Die moderne Bibelwissenschaft
In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evangelikale zwischen fundamentalistisch und postevangelikal“ befasse ich mich mit der religiösen Landschaft und der evangelikalen Binnenpluralisierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen dritten Weg zwischen einem biblizistischen Fundamentalismus und dem Post-Evangelikalismus auf.
In diesem Beitrag führe ich in Kapitel 3 „Postevangelikale Taktgeberin: Die moderne Bibelwissenschaft“ ein (Seiten 67–86).
Evangelikale lesen die Bibel im Vertrauen, dass sie Gottes Wort ist. In postevangelikalen Debatten kann beobachtet werden, dass sich ein Teil der Bewegung von diesen Wurzeln löst. Verlangt wird eine kritische Auseinandersetzung mit biblischen Texten, wie sie in der modernen Bibelwissenschaft üblich ist.
Diese Entwicklung stellt vor die Frage, wie es die evangelikale Bewegung in einer Zeit des Relativismus mit der Bibel hält. Wohin die Reise geht, ist ungewiss. Klar ist aber bereits jetzt: In den aktuellen Debatten um das Schriftverständnis werden die Weichen für die Zukunft der Bewegung gestellt.
Im falschen Zug
Unsere Art, die Bibel zu lesen, gleicht einer Zugfahrt. Ein Zug nimmt uns auf einer festgelegten Schiene in eine ganz bestimmte Richtung mit. Der deutsche Theologe Dietrich Bonhoeffer sagte mit Blick auf die Haltung der Deutschen Christen zum Nationalsozialismus:
Es nützt nichts, wenn man in einen falschen Zug einsteigt und dann im Gang entgegen der Fahrtrichtung läuft.
Bonhoeffers berühmtes Diktum lässt sich auf die Debatten über das Schriftverständnis anwenden, auch wenn es um ganz unterschiedliche Sachverhalte geht. Auf was lassen sich Postevangelikale ein, wenn sie eine kritische Auseinandersetzung mit der Bibel fordern? Wie verändert sich der Glaube, wenn der Zug Fahrt aufgenommen hat? Welche Glaubenslandschaften der Zug der Kritik befährt und wohin er führt, ist Gegenstand dieses Beitrags. Und natürlich geht es um die Frage, ob sich die Evangelikalen zu ihren postevangelikalen Freunden in diesen Zug setzen sollten oder nicht.
Zunächst einmal: Wenn man postevangelikale Debatten verstehen will, muss man die moderne Bibelwissenschaft verstehen. Wenn man die moderne Bibelwissenschaft verstehen will, muss man ein Stück europäische Geistesgeschichte kennen. Diese Geschichte führt zurück bis zur Reformation und noch weiter bis zur Renaissance im Spätmittelalter.
Im 3. Kapitel meines Buches zeichne ich ein Stück geistesgeschichtliche Entwicklung Europas nach. Ich beginne mit der Renaissance und zeige, wie sich bis zur Aufklärung des europäische intellektuelle Denken so veränderte, dass Platz wurde für systematischen Zweifel an der Bibel.
Eine Revolution in der Methodik
Hier greife ich eine Person aus dem Kapitel heraus, welche die Logik der modernen Bibelwissenschaft scharfsinnig auf den Punkt gebracht hat: Ernst Troeltsch (1865–1923).
Troeltsch war Professor für systematische Theologie in Heidelberg und ein scharfer Denker. In einem berühmten Aufsatz mit der Überschrift „Über historische und dogmatische Methode in der Theologie“ bringt Troeltsch die Grundsätze der modernen Bibelwissenschaft auf den Punkt. Es lohnt sich, seine phasenweise anspruchsvolle Argumentation näher anzusehen. Ich gebe sie im Folgenden in vereinfachter Form wieder.
