Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist 7/10

Lesezeit: 5 Minuten
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by Roland Hardmeier | 29. Dez. 2024 | 4 comments

Teil 7: Der Mensch Jesus

In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evan­ge­likale zwis­chen fun­da­men­tal­is­tisch und poste­van­ge­likal“ befasse ich mich mit der religiösen Land­schaft und der evan­ge­likalen Bin­nen­plu­ral­isierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen drit­ten Weg zwis­chen einem bib­lizis­tis­chen Fun­da­men­tal­is­mus und dem Post-Evan­ge­likalis­mus auf.

In diesem Beitrag führe ich in Kapi­tel 7 „Das ganze Evan­geli­um für die ganze Welt: der Men­sch Jesus“ ein (Seit­en 154–173).

Nach­dem wir uns im let­zten Beitrag mit Jesus als Erlös­er befasst haben, müssen wir fra­gen, was Jesus als Men­sch für den Glauben bedeutet. Im pro­gres­siv­en Chris­ten­tum spielt Jesus als Erlös­er eine auf­fal­l­end geringe Rolle. Fun­da­men­tal­is­tis­che Chris­ten dage­gen haben ein merk­würdig dis­tanziertes Ver­hält­nis zu Jesus als Men­sch. Da gibt es viel Unaus­ge­gorenes auf bei­den Seiten.

Diese Dif­ferenz muss über­wun­den wer­den. Bei­den Seit­en fehlt etwas, das für einen lebendi­gen Glauben essen­ziell ist. Pos­i­tiv for­muliert: Bei­de Seit­en haben auch etwas, das wichtig ist.

Mein Jesusbild

Ich bin mit einem Jesus­bild aufgewach­sen, das sich auf den Nen­ner „Jesus wurde geboren, um zu ster­ben“ brin­gen liess. Wir lasen in den Evan­gelien wie Jesus mit Zöll­nern feierte, sich den Armen annahm, sich von Pros­ti­tu­ierten berühren liess und wie er sich zu poli­tisch brisan­ten The­men wie der Steuerpflicht äusserte. Obwohl uns das alles faszinierte, blieb uns Jesus als Men­sch fremd.

Warum eigentlich?

Es kam uns nicht in den Sinn, uns von Jesu Leben inspiri­eren zu lassen, die Welt zu gestal­ten, obwohl die The­men heute die gle­ichen wie damals sind: Banken und multi­na­tionale Unternehmen machen fette Gewinne, während die Armen immer noch für ein paar San­dalen verkauft wer­den. In vie­len Län­dern ausser­halb der west­lichen Kul­tur sind Frauen noch immer unfrei. Men­schen­han­del und Pros­ti­tu­tion blühen auf, um die enorme Nach­frage der Pornoin­dus­trie zu befriedi­gen. Jesus lebte in ein­er Welt, die der unsri­gen erstaunlich ähn­lich war.

Immer mehr Christen fragen, was Jesus als Mensch für ihren Glauben bedeutet.

Der Reich­tum des Nor­dens und die Armut des Südens, die Rechte von Frauen und Min­der­heit­en und nicht zulet­zt die Frage nach einem nach­halti­gen Lebensstil beschäftigt eine zunehmende Zahl engagiert­er Chris­ten. In pro­gres­siv­en For­men des Glaubens gehören diese Fra­gen zu den zen­tralen The­men christlich­er Exis­tenz. Auch Poste­van­ge­likale möcht­en ihren Glauben mit Welt­gestal­tung verbinden. Viele Exits ver­lassen ihre Gemein­den nicht, weil sie den Glauben hin­ter sich lassen wollen. Sie tun es, weil sie sich mit einem welt­frem­den Chris­ten­tum nicht iden­ti­fizieren kön­nen. Zu wis­sen, woge­gen sie als Chris­ten sind, genügt ihnen nicht. Sie spüren, dass ein Glaube, der sich über Abgren­zung definiert, keine Leuchtkraft hat. Sie möcht­en nicht zu den Ewiggestri­gen gehören, die schon immer wussten, dass die Welt böse ist und die Dinge sich ver­schlechtern. Sie möcht­en nach­haltig leben und die Welt bess­er machen.

