Teil 7: Der Mensch Jesus
In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evangelikale zwischen fundamentalistisch und postevangelikal“ befasse ich mich mit der religiösen Landschaft und der evangelikalen Binnenpluralisierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen dritten Weg zwischen einem biblizistischen Fundamentalismus und dem Post-Evangelikalismus auf.
In diesem Beitrag führe ich in Kapitel 7 „Das ganze Evangelium für die ganze Welt: der Mensch Jesus“ ein (Seiten 154–173).
Nachdem wir uns im letzten Beitrag mit Jesus als Erlöser befasst haben, müssen wir fragen, was Jesus als Mensch für den Glauben bedeutet. Im progressiven Christentum spielt Jesus als Erlöser eine auffallend geringe Rolle. Fundamentalistische Christen dagegen haben ein merkwürdig distanziertes Verhältnis zu Jesus als Mensch. Da gibt es viel Unausgegorenes auf beiden Seiten.
Diese Differenz muss überwunden werden. Beiden Seiten fehlt etwas, das für einen lebendigen Glauben essenziell ist. Positiv formuliert: Beide Seiten haben auch etwas, das wichtig ist.
Mein Jesusbild
Ich bin mit einem Jesusbild aufgewachsen, das sich auf den Nenner „Jesus wurde geboren, um zu sterben“ bringen liess. Wir lasen in den Evangelien wie Jesus mit Zöllnern feierte, sich den Armen annahm, sich von Prostituierten berühren liess und wie er sich zu politisch brisanten Themen wie der Steuerpflicht äusserte. Obwohl uns das alles faszinierte, blieb uns Jesus als Mensch fremd.
Warum eigentlich?
Es kam uns nicht in den Sinn, uns von Jesu Leben inspirieren zu lassen, die Welt zu gestalten, obwohl die Themen heute die gleichen wie damals sind: Banken und multinationale Unternehmen machen fette Gewinne, während die Armen immer noch für ein paar Sandalen verkauft werden. In vielen Ländern ausserhalb der westlichen Kultur sind Frauen noch immer unfrei. Menschenhandel und Prostitution blühen auf, um die enorme Nachfrage der Pornoindustrie zu befriedigen. Jesus lebte in einer Welt, die der unsrigen erstaunlich ähnlich war.
Immer mehr Christen fragen, was Jesus als Mensch für ihren Glauben bedeutet.
Der Reichtum des Nordens und die Armut des Südens, die Rechte von Frauen und Minderheiten und nicht zuletzt die Frage nach einem nachhaltigen Lebensstil beschäftigt eine zunehmende Zahl engagierter Christen. In progressiven Formen des Glaubens gehören diese Fragen zu den zentralen Themen christlicher Existenz. Auch Postevangelikale möchten ihren Glauben mit Weltgestaltung verbinden. Viele Exits verlassen ihre Gemeinden nicht, weil sie den Glauben hinter sich lassen wollen. Sie tun es, weil sie sich mit einem weltfremden Christentum nicht identifizieren können. Zu wissen, wogegen sie als Christen sind, genügt ihnen nicht. Sie spüren, dass ein Glaube, der sich über Abgrenzung definiert, keine Leuchtkraft hat. Sie möchten nicht zu den Ewiggestrigen gehören, die schon immer wussten, dass die Welt böse ist und die Dinge sich verschlechtern. Sie möchten nachhaltig leben und die Welt besser machen.
Ich halte dieses Fragen für entschieden richtig. Ein lebendiger Glaube drängt zur Weltgestaltung. Er braucht aber auch eine solide theologische Grundlage. Das ist einer der Gründe, die mich bewogen haben, das Buch zu schreiben. Es ist Jesus selbst – wer sonst — , der mit seinem Leben und seiner Lehre die Grundlage für ein gesundes Verhältnis zur Welt bietet.
Prophetischer Dreiklang
Wenn man die Evangelien liest, wird Seite für Seite deutlich, wie Jesus nicht nur als Sohn Gottes handelte, sondern zugleich wunderbar menschlich war. Ich bin überzeugt:
Wenn das Christentum in der Postmoderne seine Leuchtkraft wiedergewinnen will, muss es menschlich werden wie Jesus.
Die Menschlichkeit Jesu wurzelt im Alten Testament mit seiner messianischen Hoffnung und ist eng verbunden mit der Botschaft der Propheten. Ich gehe von der wegweisenden Beobachtung aus: Alles, was Jesus tat, ereignete sich in Erfüllung der alttestamentlichen Hoffnung der Propheten.