Troeltsch unterscheidet zwei grundsätzliche Arten, die Bibel zu lesen voneinander. Er spricht von einer „historischen“ und einer „dogmatischen“ Methode: Die historische Methode ist die Methode der modernen Bibelwissenschaft, der er sich selbst verpflichtet weiss. Die Bibel wird nicht aus sich selbst heraus, sondern vom Standpunkt der allgemeinen Geschichte aus betrachtet. Die dogmatische Methode ist bei Troeltsch Bezeichnung für das traditionelle Schriftverständnis. Troeltsch möchte die beiden Methoden miteinander vergleichen und dabei die Vorzüge der modernen Arbeitsweise aufzeigen. Troeltsch benennt drei Leitprinzipien, nach denen gearbeitet werden soll:
Das erste Prinzip ist die historische „Kritik“. Die biblischen Berichte müssen einer kritischen Beurteilung unterworfen werden. Der biblische Text wird von der Vernunft in Zweifel gezogen. Kritik bedeutet für Troeltsch, „dass es auf historischem Gebiet nur Wahrscheinlichkeitsurteile gibt, von sehr verschiedenen Graden der Wahrscheinlichkeit, vom höchsten bis zum geringsten, und dass jeder Überlieferung gegenüber daher erst der Grad an Wahrscheinlichkeit abgemessen werden müsse, der ihr zukommt.“[1]
Troeltsch sagt: Eine historische Sichtweise erlaubt nur Wahrscheinlichkeitsurteile darüber, ob vergangener Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben. Zu Gewissheiten führen kann sie nicht. Man muss alles gründlich in Zweifel ziehen und fragen, welcher Grad an Wahrscheinlichkeit beispielsweise einem Wort von Jesus oder einer von ihm berichteten Tat zukommt: Hat Jesus die Bergpredigt wirklich gehalten? Hat er den Missionsbefehl erteilt? Ist es Jesus, der hier spricht, oder sind ihm die Worte in den Mund gelegt worden? Wie wahrscheinlich ist es, dass Jesus auf dem Wasser ging?
Troeltsch fragt weiter: Wie kann man den Grad der Wahrscheinlichkeit einer Sache ermitteln? Das geschieht zweitens durch das Prinzip der „Analogie“. Nach Troeltsch weisen alle historischen Ereignisse eine prinzipielle Gleichartigkeit (Analogie) auf. Für Ereignisse und Vorgänge, die wir heute beobachten können, gibt es einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit, dass sie auch vor zweitausend Jahren stattgefunden haben. Dinge, die es heute nicht gibt, haben mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit auch früher nicht stattgefunden.
Das Prinzip der Analogie ist also ein Erfahrungskriterium. Der Forscher schliesst von seiner heutigen Erfahrung analog auf damals. Troeltsch spricht in diesem Zusammenhang von der „Allmacht der Analogie“. Die Gleichartigkeit historischer Ereignisse erlaube es dem Forscher zu beurteilen, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Ereignis so stattgefunden hat, wie es in den Evangelien oder an anderer Stelle berichtet wird.
In der modernen Bibelwissenschaft wird im Blick auf die Evangelien davon ausgegangen, dass zwischen Ereignis (wie es ursprünglich geschah) und Bericht (in den Evangelien) Differenzen bestehen. Der kritische Forscher will den vermuteten Differenzen auf die Spur kommen. Er fragt zu diesem Zweck ganz im Sinne von Troeltsch: Wie wahrscheinlich ist es, dass Jesus predigend durch die jüdischen Lande zog und das Gottesreich ausrief? Wie wahrscheinlich ist es, dass Jesus sich als Messias verstand? Wie wahrscheinlich ist es, dass Jesus auf dem Wasser ging? Troeltschs Analogiekriterium würde in diesem Fall bedeuten: Weil es auch heute Leute gibt, die sich an Strassenecken aufstellen und predigen, ist es wahrscheinlich, dass Jesus das auch tat. Hingegen wird mir heute kaum jemand begegnen, der in Köln über den Rhein spaziert. Analog dazu ist es unwahrscheinlich, dass die Berichte der Evangelien vom Gang Jesu auf dem Wasser, ein historisches Ereignis wiedergeben.
Schliesslich fragt Troeltsch, was dazu berechtigt, durch analoge Schlüsse Wahrscheinlichkeitsurteile zu fällen. Das führt zum dritten Prinzip der „Korrelation“. Es besagt, dass alle historischen Begebenheiten in einer innerweltlichen Wechselwirkung (Korrelation) zueinanderstehen. Alles, was geschieht, steht in einem korrelativen Fluss mit anderen Dingen. Alles hängt miteinander zusammen, „so dass alles Geschehen in einem beständigen korrelativen Zusammenhange steht und notwendig einen Fluss bilden muss, indem Alles und Jedes zusammenhängt und jeder Vorgang in Relation zu anderen steht.“[2] Dass Gott in diesen korrelativen Fluss eingreift, schliesst Troeltsch im Sinn der Aufklärer aus.