Ich halte dieses Fra­gen für entsch­ieden richtig. Ein lebendi­ger Glaube drängt zur Welt­gestal­tung. Er braucht aber auch eine solide the­ol­o­gis­che Grund­lage. Das ist ein­er der Gründe, die mich bewogen haben, das Buch zu schreiben. Es ist Jesus selb­st – wer son­st — , der mit seinem Leben und sein­er Lehre die Grund­lage für ein gesun­des Ver­hält­nis zur Welt bietet.

Prophetischer Dreiklang

Wenn man die Evan­gelien liest, wird Seite für Seite deut­lich, wie Jesus nicht nur als Sohn Gottes han­delte, son­dern zugle­ich wun­der­bar men­schlich war. Ich bin überzeugt:

Wenn das Chris­ten­tum in der Post­mod­erne seine Leuchtkraft wiedergewin­nen will, muss es men­schlich wer­den wie Jesus.

Die Men­schlichkeit Jesu wurzelt im Alten Tes­ta­ment mit sein­er mes­sian­is­chen Hoff­nung und ist eng ver­bun­den mit der Botschaft der Propheten. Ich gehe von der weg­weisenden Beobach­tung aus: Alles, was Jesus tat, ereignete sich in Erfül­lung der alttes­ta­mentlichen Hoff­nung der Propheten.

Die Propheten waren Visionäre, die das Kom­men des Mes­sias ankündigten und eine neue Men­schheit erblick­ten. Im Kapi­tel über die Men­schlichkeit Jesu leit­et mich fol­gende Einsicht:

Die Propheten erblick­ten eine neue Gesellschaft­sor­d­nung, in der die Armen Hil­fe erfahren, Unter­drück­ten Gerechtigkeit wider­fährt und Feinde miteinan­der ver­söh­nt wer­den. Dieser wun­der­bare prophetis­che Dreik­lang war erfüllt von ein­er Philoso­phie der Liebe für die Welt.

Das Neue Tes­ta­ment por­traitiert Jesus als Her­beib­ringer dieser Ord­nung (Markus 1,14–15). In der Per­son von Jesus, in sein­er Jüngerge­mein­schaft und in der Urkirche nahm die prophetis­che Vision ein­er neuen Men­schheit Gestalt an. Diese Gestaltwer­dung war kein Neben­pro­dukt der Näch­sten­liebe. Es war der bewusste Ver­such ein­er Umset­zung der prophetis­chen Vision durch die Kraft des Geistes. Es war ein heiliges Experiment.

Immer wenn Jesus vom Kön­i­gre­ich sprach, ging es um diese neue Ord­nung. Die Berg­predigt (Matthäus 5–7), die Magna Char­ta dieser Ord­nung, ist auf­fal­l­end men­schlich. Mit ihr legt Jesus eine konkrete Alter­na­tive zu den Herrschaftsstruk­turen der Welt vor. Nach der Ord­nung des Kön­i­gre­ichs zu leben, bedeutet men­schlich zu wer­den. Es geht darum, Feinde zu lieben (Matthäus 5,43ff), aufrichtig zu sein (Matthäus 5,8), san­ft­mütig zu wer­den (Matthäus 5,5), Frieden zu stiften (Matthäus 5,9) und nicht zu richt­en (Matthäus 7,1ff).

Ein gross­er Teil sein­er Lehre ver­mit­telte Jesus durch Hand­lun­gen. Er fol­gte dem Beispiel der Rab­bi­nen, die Jünger um sich scharten, die buch­stäblich hin­ter dem Rab­bi hergin­gen, um zu sehen, wie er lebte und um zu wer­den, wie er war. Jesus hat erstaunlich wenig Glaubenssätze aufgestellt. Viel öfter hat er durch sein Beispiel gezeigt, dass im Kön­i­gre­ich eine neue Möglichkeit anbricht, Men­sch zu sein. Vieles ist bei Jesus nicht aus­for­muliert, son­dern im Kern vorhan­den. Jesus stiess mit seinen Tat­en eine Rich­tung an, in die wir weit­erge­hen sollten.

Wenn das Chris­ten­tum seine Leuchtkraft wiedergewin­nen will, müssen wir Jesus über die Schul­ter schauen, wie die Jünger dem Rab­bi, und von ihm ler­nen, men­schlich zu sein.

