.
Mit der Einladung des Kaisers – gleichzeitig Oberhaupt der Äthiopisch Orthodoxen Kirche — gelang den Evangelikalen wohl ein echter Coup. Seine Rede kam einem Ritterschlag für die damals aufstrebende neo-evangelikale Bewegung gleich und löste da und dort wohl auch ein gehöriges Mass an Neid aus.
Carl F. Henry, ein Pionier der evangelikalen Bewegung, war massgeblich an der Organisation der Konferenz beteiligt und berichtet in seinen Memoiren über den Aufruhr, den die Ankunft des «wiedergeborenen äthiopischen Herrschers»[2] im geteilten Berlin auslöste:
«Als die Presse plötzlich erfuhr, dass der äthiopische Kaiser ankommen würde, waren die deutschen Regierungsbeamten fassungslos, denn es war üblich, dass Regierungen Besuche ausländischer Herrscher organisieren und für deren Sicherheit Verantwortung tragen. […] Als Selassie eintraf, übernahm das Westberliner Protokollsystem aus Willy Brandts Büro die Führung. Die Kongressmitarbeiter, die den Besuch organisiert hatten, wurden praktisch ignoriert. Ökumenische Kirchenvertreter, die zuvor wenig Interesse am Kongress gezeigt hatten, drängten nun nach vorne, um sich öffentlich als begeisterte Begrüsser Selassies fotografieren zu lassen.»[3]
Der Berliner Kongress von 1966 würde wichtige Weichenstellungen für die evangelikale Bewegung mit sich bringen und gilt als Vorläuferkongress zum epochalen Lausanner Kongress von 1974, deren Vorgeschichte ich bereits ausgiebig dokumentiert habe.
Die nachfolgend aus dem Englischen übersetzte Rede des Kaisers am berliner Kongress war wohl kaum bestimmend für die weitere theologische Entwicklung der evangelikalen Bewegung. Sie ist dennoch lesenswert. Denn zum einen gibt sie einen Einblick ins Denken eines Mannes, der gleichzeitig staatliches und kirchliches Oberhaupt war. Sie ist Ansprache eines Monarchen in einer Zeit der Demokratisierung. Sie ist Glaubensrede des «Conquering Lion of the Tribe of Judah»[4]. Zum anderen kann sie auch als Vorbote einer Verlagerung des Schwerpunktes der Christenheit in den globalen Süden gelesen werden. Gemäss dem Portal Operation World sind heute rund 60% der Äthiopischen Bevölkerung Christen, rund 20% sind evangelikal/pfingstlich.
Die Rede des Kaisers zeigt einen Glauben, der sich tief in der Geschichte eines Volkes verankert hat. Sie betont die Wichtigkeit, dass Länder nicht nur materielle Güter sammeln, sondern in ein geistliches Erbe investieren. Sie ermutigt zu religiöser Toleranz ohne Preisgabe der eigenen Identität. Sie warnt vor menschlicher Selbstüberhebung. Sie sucht die Einheit der Kirche. Sie betont die Dringlichkeit der Verkündigung des Evangeliums und die Einzigartigkeit von Jesus Christus.
Die Rede ist als Tonaufnahme erhalten und kann auch in den Sammelbänden zum damaligen Kongress nachgelesen werden.[5]
Aktuell erlebt das christliche Kernland im Norden von Äthiopien einmal mehr unruhige Zeiten.[6] Ich lade ein, die nachfolgend auf Deutsch übersetze Kaiser-Rede von 1966 auch als Anlass zu nutzen, um für Äthiopien zu beten.

Einen dauerhaften Turm bauen
Kaiser Haile Selassie, 26. Okt. 1966
Jesus Christus hat gesagt: “Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen”. Deshalb hoffen Wir, dass diese Worte in dieser großen Versammlung in ihrer vollen Bedeutung verwirklicht werden.
Wir freuen uns, in dieser berühmten Stadt Berlin anwesend zu sein, wo christliche Führungskräfte versammelt sind, um über Mittel und Wege zur Verbreitung unseres christlichen Glaubens in der Welt nachzudenken. Wir danken Herrn Billy Graham für die Einladung, vor dieser Versammlung zu sprechen. Die Verbreitung des christlichen Glaubens unter den Völkern ist in diesem Zeitalter zu einer Aufgabe von grösster Wichtigkeit geworden, wie diese große Versammlung christlicher Führer beweist.
