Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist 4/10

Lesezeit: 4 Minuten
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by Roland Hardmeier | 08. Dez. 2024 | 0 comments

Die Welt

In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evan­ge­likale zwis­chen fun­da­men­tal­is­tisch und poste­van­ge­likal“ befasse ich mich mit der religiösen Land­schaft und der evan­ge­likalen Bin­nen­plu­ral­isierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen drit­ten Weg zwis­chen einem bib­lizis­tis­chen Fun­da­men­tal­is­mus und dem Post-Evan­ge­likalis­mus auf.

In diesem Beitrag führe ich in Kapi­tel 4 „Was Fun­da­men­tal­is­ten ein­fach nicht ver­ste­hen: die Welt“ ein (Seit­en 87–104).

Im let­zten Beitrag habe ich mich mit der kri­tis­chen Lesart der Bibel im Poste­van­ge­likalis­mus befasst. In diesem Beitrag ste­ht die Weltvernei­n­ung im Fun­da­men­tal­is­mus zur Debat­te. Die bei­den The­men sind enger miteinan­der ver­bun­den, als es auf den ersten Augen­blick scheint.

Die Wurzeln der fun­da­men­tal­is­tis­chen Weltvernei­n­ung gehen zurück auf die his­torischen Anfänge des christlichen Fun­da­men­tal­is­mus in den Vere­inigten Staat­en. Um die Wende zum 20. Jahrhun­dert kam es durch den Dar­win­is­mus, den Lib­er­al­is­mus und den Säku­lar­is­mus zu einem Rück­bau des religiösen Welt­ge­bäudes. Diese Entwick­lung wurde von einem Teil des kon­ser­v­a­tiv­en Protes­tantismus als Zeichen des Wel­tendes gedeutet. Sie brachte den christlichen Fun­da­men­tal­is­mus hervor.

Die Welt – sink­endes Schiff?

Damals prägte der amerikanis­che Evan­ge­list Dwight Moody den Satz von der Welt als sink­en­dem Schiff:

„Die Welt ist ein sink­endes Schiff. Ich bin nicht gerufen, das Schiff zu ret­ten, son­dern so viele wie möglich vom Schiff zu holen, bevor es sinkt.“

Moodys berühmter Satz set­zte sich in den Köpfen viel­er bibel­gläu­biger Chris­ten auch in Europa fest. Sei­ther haben Fun­da­men­tal­is­ten ein gebroch­enes Ver­hält­nis zur Welt. Wer ern­sthaft Christ sein will, muss weltlichen Din­gen entsagen. Umgekehrt kann kein Christ, der die Welt liebt, ihrer Auf­fas­sung nach richtig Christ sein.

Die fun­da­men­tal­is­tis­che Weltvernei­n­ung und die poste­van­ge­likale Annäherung an die Welt, mit denen ich mich im ersten und drit­ten Beitrag dieser Serie befasst habe, sind eng miteinan­der ver­bun­den. Auf­fal­l­end viele poste­van­ge­likale Biografien nehmen ihren Aus­ganspunkt im Fun­da­men­tal­is­mus. Exits aus fun­da­men­tal­is­tis­chen Gemein­schaften wur­den gelehrt, die Liebe zu Chris­tus ver­trage sich nicht mit der Liebe zur Welt. Sie lern­ten, sich um geistliche Angele­gen­heit­en zu küm­mern und der Welt ihren Lauf zu lassen. Der Ein­satz für eine bessere Welt sei Zeitver­schwen­dung. Er lenke von der wichtig­sten Auf­gabe ab, See­len aus dem sink­enden Schiff zu retten.

Diese weltverneinende The­olo­gie machte es vie­len, die sich in einem fun­da­men­tal­is­tis­chen Milieu bewegten unmöglich, ein pos­i­tives Ver­hält­nis zur Welt zu entwick­eln. Sich für ein intak­te Umwelt einzuset­zen oder soziale Pro­jek­te zu unter­stützen, wäre ihnen wie ein Ver­rat am Evan­geli­um vorgekom­men. Doch genau das wollen heute immer mehr Chris­ten tun. Sie sind bere­it, mit Luther ein Apfel­bäum­chen zu pflanzen. Sie möcht­en die Welt pos­i­tiv prä­gen. Wenn dieser Wun­sch stärk­er wird, in der per­sön­lichen Biografie aber keine The­olo­gie zur Ver­fü­gung ste­ht, die das unter­stützt, kommt es zum Konflikt.

Das Prob­lem des Fun­da­men­tal­is­mus ist nicht das Ver­trauen in die Bibel als Wort Gottes, son­dern das Weltver­ständ­nis. In meinen Recherchen zum Fun­da­men­tal­is­mus ein­schliesslich der kri­tis­chen Reflek­tion mein­er eige­nen fun­da­men­tal­is­tis­chen Ver­gan­gen­heit, ist mir bewusst gewor­den, dass das grundle­gende Prob­lem fol­gen­des ist:

Im Fun­da­men­tal­is­mus gibt es eine fatale Gle­ich­set­zung von Weltvernei­n­ung und Rechtgläubigkeit.

