Das Königreich
In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evangelikale zwischen fundamentalistisch und postevangelikal“ befasse ich mich mit der religiösen Landschaft und der evangelikalen Binnenpluralisierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen dritten Weg zwischen einem biblizistischen Fundamentalismus und dem Post-Evangelikalismus auf.
In diesem Beitrag führe ich in Kapitel 5 „Der Grundton, auf den alles gestimmt ist: das Königreich Gottes“ ein (Seiten 105–127).
Im letzten Beitrag habe ich mich mit dem Weltverständnis der Fundamentalisten befasst und Defizite ausgemacht. Ich möchte nicht nur klagen, sondern auch einen konstruktiven Beitrag zu einer christlichen Weltsicht leisten. Das Thema des Königreiches Gottes ist meines Erachtens bestens dazu geeignet. Es hilft, jenseits von Polarisierungen zu klären, in welchem Verhältnis Christen zur Welt stehen.
Ein grundlegender Wandel
In den letzten Jahren hat im konservativen Christentum ein grundlegender Wandel stattgefunden:
Als ich ein junger Christ war, fragten alle: „Wann kommt der Antichrist?“ Heute fragen Christen: „Wie kann ich die Welt verändern?“
Das Evangelium war für mich als junger Christ und für meisten meiner christlichen Freunde ein Rettungsring, den Jesus uns auf dem sinkenden Schiff zuwirft. In unserem Narrativ war das Königreich eine zukünftige Angelegenheit. Unsere Hoffnungen auf eine friedliche und gerechte Welt konzentrierten sich auf den wiederkommenden Herrn. Für unsere gegenwärtige Welt blieb uns keine Hoffnung. Die Welt verändern zu wollen, kam uns sinnlos vor.
Was uns damals sinnlos schien, ist im progressiven Christentum Antrieb, sich für eine bessere Welt einzusetzen. In progressiven Narrativen ist das Königreich hauptsächlich eine Angelegenheit dieser Welt. Es geht nicht um individuellen Seelenfrieden und eine jenseitige Welt, sondern um den Bau des Königreichs in der Gegenwart und das heilsame Hineinwirken mit der Liebe Gottes in die Welt. Diese Erzählung bietet für eine zunehmende Zahl engagierten Christen die Möglichkeit, die fundamentalistische Weltverneinung zu überwinden und sich in der Welt zu engagieren.
Es ist offensichtlich, dass beide Narrative Wahrheitsmomente enthalten. Die einen sagen, dass das Königreich eine Angelegenheit der Zukunft ist. Jesus wird das Reich aufrichten, wenn er kommt. Darum beten wir: „Dein Reich komme!“ (Matthäus 6,10). Die anderen sagen, dass mit Jesus das Reich da ist und dass wir es heute in der Welt fördern sollten. Jesus sagte ja: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe“ (Markus 1,15).
Die Frage ist nicht, welches der beiden Narrative richtig ist. Beide ergeben sich aus der Botschaft von Jesus. Die Frage ist, wie sich beide Dimensionen, die gegenwärtige und die zukünftige, zueinander verhalten.
Jesus und das Königreich
Die Botschaft vom anbrechenden Königreich ist der Grundton, auf den bei Jesus alles gestimmt ist. In seinen Predigten liegt die Morgenröte einer neuen Welt in der Luft.
Man kann sich nicht mit Jesus befassen, ohne beständig auf die Lehre vom Königreich zu stossen. Die alte Welt ist in den Predigten von Jesus noch da, während die neue sich schon Bahn bricht. Gegenwart und Zukunft gehören bei Jesus zusammen. Das Reich ist in seiner Person schon da (Lukas 17,20–21). Wenn es nicht so wäre, hätten wir keine Hoffnung für diese Welt. Das Reich in seiner vollendeten Gestalt aber steht noch aus. Wenn es nicht so wäre, hätten wir keine Hoffnung, die über diese Welt hinausgeht.
Jesu Botschaft vom Königreich ist ausgesprochen dynamisch. Sie enthält progressive Elemente, die Antrieb sind, sich für das Königreich in dieser Welt einzusetzen. Und sie enthält konservative Elemente, die uns über den Horizont der Geschichte hinausblicken und von der ewigen Stadt Gottes träumen lassen. Jesus geht es um beides: um das Erhoffte und das vom Hoffen bewegte Handeln. Man kann nicht beides voneinander trennen, ohne den christlichen Glauben ernsthaft zu verstümmeln.
Wer Jesus zuhört, wird sein Heil weder in der Flucht aus der Welt suchen noch einer innerweltlichen Utopie verfallen. Im Hören auf Jesus entsteht ein Glaube, der sich vom Zugriff weltverneinender Theorien löst, aber nicht zur innerweltlichen Utopie wird.
Das Geheimnis des Königreichs
Markus hält am Anfang seines Evangeliums fest, dass das Herzstück der Botschaft Jesu eine „neue Welt“ war: „Nachdem man Johannes ins Gefängnis geworfen hatte, ging Jesus wieder nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (Markus 1,14–15).
