Die Welt
In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evangelikale zwischen fundamentalistisch und postevangelikal“ befasse ich mich mit der religiösen Landschaft und der evangelikalen Binnenpluralisierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen dritten Weg zwischen einem biblizistischen Fundamentalismus und dem Post-Evangelikalismus auf.
In diesem Beitrag führe ich in Kapitel 4 „Was Fundamentalisten einfach nicht verstehen: die Welt“ ein (Seiten 87–104).
Im letzten Beitrag habe ich mich mit der kritischen Lesart der Bibel im Postevangelikalismus befasst. In diesem Beitrag steht die Weltverneinung im Fundamentalismus zur Debatte. Die beiden Themen sind enger miteinander verbunden, als es auf den ersten Augenblick scheint.
Die Wurzeln der fundamentalistischen Weltverneinung gehen zurück auf die historischen Anfänge des christlichen Fundamentalismus in den Vereinigten Staaten. Um die Wende zum 20. Jahrhundert kam es durch den Darwinismus, den Liberalismus und den Säkularismus zu einem Rückbau des religiösen Weltgebäudes. Diese Entwicklung wurde von einem Teil des konservativen Protestantismus als Zeichen des Weltendes gedeutet. Sie brachte den christlichen Fundamentalismus hervor.
Die Welt – sinkendes Schiff?
Damals prägte der amerikanische Evangelist Dwight Moody den Satz von der Welt als sinkendem Schiff:
„Die Welt ist ein sinkendes Schiff. Ich bin nicht gerufen, das Schiff zu retten, sondern so viele wie möglich vom Schiff zu holen, bevor es sinkt.“
Moodys berühmter Satz setzte sich in den Köpfen vieler bibelgläubiger Christen auch in Europa fest. Seither haben Fundamentalisten ein gebrochenes Verhältnis zur Welt. Wer ernsthaft Christ sein will, muss weltlichen Dingen entsagen. Umgekehrt kann kein Christ, der die Welt liebt, ihrer Auffassung nach richtig Christ sein.
Die fundamentalistische Weltverneinung und die postevangelikale Annäherung an die Welt, mit denen ich mich im ersten und dritten Beitrag dieser Serie befasst habe, sind eng miteinander verbunden. Auffallend viele postevangelikale Biografien nehmen ihren Ausganspunkt im Fundamentalismus. Exits aus fundamentalistischen Gemeinschaften wurden gelehrt, die Liebe zu Christus vertrage sich nicht mit der Liebe zur Welt. Sie lernten, sich um geistliche Angelegenheiten zu kümmern und der Welt ihren Lauf zu lassen. Der Einsatz für eine bessere Welt sei Zeitverschwendung. Er lenke von der wichtigsten Aufgabe ab, Seelen aus dem sinkenden Schiff zu retten.
Diese weltverneinende Theologie machte es vielen, die sich in einem fundamentalistischen Milieu bewegten unmöglich, ein positives Verhältnis zur Welt zu entwickeln. Sich für ein intakte Umwelt einzusetzen oder soziale Projekte zu unterstützen, wäre ihnen wie ein Verrat am Evangelium vorgekommen. Doch genau das wollen heute immer mehr Christen tun. Sie sind bereit, mit Luther ein Apfelbäumchen zu pflanzen. Sie möchten die Welt positiv prägen. Wenn dieser Wunsch stärker wird, in der persönlichen Biografie aber keine Theologie zur Verfügung steht, die das unterstützt, kommt es zum Konflikt.
Das Problem des Fundamentalismus ist nicht das Vertrauen in die Bibel als Wort Gottes, sondern das Weltverständnis. In meinen Recherchen zum Fundamentalismus einschliesslich der kritischen Reflektion meiner eigenen fundamentalistischen Vergangenheit, ist mir bewusst geworden, dass das grundlegende Problem folgendes ist:
Im Fundamentalismus gibt es eine fatale Gleichsetzung von Weltverneinung und Rechtgläubigkeit.