Der Haupt­teil des Kapi­tels über Jesus als Men­sch beste­ht darin, den prophetis­chen Dreik­lang, der im Leben von Jesus so wun­der­bar zum Aus­druck kommt, darzule­gen. Ich fasse ihn hier schon mal zusammen:

An erster Stelle des visionären Dreik­langs im Alten Tes­ta­ment ste­ht bei den Propheten Hil­fe für die Armen. Jesus nahm sich der Armen an und sagte, dass er ins­beson­dere zu ihnen gesendet ist (Lukas 4,18–19).

An zweit­er Stelle des visionären Dreik­langs ste­ht bei den Propheten Gerechtigkeit für Unter­drück­te. Jesus nahm sich der Ver­achteten und Unter­drück­ten an. Sein Umgang mit Kranken, mit Frauen, mit sozial Niedergestell­ten brachte eine neue Möglichkeit men­schlich­er Beziehun­gen zur Geltung.

An drit­ter Stelle des visionären Dreik­langs ste­ht bei den Propheten die Schau ein­er friedlichen und gerecht­en Welt. Jesus grün­dete eine Gemein­schaft der Ver­söh­nung, aus der die Kirche wurde und lehrte seine Nach­fol­ger, Friedenss­tifter zu werden.

Im Kapi­tel nehme ich dich in die entschei­den­den Texte der Evan­gelien mit, um diesem Dreik­lang nachzuspüren.

Die Leuchtkraft wieder finden

Wenn das Chris­ten­tum seine Leuchtkraft wieder find­en will, muss es Chris­tus glaub­würdig präsen­tieren und men­schlich wer­den, wie er es war. Ein gross­er Teil der Ablehnung, die kon­ser­v­a­tiv­en For­men des Chris­ten­tums ent­ge­gen­schlägt, ist haus­gemacht. Ein Teil der Ablehnung rührt daher, dass wir Evan­ge­likalen gut darin waren, gegen gewisse Dinge zu sein. Wir haben unsere Iden­tität daran fest­gemacht, dass wir gegen Lib­er­al­is­mus, Homo­sex­u­al­ität, sex­uelle Freizügigkeit, Abtrei­bung und andere Dinge waren. Erstaunlicher­weise schafften es Dinge wie ein zügel­los­er Kap­i­tal­is­mus, die Aus­beu­tung von Arbeit­skräften oder eine rich­t­ende Gesin­nung nicht auf die Liste. Erstaunlich ist das, weil diese Dinge im Predigtreper­toire von Jesus eine wichtige Rolle spie­len (Matthäus 6,23; 7,1ff; Lukas 10,7). Ich bin überzeugt:

Die Lösung der Prob­leme, die das Chris­ten­tum gegen­wär­tig hat, liegt in Jesus selbst.

Das Prob­lem des Chris­ten­tums ist, dass es sich von Jesus ent­fer­nt hat. Jed­er kon­stru­iert sich einen eige­nen Jesus. Für die einen ist er der Erlös­er. Für die anderen der vor­bildliche Men­sch oder eine grosse Per­sön­lichkeit. Ein Chris­ten­tum mit einem ein­seit­i­gen Jesus ver­liert seine Leuchtkraft.

Jesus war wun­der­bar ganzheitlich. Er predigte und han­delte. Er wies zurecht und er liebte. Er war gegen bes­timmte Dinge, vor allem aber für etwas. Eigentlich war er nur gegen die Selb­st­gerechtigkeit der religiösen Experten, die ihre Lebensweise anderen auf­bürde­ten (Matthäus 11,28). Anson­sten war Jesus für etwas: Für die Armen, die Kranken, die Frauen, die Zer­schla­ge­nen, die Aus­gestosse­nen, die Kinder, die Schwachen, die Krüp­pel. Jesus war für die Menschen!

Die Polar­isierung im Chris­ten­tum kann über­wun­den wer­den, wenn Jesus für uns sowohl Erlös­er als auch Men­sch ist. Wir müssen das Kön­i­gre­ich und das Kreuz zusam­men­brin­gen. Das Kön­i­gre­ich war das Herzstück der Botschaft Jesu und das Kreuz der grosse Flucht­punkt seines aussergewöhn­lichen Lebens. In bei­den zeigt sich Gottes Ja zu uns. Das Leben Jesu und seine Lehre vom Kön­i­gre­ich zeigen uns, wie wir recht men­schlich wer­den kön­nen. Das Kreuz kon­fron­tiert uns mit unser­er Sünde und zeigt uns die unaussprech­liche Liebe Gottes.

