Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist 5/10

Lesezeit: 5 Minuten
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by Roland Hardmeier | 15. Dez. 2024 | 0 comments

Das Königreich

In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evan­ge­likale zwis­chen fun­da­men­tal­is­tisch und poste­van­ge­likal“ befasse ich mich mit der religiösen Land­schaft und der evan­ge­likalen Bin­nen­plu­ral­isierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen drit­ten Weg zwis­chen einem bib­lizis­tis­chen Fun­da­men­tal­is­mus und dem Post-Evan­ge­likalis­mus auf.

In diesem Beitrag führe ich in Kapi­tel 5 „Der Grund­ton, auf den alles ges­timmt ist: das Kön­i­gre­ich Gottes“ ein (Seit­en 105–127).

Im let­zten Beitrag habe ich mich mit dem Weltver­ständ­nis der Fun­da­men­tal­is­ten befasst und Defizite aus­gemacht. Ich möchte nicht nur kla­gen, son­dern auch einen kon­struk­tiv­en Beitrag zu ein­er christlichen Welt­sicht leis­ten. Das The­ma des Kön­i­gre­ich­es Gottes ist meines Eracht­ens bestens dazu geeignet. Es hil­ft, jen­seits von Polar­isierun­gen zu klären, in welchem Ver­hält­nis Chris­ten zur Welt stehen.

Ein grundle­gen­der Wandel

In den let­zten Jahren hat im kon­ser­v­a­tiv­en Chris­ten­tum ein grundle­gen­der Wan­del stattgefunden:

Als ich ein junger Christ war, fragten alle: „Wann kommt der Antichrist?“ Heute fra­gen Chris­ten: „Wie kann ich die Welt verändern?“

Das Evan­geli­um war für mich als junger Christ und für meis­ten mein­er christlichen Fre­unde ein Ret­tungsring, den Jesus uns auf dem sink­enden Schiff zuwirft. In unserem Nar­ra­tiv war das Kön­i­gre­ich eine zukün­ftige Angele­gen­heit. Unsere Hoff­nun­gen auf eine friedliche und gerechte Welt konzen­tri­erten sich auf den wiederk­om­menden Her­rn. Für unsere gegen­wär­tige Welt blieb uns keine Hoff­nung. Die Welt verän­dern zu wollen, kam uns sinn­los vor.

Was uns damals sinn­los schien, ist im pro­gres­siv­en Chris­ten­tum Antrieb, sich für eine bessere Welt einzuset­zen. In pro­gres­siv­en Nar­ra­tiv­en ist das Kön­i­gre­ich haupt­säch­lich eine Angele­gen­heit dieser Welt. Es geht nicht um indi­vidu­ellen See­len­frieden und eine jen­seit­ige Welt, son­dern um den Bau des Kön­i­gre­ichs in der Gegen­wart und das heil­same Hinein­wirken mit der Liebe Gottes in die Welt. Diese Erzäh­lung bietet für eine zunehmende Zahl engagierten Chris­ten die Möglichkeit, die fun­da­men­tal­is­tis­che Weltvernei­n­ung zu über­winden und sich in der Welt zu engagieren.

Es ist offen­sichtlich, dass bei­de Nar­ra­tive Wahrheitsmo­mente enthal­ten. Die einen sagen, dass das Kön­i­gre­ich eine Angele­gen­heit der Zukun­ft ist. Jesus wird das Reich aufricht­en, wenn er kommt. Darum beten wir: „Dein Reich komme!“ (Matthäus 6,10). Die anderen sagen, dass mit Jesus das Reich da ist und dass wir es heute in der Welt fördern soll­ten. Jesus sagte ja: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe“ (Markus 1,15).

Die Frage ist nicht, welch­es der bei­den Nar­ra­tive richtig ist. Bei­de ergeben sich aus der Botschaft von Jesus. Die Frage ist, wie sich bei­de Dimen­sio­nen, die gegen­wär­tige und die zukün­ftige, zueinan­der verhalten.

Jesus und das Königreich

Die Botschaft vom anbrechen­den Kön­i­gre­ich ist der Grund­ton, auf den bei Jesus alles ges­timmt ist. In seinen Predigten liegt die Mor­gen­röte ein­er neuen Welt in der Luft.