Das Geheimnis des Reiches ist das grosse Thema der Himmelreichsgleichnisse von Matthäus 13. Die Gleichnisse über das Himmelreich erklären alle die eine wichtige Wahrheit:
Das Reich Gottes, das sich eines Tages machtvoll offenbaren wird, ist mit dem Kommen Jesu in unscheinbarer Form bereits da. Das Reich ist also eine gegenwärtige Wirklichkeit und eine zukünftige Hoffnung.
Um diese Wahrheit zu illustrieren, vergleicht Jesus das Reich mit verschiedenen Alltagssituationen. Im Hintergrund steht die Frage, weshalb das Reich, das Jesus verkündete, so unscheinbar war. Jedes der Gleichnisse zielt darauf, zu erklären, dass das Reich jetzt noch klein und unbedeutend ist und dass es wachsen und sich entwickeln wird:
Das Gleichnis vom Sämann erklärt, dass Gottes Herrschaft zunächst nur von wenigen akzeptiert wird (Matthäus 13,3ff). So wie der ausgestreute Same auf felsigen Boden oder unter die Dornen fällt und keine Frucht bringt, so werden nur wenige umkehren und dem Evangelium Glauben schenken. Bei denen, die Jesu Herrschaft akzeptieren, ist der Same auf guten Boden gefallen und bringt Frucht. Dieses Gleichnis erklärt die scheinbare Erfolglosigkeit von Jesus. Es wird deutlich, dass Gott niemandem seine Herrschaft aufzwingt. Er bietet sie an und zwar in der Person seines Sohnes, durch den er zur Entscheidung ruft.
Im Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen wird der Anbruch des Reiches mit dem Säen von gutem Samen auf einen Acker verglichen (Matthäus 13,24ff). Die Pharisäer und Schriftgelehrten erwarteten, dass die Herrschaft des Messias eine gereinigte Gesellschaft hervorbringt, weil Gott zum Gericht erscheint. Jesus sagte, das Reich sei da, aber die Gesellschaft wurde nicht gereinigt. Mit seiner Botschaft der Gnade befand sich Jesus im Widerspruch zur jüdischen Endzeiterwartung. Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen zielt darauf, diesen Widerspruch zu klären und eine falsche Endzeiterwartung zu korrigieren. Das Gleichnis lehrt, dass Gottes Reich angebrochen ist, Gut und Böse aber bis zum Ende nebeneinander bestehen. Das Königreich ist nicht das Reich der Makellosen, sondern das Reich der begnadigten Sünder. Erst wenn der Menschensohn wiederkommt, wird er Gericht halten und Unkraut und Weizen voneinander trennen. Dann erst „werden die Gerechten im Reich ihres Vaters wie die Sonne leuchten” (Matthäus 13,43).
Die Gleichnisse vom Senfkorn (Matthäus 13,31–32) und vom Sauerteig (Matthäus 13,33) lehren, dass das Königreich langsam zum umfassenden Reich wird, von dem der Prophet Daniel sprach (Daniel 2,44). Das Reich ist wie ein kleines Senfkorn, das wächst und zu einem grossen Baum wird. Es ist unscheinbar und kraftvoll wie ein wenig Sauerteig, der den Teig durchsäuert. Zur Zeit Jesu war das Reich klein und viele nahmen es nicht einmal wahr. Die Jünger Jesu waren keine beeindruckende Gruppe. Sollte in einem Haufen einfacher Fischer und ehemaliger Betrüger das Königreich angebrochen sein?
Begeistert vom Königreich
Jesus brachte nicht etwas Neues, indem er das Alte abschaffte. Jesus brachte inmitten des Alten etwas Neues zur Geltung. Bei Jesus lernen wir, dass es Gottes Art ist, mit den Scherben, die wir angerichtet haben, Neues zu schaffen.
Man beginnt in der Botschaft Jesu vom Königreich zu ahnen, dass Jesus uns nicht aus der Welt ruft, um sie hinter uns zu lassen. Jesus bringt mitten in der Welt das Königreich zur Geltung und dient den Menschen mit Wahrheit und in Liebe. Christen schliessen sich Jesus an, um wie er zu lieben, zu dienen und die Wahrheit zu bezeugen.
Im 5. Kapitel des Buches nehme ich mir ausführlich Zeit, um die Bedeutung des Königreichs näher auszuführen. Ich zeige auf, dass Jesus mit seiner Botschaft vom Königreich, das durch Frieden stiften anbricht, den jüdischen Gottesbegriff revolutioniert, wie Jürgen Moltmann treffend sagte. Ich zeige auf, wie aus dieser Sicht vom Königreich eine Sicht für die Kirche als Raum der Gnade kommt. Und ich zeige, dass die Lehre vom Königreich uns inspiriert, schon heute für eine bessere Welt zu arbeiten, während wir auf die kommende im Glauben warten.
Du wirst bei meinen Ausführungen im Buch merken: Ich bin richtig begeistert von der Lehre Jesus über das Königreich. Denn: Die biblische Lehre vom Königreich ist das beste Mittel gegen Polarisierungen. Es bringt gegenwärtige und zukünftige, konservative und progressive Elemente ins richtige Verhältnis zueinander.
Bild: iStock
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