Im gesamten Kapi­tel geht es mir darum, vom Alten Tes­ta­ment und dem Leben Jesu her zu zeigen, was das Chris­ten­tum gegen­wär­tig am nötig­sten hat. Wir brauchen das ganze Evan­geli­um und den ganzen Chris­tus für die ganze Welt. Meine These:

Das Chris­ten­tum wird in Zukun­ft wed­er in lib­eralen For­men mit ihrer ausufer­n­den Tol­er­anz noch in kon­ser­v­a­tiv­en For­men mit ihrer Weltvernei­n­ung eine Rolle spie­len. Rel­e­vant kann das Chris­ten­tum nur sein, wenn es sich an Chris­tus orientiert.


Titel­bild: iStock


Unser Gespräch zum Buch:

Über den Kanal

Roland Hardmeier

Dr. theol. Roland Hardmeier wohnt und arbeitet in Riedikon bei Uster. Er war 15 Jahre lang Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz. Heute ist er als selbständiger Dozent, Referent und Autor tätig. Einblicke in seine Tätigkeit gibt seine Website www.roland-hardmeier.ch

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Kommentare zu diesen Beitrag

4 Comments

  1. Roland Hardmeier

    Lieber Udo, Danke, dass du diesen Artikel mit Inter­esse gele­sen hast. Ich bin ganz mit dir einig: Wir brauchen Jesus als Erlös­er, der stel­lvertre­tend für uns sein Leben gibt. Dem nach­ge­ord­net ist Jesus auch der vor­bildliche Men­sch, dessen Leben ich nachah­men soll. Mein Punkt ist, dass bei­des zu einem an der Bibel ori­en­tierten Chris­ten­tum gehört. Mag sein, dass der eine Satz für dich missver­ständlich war, aber im Grunde genom­men sind wir uns einig, wie ich deinen Zeilen entnehme.

    Reply
    • Udo

      Danke Roland für deine Klarstellung.

      Reply
  2. Udo

    „Jed­er kon­stru­iert sich einen eige­nen Jesus. Für die einen ist er der Erlös­er. Für die anderen der vor­bildliche Men­sch oder eine grosse Persönlichkeit.“

    Diesen Satz finde ich sehr missver­ständlich und er scheint eine merk­würdi­ge Chris­tolo­gie zu ver­mit­teln. Natür­lich geht es auch darum als Jünger Jesu „jesus­mäßig“ unter­wegs zu sein. Glaube ohne Werke ist tot, darauf hat schon Jakobus im NT hingewiesen. Hier wird aber in einem Satz ein irrtüm­lich­er Ver­gle­ich angestellt. Wir kom­men ja ger­ade von Wei­h­nacht­en und ler­nen von den Engeln „Denn euch ist heute ein Ret­ter geboren, der ist Chris­tus, der Herr, in Davids Stadt.“ (Lk 2, 11). Wer Jesus nur als vor­bildlichen Men­schen sieht oder als große Per­sön­lichkeit hat eben am Ende der Tage, wenn er sich vor Gott ver­ant­worten muss, nie­man­den, der für ihn ein­ste­ht. Sein Jesus ist nicht mehr als Mahat­ma Gand­hi oder Mar­tin Luther King. Jesus ist aber mehr als ein guter Men­sch, mehr als ein Vor­bild. Er ist der Erlös­er, der Ret­ter vor dem Zorn Gottes, der stel­lvertre­tend meine Sünde getra­gen hat. Dass diese Stel­lvertre­tung bei den Post-evan­ge­likalen ver­wor­fen wird, ist ein entschei­den­des Prob­lem, dem dieser Satz nicht gerecht wird.

    Reply
    • Peter Bruderer

      Hal­lo Udo. Es ist möglich das der Autor deinen Kom­men­tar noch nicht gese­hen hat, weil ich anfänglich automa­tisch als Autor geset­zt war. Ich hab das nun angepasst. Wenn Roland meinen Kom­men­tar hier liest wird er hof­fentlich auch deinen lesen und Antworten. Her­zlich, Peter

      Reply

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