Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist 6/10

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by Roland Hardmeier | 22. Dez. 2024 | 0 comments

Teil 6: Das Kreuz

In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evan­ge­likale zwis­chen fun­da­men­tal­is­tisch und poste­van­ge­likal“ befasse ich mich mit der religiösen Land­schaft und der evan­ge­likalen Bin­nen­plu­ral­isierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen drit­ten Weg zwis­chen einem bib­lizis­tis­chen Fun­da­men­tal­is­mus und dem Post-Evan­ge­likalis­mus auf.

In diesem Beitrag führe ich in Kapi­tel 6 „Lauter Unsinn und viel Ärg­er: das Kreuz“ ein (Seit­en 128–153).

Leben, Ster­ben und Aufer­ste­hen von Jesus sind zen­tral für den christlichen Glauben. Ohne Jesus gäbe es keine Chris­ten­heit. Es erstaunt nicht, dass die Polar­isierung zwis­chen kon­ser­v­a­tivem und pro­gres­sivem Chris­ten­tum (siehe Beitrag 1 dieser Serie) beson­ders stark ist, wenn es um Jesus geht. Die Auseinan­der­set­zung ist im Grunde genom­men alt. Sie begann im 19. Jahrhun­dert als in der lib­eralen The­olo­gie von einem unhis­torischen Jesus­bild in den Evan­gelien aus­ge­gan­gen wurde.

Welche Bedeu­tung hat das Leben von Jesus für uns? Warum starb Jesus am Kreuz? Muss man heute noch an ein blutiges Opfer glauben? Ohne Klarheit in diesen Fra­gen fehlt dem Christ­sein eine klare Ori­en­tierung. Dieser Beitrag und der näch­ste stellen sich diesen Fragen.

Sichtweisen auf Jesus

Die Frage, wer Jesus war und warum er ster­ben musste, bewegt die Men­schheit seit zweitausend Jahren.

Aus jüdis­ch­er Sicht war Jesus ein religiös­er Abwe­ich­ler, der als Geset­zes­brech­er und Gottes­läster­er den Tod fand. Der jüdis­che Tal­mud recht­fer­tigt die Hin­rich­tung Jesu damit, er habe als Zauber­er und Irrlehrer Israel zum Abfall von Gott verführt.

In den Augen der Römer war Jesus ein Aufrührer gegen die Staats­ge­walt. Die Inschrift, die Pila­tus über dem Kreuz anbrin­gen liess („Jesus von Nazareth, König der Juden“), gibt den Grund sein­er Hin­rich­tung an: Jesus habe in ein­er römis­chen Prov­inz nach der Königsh­errschaft gestrebt. His­torisch gese­hen starb Jesus den Tod eines jüdis­chen Wider­stand­skämpfers an einem römis­chen Verbrecherpfahl.

Im lib­eralen Chris­ten­tum des 19. Jahrhun­derts machte sich die Forschung auf die Suche nach dem his­torischen Jesus. Der Arzt und The­ologe Albert Schweitzer, der die his­torische Jesus­forschung kri­tisch unter­suchte, erblick­te in Jesus einen Propheten, der das Ende der Welt aus­rief. Jesus habe in die Spe­ichen des Wel­trades gegrif­f­en, damit es die let­zte Drehung mache. Als es sich in Bewe­gung set­zte, zer­malmte es ihn. Für Schweitzer war Jesus ein gescheit­ert­er Endzeit­prophet, der für sein Ide­al starb.

Für andere wie Mahat­ma Gand­hi war Jesus ein gross­er Morallehrer und mit seinem Lei­den und Ster­ben ein Vor­bild, von dem wir ler­nen kön­nen. Dass im Tod Jesu am Kreuz etwas wie eine geheimnisvolle oder wun­der­same Tugend liegt, kon­nte Gand­hi nicht akzeptieren.

Am Anfang war Chris­tus. Mit ihm nimmt der christliche Glaube seinen his­torischen Anfang. In den Evan­gelien ist die Pas­sion das zen­trale Geschehen, auf das alles hin­aus­läuft. Daraus schliesse ich:

Die Frage nach der Deu­tung des Todes Jesu ist von entschei­den­der Wichtigkeit für den christlichen Glauben. Sie ist nicht eine Frage wie andere, son­dern die Frage, worum es im christlichen Glauben im Kern geht.