Diese Gleichsetzung führt bei Exits aus fundamentalistischen Gemeinden dazu, sich progressiven Formen des Glaubens zuzuwenden. Sie möchten Nachfolge mit Weltgestaltung verbinden. Sie möchten sich sozial engagieren oder in der lokalen Politik einsetzen. Oder eine Kinderpatenschaft eingehen und für ein Wasserprojekt in Afrika spenden. Und sie möchten das bewusst als Teil ihrer christlichen Lebenseinstellung tun. Für andere bricht aus Enttäuschung über die fundamentalistische Weltfremdheit, die ihnen eingeimpft wurde, das Glaubensfundament weg. Sie lassen das Evangelium hinter sich, das für sie ein Synonym für Weltverneinung und Indifferenz in sozialen Fragen geworden ist. Man kann den Ausbruch vieler engagierter Christen aus „Evangelikalien“ nicht verstehen, wenn man übersieht, dass sie auf fundamentalistische Eingrenzungen reagieren.
Die evangelikale Krise, die ich im ersten Beitrag beschrieben habe, ist wesentlich der unscharfen Verbindung mit dem Fundamentalismus geschuldet. Es ist eine Tatsache, dass die evangelikale Bewegung bis heute starke fundamentalistische Ränder hat. An diesen hält sich hartnäckig eine latente Weltverneinung. Zum Teil greift sie bis in die evangelikale Mitte hinein. Viele nehmen das nicht bewusst wahr. Sie haben kein Problem damit, ein Popkonzert zu besuchen oder Netflix zu schauen. Das Problem liegt tiefer:
Die evangelikale Basis hat keine Theologie der Schöpfung, die positiv formuliert, wozu wir auf diesem Planeten sind. Über den Gedanken hinaus, Menschen für Jesus zu gewinnen, wissen viele nicht recht, was sie hier eigentlich tun.
Wir Evangelikalen haben wegen des Fehlens einer fassbaren Theologie der Schöpfung wenig Antworten auf Fragen der heutigen Lebensrealität. In der Zeit des evangelikalen Erfolgs vor der Jahrtausendwende (siehe dritter Beitrag) scheint das anders gewesen zu sein. Damals gelang es, den Glauben mit der Lebensrealität der ausgehenden Moderne zu verbinden.
Seit der Jahrtausendwende ist die Lebensrealität vieler Menschen eine andere. Viele machen sich Sorgen um das Klima. Immer mehr Menschen fragen, wie Armut in der Welt reduziert werden kann. Wer zu diesen Fragen Antworten sucht, wird bei uns kaum fündig. Es gibt zwar verständliche Literatur zum Thema, aber sie wird kaum gelesen. Evangelikale Verlagshäuser können sich nur über Wasser halten, weil sie farbige Bibelhüllen und Jesus-liebt-dich-Tee-Tassen verkaufen. Man muss es in aller Deutlichkeit sagen: An der evangelikalen Basis gibt es mittlerweile einen eklatanten Mangel an fundierter Theologie.
Eine fundierte Theologie der Welt
Nach meiner Kritik an der eigenen Bewegung, zu der ich gerne gehöre, hier ein konstruktiver Vorschlag: Wir brauchen eine biblisch fundierte Theologie der Welt, die positiv formuliert, wozu wir Christen auf diesem Planeten sind, und uns inspiriert, unsere Glaubensrealität mit der Lebensrealität zu verbinden.
Im Buch zeige ich konkret auf, was das bedeutet. Dazu befasse ich mich in Kapitel 4 mit dem Kosmos-Begriff im Neuen Testament, mit dem Schöpfungsbericht und dem biblischen Verständnis von Erlösung, das bei genauer Betrachtung erstaunlich weit ist. Ich argumentiere, dass wir eine Philosophie der Liebe für die Postmoderne entwickeln müssen und zeige auf, wie das mit einer biblischen Theologie wunderbar zusammengeht. Für Fundamentalisten sind in diesem Kapitel einige Überraschungen bereit.
Im ganzen Kapitel geht es mir darum, deutlich zu machen: Weltverneinung ist kein Zeichen von Rechtgläubigkeit, sondern von Einseitigkeit. Die Bibel enthält mit ihrem Ja zur Geschöpflichkeit und ihrem weiten Heilsverständnis alles, um Glaubensrealität und Lebensrealität miteinander zu verbinden. Wie diese Verbindung zu denken ist, lässt sich am besten an der biblischen Lehre von Königreich zeigen. Im nächsten Beitrag werde ich mich ganz diesem grundlegenden Thema widmen.
Bild: iStock
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