Teil 6: Das Kreuz
In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evangelikale zwischen fundamentalistisch und postevangelikal“ befasse ich mich mit der religiösen Landschaft und der evangelikalen Binnenpluralisierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen dritten Weg zwischen einem biblizistischen Fundamentalismus und dem Post-Evangelikalismus auf.
In diesem Beitrag führe ich in Kapitel 6 „Lauter Unsinn und viel Ärger: das Kreuz“ ein (Seiten 128–153).
Leben, Sterben und Auferstehen von Jesus sind zentral für den christlichen Glauben. Ohne Jesus gäbe es keine Christenheit. Es erstaunt nicht, dass die Polarisierung zwischen konservativem und progressivem Christentum (siehe Beitrag 1 dieser Serie) besonders stark ist, wenn es um Jesus geht. Die Auseinandersetzung ist im Grunde genommen alt. Sie begann im 19. Jahrhundert als in der liberalen Theologie von einem unhistorischen Jesusbild in den Evangelien ausgegangen wurde.
Welche Bedeutung hat das Leben von Jesus für uns? Warum starb Jesus am Kreuz? Muss man heute noch an ein blutiges Opfer glauben? Ohne Klarheit in diesen Fragen fehlt dem Christsein eine klare Orientierung. Dieser Beitrag und der nächste stellen sich diesen Fragen.
Sichtweisen auf Jesus
Die Frage, wer Jesus war und warum er sterben musste, bewegt die Menschheit seit zweitausend Jahren.
Aus jüdischer Sicht war Jesus ein religiöser Abweichler, der als Gesetzesbrecher und Gotteslästerer den Tod fand. Der jüdische Talmud rechtfertigt die Hinrichtung Jesu damit, er habe als Zauberer und Irrlehrer Israel zum Abfall von Gott verführt.
In den Augen der Römer war Jesus ein Aufrührer gegen die Staatsgewalt. Die Inschrift, die Pilatus über dem Kreuz anbringen liess („Jesus von Nazareth, König der Juden“), gibt den Grund seiner Hinrichtung an: Jesus habe in einer römischen Provinz nach der Königsherrschaft gestrebt. Historisch gesehen starb Jesus den Tod eines jüdischen Widerstandskämpfers an einem römischen Verbrecherpfahl.
Im liberalen Christentum des 19. Jahrhunderts machte sich die Forschung auf die Suche nach dem historischen Jesus. Der Arzt und Theologe Albert Schweitzer, der die historische Jesusforschung kritisch untersuchte, erblickte in Jesus einen Propheten, der das Ende der Welt ausrief. Jesus habe in die Speichen des Weltrades gegriffen, damit es die letzte Drehung mache. Als es sich in Bewegung setzte, zermalmte es ihn. Für Schweitzer war Jesus ein gescheiterter Endzeitprophet, der für sein Ideal starb.
Für andere wie Mahatma Gandhi war Jesus ein grosser Morallehrer und mit seinem Leiden und Sterben ein Vorbild, von dem wir lernen können. Dass im Tod Jesu am Kreuz etwas wie eine geheimnisvolle oder wundersame Tugend liegt, konnte Gandhi nicht akzeptieren.
Am Anfang war Christus. Mit ihm nimmt der christliche Glaube seinen historischen Anfang. In den Evangelien ist die Passion das zentrale Geschehen, auf das alles hinausläuft. Daraus schliesse ich:
Die Frage nach der Deutung des Todes Jesu ist von entscheidender Wichtigkeit für den christlichen Glauben. Sie ist nicht eine Frage wie andere, sondern die Frage, worum es im christlichen Glauben im Kern geht.
Jesus ist zentral
Wenn Jesus als politischer Aufrührer, religiöser Abweichler oder frommer Idealist starb, ist er einer unter vielen, der für seine Überzeugung sein Leben gelassen hat. Wenn dem so wäre, könnten wir Jesus bequem unter die grossen Persönlichkeiten der Geschichte einreihen, wie den berühmten Philosophen Sokrates, Mahatma Gandhi oder Martin Luther King.
Die Art und Weise, wie das Neue Testament von Jesus spricht, verschliesst uns diese Möglichkeit. Es spricht vom Kreuz als etwas Unsinnigem und Ärgerlichem und gleichzeitig als etwas Heiligem, Geheimnisvollem und überaus Kostbarem (1 Korinther 1,23ff; Kolosser 2,8ff).