Jesus ist zentral

Wenn Jesus als poli­tis­ch­er Aufrührer, religiös­er Abwe­ich­ler oder from­mer Ide­al­ist starb, ist er ein­er unter vie­len, der für seine Überzeu­gung sein Leben gelassen hat. Wenn dem so wäre, kön­nten wir Jesus bequem unter die grossen Per­sön­lichkeit­en der Geschichte ein­rei­hen, wie den berühmten Philosophen Sokrates, Mahat­ma Gand­hi oder Mar­tin Luther King.

Die Art und Weise, wie das Neue Tes­ta­ment von Jesus spricht, ver­schliesst uns diese Möglichkeit. Es spricht vom Kreuz als etwas Unsin­nigem und Ärg­er­lichem und gle­ichzeit­ig als etwas Heiligem, Geheimnisvollem und über­aus Kost­barem (1 Korinther 1,23ff; Koloss­er 2,8ff).

In der post­mod­er­nen Gesellschaft ist das Kreuz wie im lib­eralen Chris­ten­tum des 19. Jahrhun­derts ein Ärg­er­nis. Das Kreuz hat die west­liche Kul­tur geprägt wie kein anderes Sym­bol. Jahrhun­derte lang fand man Kreuze auf Berggipfeln, in Schulz­im­mern und an Weg­ga­belun­gen. Heute wer­den Gipfelkreuze abmon­tiert und durch poli­tisch kor­rek­te Sym­bole erset­zt. Der öffentliche Raum wird säku­lar­isiert. Wo früher das Kreuz hing, hängt heute das Rauchverbot.

Von pro­gres­siv­en Chris­ten kommt kein Protest gegen die Entchristlichung des öffentlichen Raums. Das pro­gres­sive Chris­ten­tum schliesst sich naht­los an das lib­erale Jesus­bild des 19. Jahrhun­derts an. In diesem Bere­ich der religiösen Land­schaft gibt es unter­schiedliche und sich wider­sprechende Jesus­bilder. Einigkeit gibt es nur in einem Punkt: Jesus starb nicht als sac­ri­ficefür unsere Sün­den, son­dern als vic­tim“ ein­er Gesellschaft, die ihn als unbe­que­men Propheten loswer­den wollte. Bei­de Begriffe wer­den im Deutschen mit „Opfer“ über­set­zt, meinen aber etwas grund­sät­zlich anderes.

In kon­ser­v­a­tiv­en For­men des Chris­ten­tums ist das Kreuz zen­tral. Das gilt ins­beson­dere für den Evan­ge­likalis­mus. Der britis­che His­torik­er David Beb­bing­ton rech­net in seinem Stan­dard­w­erk über den Evan­ge­likalis­mus das Kreuz zu den vier zen­tralen Merk­malen der Bewe­gung. Beb­bing­tons Merk­male (con­ver­sion­ism, activism, bib­li­cism, cru­cizen­trism) sind in der Forschung all­ge­mein anerkan­nt und dienen auch Evan­ge­likalen zur Selb­st­definierung. Evan­ge­likale sind überzeugt, dass Jesus als Opfer für unsere Sün­den starb („sac­ri­fice“). Während diese Inter­pre­ta­tion im evan­ge­likalen Main­stream fest ver­ankert ist, wird sie von Poste­van­ge­likalen als ein­seit­ig und ergänzungs­bedürftig empfunden.

Ist die evan­ge­likale Sicht auf das Kreuz nur eine unter vie­len möglichen? Kann man heute noch an ein blutiges Opfer glauben? Oder ist das eine Inter­pre­ta­tion, die nur in antiken Kon­text Sinn machte, weil man sowohl im Juden­tum als auch in den hei­d­nis­chen Reli­gio­nen Opfer kan­nte? Sind Jesus als „sac­ri­fice“ und „vic­tim“ Inter­pre­ta­tio­nen, die sich gegen­seit­ig auss­chliessen? Oder kön­nten bei­de gle­icher­massen bib­lisch und wichtig sein? Je nach­dem wie diese Fra­gen beant­wortet wer­den, verän­dert sich unser Ver­ständ­nis vom christlichen Glauben.