Wie Sie alle wissen, ist es Jahrhunderte her, dass unser Land, Äthiopien, das Evangelium Christi angenommen hat. Aus der Heiligen Schrift erfahren wir, dass der erste Äthiopier, der sich zum Glauben an Jesus Christus bekannte, nur wenige Monate nach dem Tod und der Auferstehung unseres Herrn getauft wurde. Von da an verbreitete sich das Christentum stetig unter dem äthiopischen Volk und wurde im vierten Jahrhundert die Religion der Äthiopier. Es erfüllt Uns mit Stolz und ist ein besonderer Grund zur Dankbarkeit gegenüber dem allmächtigen Gott, wenn Wir uns daran erinnern, dass der christliche Glaube durch den kaiserlichen Hof und durch die Vermittlung des damals herrschenden Monarchen in unserem Volk eingeführt wurde.
Die äthiopische Geschichte bezeugt, dass unsere Vorfahren, die sich nach den ersten christlichen Kaisern erhoben haben, Männer und Frauen waren, die grossen Eifer für den Glauben Christi hatten und alles in ihrer Macht Stehende taten, um ihn in unserem Volk zu verbreiten. Viele von ihnen, wie Kaiser Kaleb, der im fünften Jahrhundert lebte, und Kaiser Lalibela und seine unmittelbaren Nachfolger, die im zwölften Jahrhundert lebten, sind heiliggesprochen worden.
Als die Länder des Nahen Ostens, Nordostafrikas und Kleinasiens, in denen das Evangelium von den Aposteln gepredigt wurde, von einer dem christlichen Glauben feindlich gesinnten Macht überrannt und unterworfen wurden, haben die Herrscher und das Volk Äthiopiens, fest in ihrer tiefen Liebe zum Glauben an Christus verankert und die natürlichen Vorteile ihres Heimatlandes nutzend, grosse Anstrengungen unternommen, um Äthiopien als eine Insel des Christentums zu erhalten. Wir sind unserem Gott zutiefst dankbar für diese Gnade. Zahlreich sind unsere Vorfahren, die im Laufe der Jahrhunderte ihr Leben auf dem Schlachtfeld geweiht und geopfert haben, damit Äthiopien in seinem christlichen Glauben kraftvoll überleben kann.
Als Wir nach all diesen würdigen Vorgängern vor einem halben Jahrhundert die Führung unseres Volkes übernahmen, wurden wir uns des Ausmasses des heiligen Vertrauens und der Verantwortung bewusst, die uns übertragen wurde, nämlich für die Ehre Gottes und das dauerhafte Wohlergehen unseres Volkes zu arbeiten. In den vergangenen 50 Jahren haben Wir uns nicht nur dafür eingesetzt, dass Unser Volk auf dieser Erde ein besseres Leben führen kann, sondern Wir haben auch nicht an Kraft und Mitteln gespart, um sein geistiges Erbe zu entwickeln, dessen Wert kein menschlicher Verstand ermessen kann.
Wir haben uns dafür eingesetzt, dass die Heilige Schrift und die Bücher, die uns die Kirchenväter hinterlassen haben, mit Hilfe moderner Drucktechniken vervielfältigt und nicht nur in unserer modernen Sprache, sondern auch in unserer alten Sprache Geez an alle verteilt werden. Unsere Äthiopisch-Orthodoxe Kirche, die jahrhundertelang von den anderen christlichen Kirchen abgeschnitten war, hat sich dem Ökumenischen Rat der Kirchen angeschlossen und arbeitet an der Aufgabe mit, den Glauben zu stärken und die Einheit der Kirche zu verwirklichen. Wir haben den Missionaren geholfen, die aus anderen Ländern ausgesandt werden um denjenigen unseres Volkes das Evangelium zu verkünden, die noch nicht zur Erkenntnis der rettenden Gnade Gottes gekommen sind. Und wir werden diese weiterhin unterstützen. Da Uns die Einheit der Kirche ein großes Anliegen ist und Wir, so Gott will, die Hoffnung hegen, dass dieses heilige Ziel in unserer Zeit erreicht werden kann, waren Wir glücklich, vor zwei Jahren ein Treffen der Oberhäupter der orientalisch-orthodoxen Kirchen in Unserer Hauptstadt Addis Abeba einberufen zu haben, um über Mittel und Wege zu beraten, wie Harmonie und Einheit in der Kirche herbeigeführt werden könnte.
Wir erwähnen all dies nur, um darauf hinzuweisen, dass dieses Zeitalter vor allen anderen Zeitaltern eine Periode in der Geschichte ist, in der es unsere vorrangige Pflicht sein sollte, allen unseren Mitmenschen das Evangelium der Gnade zu verkünden. Die Liebe, die unser Gott in Christus der Menschheit erwiesen hat, sollte uns alle, die wir Nachfolger und Jünger Christi sind, dazu drängen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um dafür zu sorgen, dass die Botschaft des Heils zu denjenigen unserer Mitmenschen getragen wird, für die Christus, unser Erlöser, geopfert wurde, die aber noch nicht in den Genuss gekommen sind, die gute Nachricht zu hören.