Die moderne Bibelwissenschaft arbeitet grundsätzlich nach den kritischen Prinzipien von Troeltsch. Obwohl neue Ansätze der Auslegung entstanden sind und Troeltschs Kriterien nicht mehr so konsequent angewendet werden, behalten sie ihre prinzipielle Gültigkeit.
Troeltschs Ansatz ist die Vernunft, die Urteile über den Bibeltext fällt. Der Ansatz des evangelikalen Schriftverständnisses ist das Vertrauen in die Bibel als Gotteswort.
Mit dem Vertrauen und der Vernunft stehen sich zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten, die Bibel zu lesen, gegenüber. Diese beiden Möglichkeiten sind in den Sog progressiver Debatten geraten. Dadurch entsteht für manche der Eindruck, sie müssten sich zwischen einem naiven Bibelglauben und kritischer Wissenschaftlichkeit entscheiden. Diese Alternative ist falsch, wie ich in dem Kapitel ausführe. Wenn dich dieses Thema interessiert ist das Kapitel ein Muss!
Umsteigen
Glaubensfundamente brechen nicht einfach so weg. Man muss hingucken und genau sehen, wo die Bruchlinien sind. Diese befinden sich beim Schriftverständnis. Der postevangelikalen Relativierung des Glaubensbestands geht die Annäherung an die kritische Lesart der modernen Bibelwissenschaft voraus. Einige setzen sich bewusst in den Zug der Kritik und lassen evangelikale Deutungsmuster hinter sich. Hat der Zug der Kritik Fahrt aufgenommen, führt er auf unsicheres Terrain und gefährdet den Glauben an sich. Es nützt dann nichts, im Gang entgegen der Fahrtrichtung zu laufen, um einen Teil der Glaubenssubstanz doch noch zu retten. Zweihundert Jahre Erfahrung mit der modernen Bibelwissenschaft mit ihren liberalen Auswirkungen auf die Kirche im 19. und 20. Jahrhundert haben vor Augen geführt, dass nur eines hilft: Umsteigen.
[1] Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie, 731.
[2] Ebd., 733.
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Lieber Dominik,
Herzlichen Dank für deine ehrlichen Zeilen. Es ist genau diese authentische Art von theologischen Diskursen, die wir brauchen und uns weiterbringen. Ich kann von meiner eigenen Erfahrung sagen, als ich bestimmte fundamentalistische Deutungsmuster hinter mir liess: Wenn ich eine bestimmte Art, die Bibel zu lesen, innerlich nicht mehr mittragen kann, lasse ich offene Fragen einfach mal zu und übe mich in einem Grundvertrauen in die Bibel, so wie Jesus Grundvertrauen in das Alte Testament hatte. Vielleicht ist das, was du als Endstation empfindest nur ein Zwischenhalt? Und mit der Zeit werden unklare Dinge wieder klarer? Ich kann das für dich natürlich nicht beantworten. Wiederumsteigen könnte auch heissen: Ich nähere mich vorsichtig, mit kritischer Offenheit wieder einem vertrauensvollen Lesen der Schrift an und beobachte, was mit mir geschieht. Wünsche dir Weisheit und Klarheit auf deiner Glaubensreise!
Zu den abschliessenden Worten deines Artikels bezüglich der einzigen Möglichkeit “Umzusteigen” kommt mir da eine Frage auf: Wie gelingt es dann umzusteigen?
Als Reisender des postmodernen Zuges: Ich gebe dir Recht, dass die Bruchstelle vermutlich irgendwo beim Bibelverständnis liegt, auch bei mir. Aber dieser Bruch ist geschehen, weil ich an vielen unterschiedlichen Orten und Themen gemerkt habe, dass mein evangelikales Bibelverständnis nicht mehr getragen hat (die Reise in diesem Zug hat mich nicht weitergebracht: das war quasi eine Endstation, wo ich aussteigen musste).
Und wieso sollte ich zurück in diesen Zug, der an der Endstation angekommen ist? Oder, in welchen Zug sollte ich dann umsteigen, wenn der vorherige nicht mehr weiterfährt?
Das ist doch jetzt hier die spannende Anschlussfrage: Was für einen Weg seht ihr konkret, wie das “Wiederumsteigen” funktionieren kann?