Das Ärgernis des Kreuzes

Das grosse Ärg­er­nis am Chris­ten­tum war und ist das Kreuz. Dass eine Kreuzi­gung ein Heilsereig­nis ist, machte wed­er für Römer noch für Griechen noch für Juden einen Sinn. Einen Gott, der seinen Sohn an einem römis­chen Ver­brecherp­fahl verbluten lässt, erfind­et man nicht, wenn man Ein­druck machen will. Und dass dieser Gott den Auf­trag gibt, dieses Ereig­nis zum Heil in der ganzen Welt zu verkündi­gen, auch nicht.

Trotz­dem haben die ersten Chris­ten sich geweigert, das Kreuz aus ihrer Botschaft zu ent­fer­nen. Und das, obwohl es ihnen Missver­ständ­nisse, Prob­leme und Ver­fol­gung ein­brachte. Es ist im ganzen Neuen Tes­ta­ment offen­sichtlich, dass Jesus als Gekreuzigter und Aufer­standen­er im Zen­trum des Glaubens ste­ht (Römer 3,25ff; 1 Korinther 15,3–4; Markus 11,9ff). Das Kreuz aufzugeben oder seine zen­trale Bedeu­tung in Abrede zu stellen, hätte für die ersten Chris­ten bedeutet, den Glauben aufzugeben.

Angesichts der über­ra­gen­den Bedeu­tung, die das Kreuz in den Anfän­gen des Chris­ten­tums hat­te, muss jede ern­stzunehmende Auseinan­der­set­zung mit dem christlichen Glauben heute fra­gen, was das Kreuz zu bedeutet hat.

Die Rück­frage nach dem Neuen Tes­ta­ment sind wir schuldig, sind die neutes­ta­mentlichen Schriften doch die Grün­dung­surkun­den unseres Glaubens.

Die Evan­ge­likalen haben mit Blick auf das Neue Tes­ta­ment stets darauf bestanden, dass der Tod Jesu ein stel­lvertre­tender Tod zu unseren Gun­sten war. Jesus süh­nte unsere Sün­den durch sein hingegebenes Leben (Römer 3,25). Wer an Jesus glaubt, erfährt Verge­bung sein­er Schuld (Eph­eser 1,7) und ste­ht gerecht­fer­tigt vor Gott (Römer 5,1). Ein solch­er Men­sch kann am Jüng­sten Tag nicht mehr verurteilt wer­den (Römer 8,1ff).

In ein­er tol­er­an­ten Welt fällt es schw­er diesen Sätzen zu glauben. Wie kann es sein, dass ein archais­ch­er Gewal­takt das Epizen­trum ein­er Reli­gion ist, welche die Liebe predigt? Kann ein erbärm­lich­es Opfer der Stifter ein­er Reli­gion sein? Bis das Chris­ten­tum kam, hätte jed­er auch nur halb­wegs vernün­ftige Men­sch, ohne zu zögern gesagt: „Nein, das kann nicht sein.“ Dazu muss man sich bewusst sein, wie antike Reli­gion funktionierte:

Bis das Chris­ten­tum kam, wur­den Reli­gio­nen durch Helden ges­tiftet, nicht durch Opfer.

Das Prob­lem des erbärm­lichen Opfers haben andere Reli­gio­nen nicht. Im Juden­tum empf­ing Mose auf dem Berg Sinai Gottes Offen­barung, die er weit­er­gab und in den fünf Büch­ern Mose ver­schriftlicht wurde. Im Islam ist Mohammed der Empfänger von göt­tlichen Offen­barun­gen, die ihren Nieder­schlag im Koran gefun­den haben. Im Bud­dhis­mus empf­ing Sid­dhar­ta Gau­ta­ma eine Erleuch­tung und wurde zum Bud­dha (Erleuchteten).