Die Propheten waren Visionäre, die das Kommen des Messias ankündigten und eine neue Menschheit erblickten. Im Kapitel über die Menschlichkeit Jesu leitet mich folgende Einsicht:
Die Propheten erblickten eine neue Gesellschaftsordnung, in der die Armen Hilfe erfahren, Unterdrückten Gerechtigkeit widerfährt und Feinde miteinander versöhnt werden. Dieser wunderbare prophetische Dreiklang war erfüllt von einer Philosophie der Liebe für die Welt.
Das Neue Testament portraitiert Jesus als Herbeibringer dieser Ordnung (Markus 1,14–15). In der Person von Jesus, in seiner Jüngergemeinschaft und in der Urkirche nahm die prophetische Vision einer neuen Menschheit Gestalt an. Diese Gestaltwerdung war kein Nebenprodukt der Nächstenliebe. Es war der bewusste Versuch einer Umsetzung der prophetischen Vision durch die Kraft des Geistes. Es war ein heiliges Experiment.
Immer wenn Jesus vom Königreich sprach, ging es um diese neue Ordnung. Die Bergpredigt (Matthäus 5–7), die Magna Charta dieser Ordnung, ist auffallend menschlich. Mit ihr legt Jesus eine konkrete Alternative zu den Herrschaftsstrukturen der Welt vor. Nach der Ordnung des Königreichs zu leben, bedeutet menschlich zu werden. Es geht darum, Feinde zu lieben (Matthäus 5,43ff), aufrichtig zu sein (Matthäus 5,8), sanftmütig zu werden (Matthäus 5,5), Frieden zu stiften (Matthäus 5,9) und nicht zu richten (Matthäus 7,1ff).
Ein grosser Teil seiner Lehre vermittelte Jesus durch Handlungen. Er folgte dem Beispiel der Rabbinen, die Jünger um sich scharten, die buchstäblich hinter dem Rabbi hergingen, um zu sehen, wie er lebte und um zu werden, wie er war. Jesus hat erstaunlich wenig Glaubenssätze aufgestellt. Viel öfter hat er durch sein Beispiel gezeigt, dass im Königreich eine neue Möglichkeit anbricht, Mensch zu sein. Vieles ist bei Jesus nicht ausformuliert, sondern im Kern vorhanden. Jesus stiess mit seinen Taten eine Richtung an, in die wir weitergehen sollten.
Wenn das Christentum seine Leuchtkraft wiedergewinnen will, müssen wir Jesus über die Schulter schauen, wie die Jünger dem Rabbi, und von ihm lernen, menschlich zu sein.
Der Hauptteil des Kapitels über Jesus als Mensch besteht darin, den prophetischen Dreiklang, der im Leben von Jesus so wunderbar zum Ausdruck kommt, darzulegen. Ich fasse ihn hier schon mal zusammen:
An erster Stelle des visionären Dreiklangs im Alten Testament steht bei den Propheten Hilfe für die Armen. Jesus nahm sich der Armen an und sagte, dass er insbesondere zu ihnen gesendet ist (Lukas 4,18–19).
An zweiter Stelle des visionären Dreiklangs steht bei den Propheten Gerechtigkeit für Unterdrückte. Jesus nahm sich der Verachteten und Unterdrückten an. Sein Umgang mit Kranken, mit Frauen, mit sozial Niedergestellten brachte eine neue Möglichkeit menschlicher Beziehungen zur Geltung.
An dritter Stelle des visionären Dreiklangs steht bei den Propheten die Schau einer friedlichen und gerechten Welt. Jesus gründete eine Gemeinschaft der Versöhnung, aus der die Kirche wurde und lehrte seine Nachfolger, Friedensstifter zu werden.
Im Kapitel nehme ich dich in die entscheidenden Texte der Evangelien mit, um diesem Dreiklang nachzuspüren.
Die Leuchtkraft wieder finden
Wenn das Christentum seine Leuchtkraft wieder finden will, muss es Christus glaubwürdig präsentieren und menschlich werden, wie er es war. Ein grosser Teil der Ablehnung, die konservativen Formen des Christentums entgegenschlägt, ist hausgemacht. Ein Teil der Ablehnung rührt daher, dass wir Evangelikalen gut darin waren, gegen gewisse Dinge zu sein. Wir haben unsere Identität daran festgemacht, dass wir gegen Liberalismus, Homosexualität, sexuelle Freizügigkeit, Abtreibung und andere Dinge waren. Erstaunlicherweise schafften es Dinge wie ein zügelloser Kapitalismus, die Ausbeutung von Arbeitskräften oder eine richtende Gesinnung nicht auf die Liste. Erstaunlich ist das, weil diese Dinge im Predigtrepertoire von Jesus eine wichtige Rolle spielen (Matthäus 6,23; 7,1ff; Lukas 10,7). Ich bin überzeugt:
Die Lösung der Probleme, die das Christentum gegenwärtig hat, liegt in Jesus selbst.