Man kann sich nicht mit Jesus befassen, ohne beständig auf die Lehre vom Kön­i­gre­ich zu stossen. Die alte Welt ist in den Predigten von Jesus noch da, während die neue sich schon Bahn bricht. Gegen­wart und Zukun­ft gehören bei Jesus zusam­men. Das Reich ist in sein­er Per­son schon da (Lukas 17,20–21). Wenn es nicht so wäre, hät­ten wir keine Hoff­nung für diese Welt. Das Reich in sein­er vol­len­de­ten Gestalt aber ste­ht noch aus. Wenn es nicht so wäre, hät­ten wir keine Hoff­nung, die über diese Welt hinausgeht.

Jesu Botschaft vom Kön­i­gre­ich ist aus­ge­sprochen dynamisch. Sie enthält pro­gres­sive Ele­mente, die Antrieb sind, sich für das Kön­i­gre­ich in dieser Welt einzuset­zen. Und sie enthält kon­ser­v­a­tive Ele­mente, die uns über den Hor­i­zont der Geschichte hin­aus­blick­en und von der ewigen Stadt Gottes träu­men lassen. Jesus geht es um bei­des: um das Erhoffte und das vom Hof­fen bewegte Han­deln. Man kann nicht bei­des voneinan­der tren­nen, ohne den christlichen Glauben ern­sthaft zu verstümmeln.

Wer Jesus zuhört, wird sein Heil wed­er in der Flucht aus der Welt suchen noch ein­er inner­weltlichen Utopie ver­fall­en. Im Hören auf Jesus entste­ht ein Glaube, der sich vom Zugriff weltverneinen­der The­o­rien löst, aber nicht zur inner­weltlichen Utopie wird.

Das Geheim­nis des Königreichs

Markus hält am Anfang seines Evan­geli­ums fest, dass das Herzstück der Botschaft Jesu eine „neue Welt“ war: „Nach­dem man Johannes ins Gefäng­nis gewor­fen hat­te, ging Jesus wieder nach Galiläa; er verkün­dete das Evan­geli­um Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evan­geli­um!“ (Markus 1,14–15).

Das Geheim­nis des Reich­es ist das grosse The­ma der Him­mel­re­ichs­gle­ich­nisse von Matthäus 13. Die Gle­ich­nisse über das Him­mel­re­ich erk­lären alle die eine wichtige Wahrheit:

Das Reich Gottes, das sich eines Tages machtvoll offen­baren wird, ist mit dem Kom­men Jesu in unschein­bar­er Form bere­its da. Das Reich ist also eine gegen­wär­tige Wirk­lichkeit und eine zukün­ftige Hoffnung.

Um diese Wahrheit zu illus­tri­eren, ver­gle­icht Jesus das Reich mit ver­schiede­nen All­t­agssi­t­u­a­tio­nen. Im Hin­ter­grund ste­ht die Frage, weshalb das Reich, das Jesus verkün­dete, so unschein­bar war. Jedes der Gle­ich­nisse zielt darauf, zu erk­lären, dass das Reich jet­zt noch klein und unbe­deu­tend ist und dass es wach­sen und sich entwick­eln wird:

Das Gle­ich­nis vom Sämann erk­lärt, dass Gottes Herrschaft zunächst nur von weni­gen akzep­tiert wird (Matthäus 13,3ff). So wie der aus­gestreute Same auf fel­si­gen Boden oder unter die Dor­nen fällt und keine Frucht bringt, so wer­den nur wenige umkehren und dem Evan­geli­um Glauben schenken. Bei denen, die Jesu Herrschaft akzep­tieren, ist der Same auf guten Boden gefall­en und bringt Frucht. Dieses Gle­ich­nis erk­lärt die schein­bare Erfol­glosigkeit von Jesus. Es wird deut­lich, dass Gott nie­man­dem seine Herrschaft aufzwingt. Er bietet sie an und zwar in der Per­son seines Sohnes, durch den er zur Entschei­dung ruft.