In der postmodernen Gesellschaft ist das Kreuz wie im liberalen Christentum des 19. Jahrhunderts ein Ärgernis. Das Kreuz hat die westliche Kultur geprägt wie kein anderes Symbol. Jahrhunderte lang fand man Kreuze auf Berggipfeln, in Schulzimmern und an Weggabelungen. Heute werden Gipfelkreuze abmontiert und durch politisch korrekte Symbole ersetzt. Der öffentliche Raum wird säkularisiert. Wo früher das Kreuz hing, hängt heute das Rauchverbot.
Von progressiven Christen kommt kein Protest gegen die Entchristlichung des öffentlichen Raums. Das progressive Christentum schliesst sich nahtlos an das liberale Jesusbild des 19. Jahrhunderts an. In diesem Bereich der religiösen Landschaft gibt es unterschiedliche und sich widersprechende Jesusbilder. Einigkeit gibt es nur in einem Punkt: Jesus starb nicht als „sacrifice“ für unsere Sünden, sondern als „victim“ einer Gesellschaft, die ihn als unbequemen Propheten loswerden wollte. Beide Begriffe werden im Deutschen mit „Opfer“ übersetzt, meinen aber etwas grundsätzlich anderes.
In konservativen Formen des Christentums ist das Kreuz zentral. Das gilt insbesondere für den Evangelikalismus. Der britische Historiker David Bebbington rechnet in seinem Standardwerk über den Evangelikalismus das Kreuz zu den vier zentralen Merkmalen der Bewegung. Bebbingtons Merkmale (conversionism, activism, biblicism, crucizentrism) sind in der Forschung allgemein anerkannt und dienen auch Evangelikalen zur Selbstdefinierung. Evangelikale sind überzeugt, dass Jesus als Opfer für unsere Sünden starb („sacrifice“). Während diese Interpretation im evangelikalen Mainstream fest verankert ist, wird sie von Postevangelikalen als einseitig und ergänzungsbedürftig empfunden.
Ist die evangelikale Sicht auf das Kreuz nur eine unter vielen möglichen? Kann man heute noch an ein blutiges Opfer glauben? Oder ist das eine Interpretation, die nur in antiken Kontext Sinn machte, weil man sowohl im Judentum als auch in den heidnischen Religionen Opfer kannte? Sind Jesus als „sacrifice“ und „victim“ Interpretationen, die sich gegenseitig ausschliessen? Oder könnten beide gleichermassen biblisch und wichtig sein? Je nachdem wie diese Fragen beantwortet werden, verändert sich unser Verständnis vom christlichen Glauben.
Das Ärgernis des Kreuzes
Das grosse Ärgernis am Christentum war und ist das Kreuz. Dass eine Kreuzigung ein Heilsereignis ist, machte weder für Römer noch für Griechen noch für Juden einen Sinn. Einen Gott, der seinen Sohn an einem römischen Verbrecherpfahl verbluten lässt, erfindet man nicht, wenn man Eindruck machen will. Und dass dieser Gott den Auftrag gibt, dieses Ereignis zum Heil in der ganzen Welt zu verkündigen, auch nicht.
Trotzdem haben die ersten Christen sich geweigert, das Kreuz aus ihrer Botschaft zu entfernen. Und das, obwohl es ihnen Missverständnisse, Probleme und Verfolgung einbrachte. Es ist im ganzen Neuen Testament offensichtlich, dass Jesus als Gekreuzigter und Auferstandener im Zentrum des Glaubens steht (Römer 3,25ff; 1 Korinther 15,3–4; Markus 11,9ff). Das Kreuz aufzugeben oder seine zentrale Bedeutung in Abrede zu stellen, hätte für die ersten Christen bedeutet, den Glauben aufzugeben.
Angesichts der überragenden Bedeutung, die das Kreuz in den Anfängen des Christentums hatte, muss jede ernstzunehmende Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben heute fragen, was das Kreuz zu bedeutet hat.
Die Rückfrage nach dem Neuen Testament sind wir schuldig, sind die neutestamentlichen Schriften doch die Gründungsurkunden unseres Glaubens.
Die Evangelikalen haben mit Blick auf das Neue Testament stets darauf bestanden, dass der Tod Jesu ein stellvertretender Tod zu unseren Gunsten war. Jesus sühnte unsere Sünden durch sein hingegebenes Leben (Römer 3,25). Wer an Jesus glaubt, erfährt Vergebung seiner Schuld (Epheser 1,7) und steht gerechtfertigt vor Gott (Römer 5,1). Ein solcher Mensch kann am Jüngsten Tag nicht mehr verurteilt werden (Römer 8,1ff).