Da sich niemand in das Reich Gottes einmischen kann, sollten wir die Angehörigen anderer Religionen tolerieren und Seite an Seite mit ihnen leben. Wenn jedoch eine Bedrohung besteht, sollten wir uns mutig gegen solche Übergriffe wehren. Wir möchten hier an den Geist der Toleranz erinnern, den unser Herr Jesus Christus gezeigt hat, als er allen, auch denen, die ihn gekreuzigt haben, Vergebung gewährte.
In diesen modernen Tagen gibt es eine Vielzahl von Veröffentlichungen in der Presse und im Rundfunk, die den menschlichen Verstand und Geist einnehmen; viele neue Ideen werden von den Gelehrten verbreitet. Viele wunderbare Geräte werden hergestellt, um das Leben immer bequemer zu machen. Die reichen Mächte haben die Erforschung und Ausbeutung der Erde hinter sich gelassen und wetteifern miteinander, um den Mond und die Planeten zu erforschen und zu erobern. Das Wissen nimmt in verwirrender Weise zu. All das ist gut, wunderbar und lobenswert. Aber was wird das Ende von all dem sein? Wir sind der festen Überzeugung, dass nur das, was der Herr will, auch stattfinden wird. Wir sollten uns davor hüten, dass die von der Menschheit erzielten Ergebnisse nicht das Schicksal des Turmbaus zu Babel erleiden, des Werks der Menschen von einst, das in ihren Händen zerfiel. Der Apostel Paulus sagt: “Die Weisheit dieser Welt ist Torheit bei Gott” und “Der Herr kennt die Gedanken der Weisen, und sie sind vergeblich.” Der Grund dafür ist, dass der Mensch im Allgemeinen sich selbst und seine Weisheit zum Anfang und Ende seines Lebensziels macht, und wir sind überzeugt, dass das Ende davon Zerstörung und Tod ist.
Unser Herr Jesus Christus sagt: “Was hat ein Mensch davon, wenn er die ganze Welt gewinnt und seine eigene Seele verliert?” Warum ist die Anstrengung derer, die den Turm zu Babel bauen wollten, vergeblich gewesen? War es nicht deshalb, weil sie versuchten, unabhängig von ihrem Schöpfer zu leben, und weil sie sich in ihrer Weisheit rühmten und versuchten, einen Turm zu bauen, dessen Spitze bis zum Himmel reichen sollte, um sich so einen Namen zu machen? Wir sind der Überzeugung, dass alle Aktivitäten der Menschenkinder, die sich nicht vom Geist und Rat Gottes leiten lassen, keine dauerhaften Früchte tragen werden, dass sie vor dem Herrn nicht annehmbar sein werden und dass sie daher ebenso scheitern werden wie der Turmbau zu Babel.
Aus diesem Grund haben die Kirche Christi und insbesondere die christlichen Leiter eine so große Verantwortung. Wie weise oder wie mächtig ein Mensch auch sein mag, er ist wie ein Schiff ohne Ruder, wenn er ohne Gott ist. Ein Schiff ohne Ruder ist den Wellen und dem Wind ausgeliefert, es treibt, wohin sie es tragen, und wenn ein Wirbelsturm aufkommt, wird es an den Felsen zerschmettert, so als hätte es nie existiert. Wir sind der festen Überzeugung, dass eine Seele ohne Christus kein besseres Schicksal erleiden wird.
Deshalb ihr Christen, lasst uns aufstehen und mit dem geistlichen Eifer und Ernst, der die Apostel und die ersten Christen auszeichnete, daran arbeiten, unsere Brüder und Schwestern zu unserem Erlöser Jesus zu führen, der allein das Leben in seinem vollsten Sinn schenken kann.
Titelbild: Billy Graham Evangelistic Association, Bearbeitung: Peter Bruderer
Weiteres Filmmaterial zur Konferenz von 1966
Interview zur aktuellen Beziehung zwischen Ortodoxen und Evangelikalen in Äthiopien
Pressemeldung zur Konferenz von 2025
[1] https://www.youtube.com/watch?v=z0hGb-Gegpo
[2] Vgl. Carl F.H. Henry, Confessions of a Theologian, 1986, S257
[3] Vgl. Carl F.H. Henry, Confessions of a Theologian, 1986, S257-258
[4] Haile Selassie galt als Vertreter der salomonischen Dynastie und als 225. Nachfolger von König Salomon und der Königin von Saba. Wie alle Kaiser von Äthiopien nannte er sich selbst „der siegreiche Löwe des Stammes Juda“. Der Löwe mit Krone und Zepter war auch auf der äthiopischen Flagge abgebildet.
[5] Carl F. Henry, W. Stanley Mooneyham (ed.), One Race, One Gospel, One Task, World Congress on Evangelisation, Bd1, S19-21
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