Diese Gle­ich­set­zung führt bei Exits aus fun­da­men­tal­is­tis­chen Gemein­den dazu, sich pro­gres­siv­en For­men des Glaubens zuzuwen­den. Sie möcht­en Nach­folge mit Welt­gestal­tung verbinden. Sie möcht­en sich sozial engagieren oder in der lokalen Poli­tik ein­set­zen. Oder eine Kinder­paten­schaft einge­hen und für ein Wasser­pro­jekt in Afri­ka spenden. Und sie möcht­en das bewusst als Teil ihrer christlichen Leben­se­in­stel­lung tun. Für andere bricht aus Ent­täuschung über die fun­da­men­tal­is­tis­che Welt­fremd­heit, die ihnen eingeimpft wurde, das Glaubens­fun­da­ment weg. Sie lassen das Evan­geli­um hin­ter sich, das für sie ein Syn­onym für Weltvernei­n­ung und Indif­ferenz in sozialen Fra­gen gewor­den ist. Man kann den Aus­bruch viel­er engagiert­er Chris­ten aus „Evan­ge­likalien“ nicht ver­ste­hen, wenn man über­sieht, dass sie auf fun­da­men­tal­is­tis­che Ein­gren­zun­gen reagieren.

Die evan­ge­likale Krise, die ich im ersten Beitrag beschrieben habe, ist wesentlich der unschar­fen Verbindung mit dem Fun­da­men­tal­is­mus geschuldet. Es ist eine Tat­sache, dass die evan­ge­likale Bewe­gung bis heute starke fun­da­men­tal­is­tis­che Rän­der hat. An diesen hält sich hart­näck­ig eine latente Weltvernei­n­ung. Zum Teil greift sie bis in die evan­ge­likale Mitte hinein. Viele nehmen das nicht bewusst wahr. Sie haben kein Prob­lem damit, ein Pop­konz­ert zu besuchen oder Net­flix zu schauen. Das Prob­lem liegt tiefer:

Die evan­ge­likale Basis hat keine The­olo­gie der Schöp­fung, die pos­i­tiv for­muliert, wozu wir auf diesem Plan­eten sind. Über den Gedanken hin­aus, Men­schen für Jesus zu gewin­nen, wis­sen viele nicht recht, was sie hier eigentlich tun.

Wir Evan­ge­likalen haben wegen des Fehlens ein­er fass­baren The­olo­gie der Schöp­fung wenig Antworten auf Fra­gen der heuti­gen Leben­sre­al­ität. In der Zeit des evan­ge­likalen Erfol­gs vor der Jahrtausendwende (siehe drit­ter Beitrag) scheint das anders gewe­sen zu sein. Damals gelang es, den Glauben mit der Leben­sre­al­ität der aus­ge­hen­den Mod­erne zu verbinden.

Seit der Jahrtausendwende ist die Leben­sre­al­ität viel­er Men­schen eine andere. Viele machen sich Sor­gen um das Kli­ma. Immer mehr Men­schen fra­gen, wie Armut in der Welt reduziert wer­den kann. Wer zu diesen Fra­gen Antworten sucht, wird bei uns kaum fündig. Es gibt zwar ver­ständliche Lit­er­atur zum The­ma, aber sie wird kaum gele­sen. Evan­ge­likale Ver­lagshäuser kön­nen sich nur über Wass­er hal­ten, weil sie far­bige Bibel­hüllen und Jesus-liebt-dich-Tee-Tassen verkaufen. Man muss es in aller Deut­lichkeit sagen: An der evan­ge­likalen Basis gibt es mit­tler­weile einen ekla­tan­ten Man­gel an fundiert­er Theologie.

Eine fundierte The­olo­gie der Welt

Nach mein­er Kri­tik an der eige­nen Bewe­gung, zu der ich gerne gehöre, hier ein kon­struk­tiv­er Vorschlag: Wir brauchen eine bib­lisch fundierte The­olo­gie der Welt, die pos­i­tiv for­muliert, wozu wir Chris­ten auf diesem Plan­eten sind, und uns inspiri­ert, unsere Glauben­sre­al­ität mit der Leben­sre­al­ität zu verbinden.

Im Buch zeige ich konkret auf, was das bedeutet. Dazu befasse ich mich in Kapi­tel 4 mit dem Kos­mos-Begriff im Neuen Tes­ta­ment, mit dem Schöp­fungs­bericht und dem bib­lis­chen Ver­ständ­nis von Erlö­sung, das bei genauer Betra­ch­tung erstaunlich weit ist. Ich argu­men­tiere, dass wir eine Philoso­phie der Liebe für die Post­mod­erne entwick­eln müssen und zeige auf, wie das mit ein­er bib­lis­chen The­olo­gie wun­der­bar zusam­menge­ht. Für Fun­da­men­tal­is­ten sind in diesem Kapi­tel einige Über­raschun­gen bereit.

Im ganzen Kapi­tel geht es mir darum, deut­lich zu machen: Weltvernei­n­ung ist kein Zeichen von Recht­gläu­bigkeit, son­dern von Ein­seit­igkeit. Die Bibel enthält mit ihrem Ja zur Geschöpflichkeit und ihrem weit­en Heilsver­ständ­nis alles, um Glauben­sre­al­ität und Leben­sre­al­ität miteinan­der zu verbinden. Wie diese Verbindung zu denken ist, lässt sich am besten an der bib­lis­chen Lehre von Kön­i­gre­ich zeigen. Im näch­sten Beitrag werde ich mich ganz diesem grundle­gen­den The­ma widmen.


Bild: iStock


Unser Gespräch zum Buch:

Über den Kanal

Roland Hardmeier

Dr. theol. Roland Hardmeier wohnt und arbeitet in Riedikon bei Uster. Er war 15 Jahre lang Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz. Heute ist er als selbständiger Dozent, Referent und Autor tätig. Einblicke in seine Tätigkeit gibt seine Website www.roland-hardmeier.ch

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