In einer toleranten Welt fällt es schwer diesen Sätzen zu glauben. Wie kann es sein, dass ein archaischer Gewaltakt das Epizentrum einer Religion ist, welche die Liebe predigt? Kann ein erbärmliches Opfer der Stifter einer Religion sein? Bis das Christentum kam, hätte jeder auch nur halbwegs vernünftige Mensch, ohne zu zögern gesagt: „Nein, das kann nicht sein.“ Dazu muss man sich bewusst sein, wie antike Religion funktionierte:
Bis das Christentum kam, wurden Religionen durch Helden gestiftet, nicht durch Opfer.
Das Problem des erbärmlichen Opfers haben andere Religionen nicht. Im Judentum empfing Mose auf dem Berg Sinai Gottes Offenbarung, die er weitergab und in den fünf Büchern Mose verschriftlicht wurde. Im Islam ist Mohammed der Empfänger von göttlichen Offenbarungen, die ihren Niederschlag im Koran gefunden haben. Im Buddhismus empfing Siddharta Gautama eine Erleuchtung und wurde zum Buddha (Erleuchteten).
Dass Offenbarungen oder Erleuchtungen das Zentrum eines Glaubens sind, ist buchstäblich einleuchtend. Menschen wie Mohammed oder Buddha haben etwas Überwältigendes erfahren und vermittelten es weiter. Es ist einleuchtend, wenn Menschen jemandem folgen, der eine besondere Offenbarung für sich beansprucht. Diese Logik kann das Christentum nur bedingt für sich beanspruchen. Einem gekreuzigten Opfer nachzufolgen, das in den Augen der grössten imperialen Macht der damaligen Zeit ein Verbrecher war, ist ganz und gar nicht einleuchtend. Doch genau das tun Christen seit zweitausend Jahren.
Zumindest haben sie das getan. Im progressiven Christentum wird das Kreuz einem veralteten Weltbild zugeschlagen. Um im Konzert der Fortschrittlichen gehört zu werden, wird der Skandal des Kreuzes umgangen. Damit wird der christliche Glaube an sich in Frage gestellt. Das Evangelium rettet dann nicht mehr von Sünden, sondern wird zu einem Entspannungstee mit frommem Bodensatz.
Was dich im Buch erwartet
Im Kapitel über das Kreuz nehme ich mir richtig viel Zeit. Ich zeige auf, wie die Jesusgeschichte in den Evangelien unaufhaltsam auf die Passion zusteuert und Jesus seinen bevorstehenden Tod für seine Jünger deutet (Markus 10,45). Wir befassen uns damit, dass Jesus im Gegensatz zum griechischen Philosophen Sokrates nicht wie dieser heiter und gelassen starb und machen dabei Anleihen bei Jürgen Moltmanns Klassiker „Der gekreuzigte Gott“.
Und dann wird es noch um etwas gehen, das in fast allen Gebieten der religiösen Landschaft übersehen wird: Das Kreuz ist nicht nur der Ort, wo Gott unsere Schuld vergibt, es ist auch der Beginn einer sozialen Revolution. Ich zeige, dass Jesus das erste Opfer war, das ein Held wurde und dass diese Tatsache, die westliche Kultur stark machte und uns bis heute in Sachen Mitmenschlichkeit und Solidarität mit den Opfern der Gesellschaft prägt. Für manche wird das ein Eye-Opener sein. Unbedingt lesen!
Das Endresultat des Kapitels nehme ich hier schon mal in geraffter Form vorneweg:
Das Entscheidende am Christentum ist der Glaube an das Opfer von Christus zur Sühne unserer Sünden. Wenn Jesus als „victim“ (Opfer einer ungerechten Justiz) gestorben ist und darin die ganze Bedeutung seines Todes liegt, wäre er ein bedauernswertes Opfer, aber kein „sacrifice“ und das Christentum hätte es nie gegeben. Wenn die Geschichte so verlaufen wäre, wäre die Welt nicht besser, sondern schlechter.
Jesus ist sowohl victim als auch sacrifice. Sowohl Held als auch Erlöser. Wäre der Tod Jesu ein Unfall der Geschichte gewesen, aber kein Heilsereignis, würde der Glaube an Jesus als Erlöser keinen Sinn machen. Man könnte dann gerade so gut an Mahatma Gandhi glauben, der erschossen wurde. Das Entscheidende am christlichen Glauben ist das Kreuz. Am Kreuz hat Gott Partei ergriffen für die Opfer und vergibt uns unsere Sünden um das Opfer seines Sohnes Willen. Man kann das für unsinnig oder unmodern halten, aber daran hängt alles.
Titelbild: iStock
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