Dass Offen­barun­gen oder Erleuch­tun­gen das Zen­trum eines Glaubens sind, ist buch­stäblich ein­leuch­t­end. Men­schen wie Mohammed oder Bud­dha haben etwas Über­wälti­gen­des erfahren und ver­mit­tel­ten es weit­er. Es ist ein­leuch­t­end, wenn Men­schen jeman­dem fol­gen, der eine beson­dere Offen­barung für sich beansprucht. Diese Logik kann das Chris­ten­tum nur bed­ingt für sich beanspruchen. Einem gekreuzigten Opfer nachzu­fol­gen, das in den Augen der grössten impe­ri­alen Macht der dama­li­gen Zeit ein Ver­brech­er war, ist ganz und gar nicht ein­leuch­t­end. Doch genau das tun Chris­ten seit zweitausend Jahren.

Zumin­d­est haben sie das getan. Im pro­gres­siv­en Chris­ten­tum wird das Kreuz einem ver­al­teten Welt­bild zugeschla­gen. Um im Konz­ert der Fortschrit­tlichen gehört zu wer­den, wird der Skan­dal des Kreuzes umgan­gen. Damit wird der christliche Glaube an sich in Frage gestellt. Das Evan­geli­um ret­tet dann nicht mehr von Sün­den, son­dern wird zu einem Entspan­nung­stee mit from­mem Bodensatz.

Was dich im Buch erwartet

Im Kapi­tel über das Kreuz nehme ich mir richtig viel Zeit. Ich zeige auf, wie die Jesus­geschichte in den Evan­gelien unaufhalt­sam auf die Pas­sion zus­teuert und Jesus seinen bevorste­hen­den Tod für seine Jünger deutet (Markus 10,45). Wir befassen uns damit, dass Jesus im Gegen­satz zum griechis­chen Philosophen Sokrates nicht wie dieser heit­er und gelassen starb und machen dabei Anlei­hen bei Jür­gen Molt­manns Klas­sik­er „Der gekreuzigte Gott“.

Und dann wird es noch um etwas gehen, das in fast allen Gebi­eten der religiösen Land­schaft überse­hen wird: Das Kreuz ist nicht nur der Ort, wo Gott unsere Schuld vergibt, es ist auch der Beginn ein­er sozialen Rev­o­lu­tion. Ich zeige, dass Jesus das erste Opfer war, das ein Held wurde und dass diese Tat­sache, die west­liche Kul­tur stark machte und uns bis heute in Sachen Mit­men­schlichkeit und Sol­i­dar­ität mit den Opfern der Gesellschaft prägt. Für manche wird das ein Eye-Open­er sein. Unbe­d­ingt lesen!

Das Endresul­tat des Kapi­tels nehme ich hier schon mal in ger­affter Form vorneweg:

Das Entschei­dende am Chris­ten­tum ist der Glaube an das Opfer von Chris­tus zur Sühne unser­er Sün­den. Wenn Jesus als vic­tim“ (Opfer ein­er ungerecht­en Jus­tiz) gestor­ben ist und darin die ganze Bedeu­tung seines Todes liegt, wäre er ein bedauern­swertes Opfer, aber kein „sac­ri­fice“ und das Chris­ten­tum hätte es nie gegeben. Wenn die Geschichte so ver­laufen wäre, wäre die Welt nicht bess­er, son­dern schlechter.

Jesus ist sowohl vic­tim als auch sac­ri­fice. Sowohl Held als auch Erlös­er. Wäre der Tod Jesu ein Unfall der Geschichte gewe­sen, aber kein Heilsereig­nis, würde der Glaube an Jesus als Erlös­er keinen Sinn machen. Man kön­nte dann ger­ade so gut an Mahat­ma Gand­hi glauben, der erschossen wurde. Das Entschei­dende am christlichen Glauben ist das Kreuz. Am Kreuz hat Gott Partei ergrif­f­en für die Opfer und vergibt uns unsere Sün­den um das Opfer seines Sohnes Willen. Man kann das für unsin­nig oder unmod­ern hal­ten, aber daran hängt alles.


Titel­bild: iStock


Unser Gespräch zum Buch:

Über den Kanal

Roland Hardmeier

Dr. theol. Roland Hardmeier wohnt und arbeitet in Riedikon bei Uster. Er war 15 Jahre lang Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz. Heute ist er als selbständiger Dozent, Referent und Autor tätig. Einblicke in seine Tätigkeit gibt seine Website www.roland-hardmeier.ch

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