Im Gle­ich­nis vom Unkraut unter dem Weizen wird der Anbruch des Reich­es mit dem Säen von gutem Samen auf einen Ack­er ver­glichen (Matthäus 13,24ff). Die Phar­isäer und Schrift­gelehrten erwarteten, dass die Herrschaft des Mes­sias eine gere­inigte Gesellschaft her­vor­bringt, weil Gott zum Gericht erscheint. Jesus sagte, das Reich sei da, aber die Gesellschaft wurde nicht gere­inigt. Mit sein­er Botschaft der Gnade befand sich Jesus im Wider­spruch zur jüdis­chen Endzeit­er­wartung. Das Gle­ich­nis vom Unkraut unter dem Weizen zielt darauf, diesen Wider­spruch zu klären und eine falsche Endzeit­er­wartung zu kor­rigieren. Das Gle­ich­nis lehrt, dass Gottes Reich ange­brochen ist, Gut und Böse aber bis zum Ende nebeneinan­der beste­hen. Das Kön­i­gre­ich ist nicht das Reich der Makel­losen, son­dern das Reich der beg­nadigten Sün­der. Erst wenn der Men­schen­sohn wiederkommt, wird er Gericht hal­ten und Unkraut und Weizen voneinan­der tren­nen. Dann erst „wer­den die Gerecht­en im Reich ihres Vaters wie die Sonne leucht­en” (Matthäus 13,43).

Die Gle­ich­nisse vom Sen­fko­rn (Matthäus 13,31–32) und vom Sauerteig (Matthäus 13,33) lehren, dass das Kön­i­gre­ich langsam zum umfassenden Reich wird, von dem der Prophet Daniel sprach (Daniel 2,44). Das Reich ist wie ein kleines Sen­fko­rn, das wächst und zu einem grossen Baum wird. Es ist unschein­bar und kraftvoll wie ein wenig Sauerteig, der den Teig durch­säuert. Zur Zeit Jesu war das Reich klein und viele nah­men es nicht ein­mal wahr. Die Jünger Jesu waren keine beein­druck­ende Gruppe. Sollte in einem Haufen ein­fach­er Fis­ch­er und ehe­ma­liger Betrüger das Kön­i­gre­ich ange­brochen sein?

Begeis­tert vom Königreich

Jesus brachte nicht etwas Neues, indem er das Alte abschaffte. Jesus brachte inmit­ten des Alten etwas Neues zur Gel­tung. Bei Jesus ler­nen wir, dass es Gottes Art ist, mit den Scher­ben, die wir angerichtet haben, Neues zu schaffen.

Man begin­nt in der Botschaft Jesu vom Kön­i­gre­ich zu ahnen, dass Jesus uns nicht aus der Welt ruft, um sie hin­ter uns zu lassen. Jesus bringt mit­ten in der Welt das Kön­i­gre­ich zur Gel­tung und dient den Men­schen mit Wahrheit und in Liebe. Chris­ten schliessen sich Jesus an, um wie er zu lieben, zu dienen und die Wahrheit zu bezeugen.

Im 5. Kapi­tel des Buch­es nehme ich mir aus­führlich Zeit, um die Bedeu­tung des Kön­i­gre­ichs näher auszuführen. Ich zeige auf, dass Jesus mit sein­er Botschaft vom Kön­i­gre­ich, das durch Frieden stiften anbricht, den jüdis­chen Gottes­be­griff rev­o­lu­tion­iert, wie Jür­gen Molt­mann tre­f­fend sagte. Ich zeige auf, wie aus dieser Sicht vom Kön­i­gre­ich eine Sicht für die Kirche als Raum der Gnade kommt. Und ich zeige, dass die Lehre vom Kön­i­gre­ich uns inspiri­ert, schon heute für eine bessere Welt zu arbeit­en, während wir auf die kom­mende im Glauben warten.

Du wirst bei meinen Aus­führun­gen im Buch merken: Ich bin richtig begeis­tert von der Lehre Jesus über das Kön­i­gre­ich. Denn: Die bib­lis­che Lehre vom Kön­i­gre­ich ist das beste Mit­tel gegen Polar­isierun­gen. Es bringt gegen­wär­tige und zukün­ftige, kon­ser­v­a­tive und pro­gres­sive Ele­mente ins richtige Ver­hält­nis zueinander.


Bild: iStock


Unser Gespräch zum Buch:

Über den Kanal

Roland Hardmeier

Dr. theol. Roland Hardmeier wohnt und arbeitet in Riedikon bei Uster. Er war 15 Jahre lang Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz. Heute ist er als selbständiger Dozent, Referent und Autor tätig. Einblicke in seine Tätigkeit gibt seine Website www.roland-hardmeier.ch

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