Das Problem des Christentums ist, dass es sich von Jesus entfernt hat. Jeder konstruiert sich einen eigenen Jesus. Für die einen ist er der Erlöser. Für die anderen der vorbildliche Mensch oder eine grosse Persönlichkeit. Ein Christentum mit einem einseitigen Jesus verliert seine Leuchtkraft.
Jesus war wunderbar ganzheitlich. Er predigte und handelte. Er wies zurecht und er liebte. Er war gegen bestimmte Dinge, vor allem aber für etwas. Eigentlich war er nur gegen die Selbstgerechtigkeit der religiösen Experten, die ihre Lebensweise anderen aufbürdeten (Matthäus 11,28). Ansonsten war Jesus für etwas: Für die Armen, die Kranken, die Frauen, die Zerschlagenen, die Ausgestossenen, die Kinder, die Schwachen, die Krüppel. Jesus war für die Menschen!
Die Polarisierung im Christentum kann überwunden werden, wenn Jesus für uns sowohl Erlöser als auch Mensch ist. Wir müssen das Königreich und das Kreuz zusammenbringen. Das Königreich war das Herzstück der Botschaft Jesu und das Kreuz der grosse Fluchtpunkt seines aussergewöhnlichen Lebens. In beiden zeigt sich Gottes Ja zu uns. Das Leben Jesu und seine Lehre vom Königreich zeigen uns, wie wir recht menschlich werden können. Das Kreuz konfrontiert uns mit unserer Sünde und zeigt uns die unaussprechliche Liebe Gottes.
Im gesamten Kapitel geht es mir darum, vom Alten Testament und dem Leben Jesu her zu zeigen, was das Christentum gegenwärtig am nötigsten hat. Wir brauchen das ganze Evangelium und den ganzen Christus für die ganze Welt. Meine These:
Das Christentum wird in Zukunft weder in liberalen Formen mit ihrer ausufernden Toleranz noch in konservativen Formen mit ihrer Weltverneinung eine Rolle spielen. Relevant kann das Christentum nur sein, wenn es sich an Christus orientiert.
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Lieber Udo, Danke, dass du diesen Artikel mit Interesse gelesen hast. Ich bin ganz mit dir einig: Wir brauchen Jesus als Erlöser, der stellvertretend für uns sein Leben gibt. Dem nachgeordnet ist Jesus auch der vorbildliche Mensch, dessen Leben ich nachahmen soll. Mein Punkt ist, dass beides zu einem an der Bibel orientierten Christentum gehört. Mag sein, dass der eine Satz für dich missverständlich war, aber im Grunde genommen sind wir uns einig, wie ich deinen Zeilen entnehme.
Danke Roland für deine Klarstellung.
„Jeder konstruiert sich einen eigenen Jesus. Für die einen ist er der Erlöser. Für die anderen der vorbildliche Mensch oder eine grosse Persönlichkeit.“
Diesen Satz finde ich sehr missverständlich und er scheint eine merkwürdige Christologie zu vermitteln. Natürlich geht es auch darum als Jünger Jesu „jesusmäßig“ unterwegs zu sein. Glaube ohne Werke ist tot, darauf hat schon Jakobus im NT hingewiesen. Hier wird aber in einem Satz ein irrtümlicher Vergleich angestellt. Wir kommen ja gerade von Weihnachten und lernen von den Engeln „Denn euch ist heute ein Retter geboren, der ist Christus, der Herr, in Davids Stadt.“ (Lk 2, 11). Wer Jesus nur als vorbildlichen Menschen sieht oder als große Persönlichkeit hat eben am Ende der Tage, wenn er sich vor Gott verantworten muss, niemanden, der für ihn einsteht. Sein Jesus ist nicht mehr als Mahatma Gandhi oder Martin Luther King. Jesus ist aber mehr als ein guter Mensch, mehr als ein Vorbild. Er ist der Erlöser, der Retter vor dem Zorn Gottes, der stellvertretend meine Sünde getragen hat. Dass diese Stellvertretung bei den Post-evangelikalen verworfen wird, ist ein entscheidendes Problem, dem dieser Satz nicht gerecht wird.
Hallo Udo. Es ist möglich das der Autor deinen Kommentar noch nicht gesehen hat, weil ich anfänglich automatisch als Autor gesetzt war. Ich hab das nun angepasst. Wenn Roland meinen Kommentar hier liest wird er hoffentlich auch deinen lesen und Antworten. Herzlich, Peter