Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist 3/10

Lesezeit: 5 Minuten
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by Roland Hardmeier | 01. Dez. 2024 | 2 comments

Die moderne Bibelwissenschaft

In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evan­ge­likale zwis­chen fun­da­men­tal­is­tisch und poste­van­ge­likal“ befasse ich mich mit der religiösen Land­schaft und der evan­ge­likalen Bin­nen­plu­ral­isierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen drit­ten Weg zwis­chen einem bib­lizis­tis­chen Fun­da­men­tal­is­mus und dem Post-Evan­ge­likalis­mus auf.

In diesem Beitrag führe ich in Kapi­tel 3 „Poste­van­ge­likale Tak­t­ge­berin: Die mod­erne Bibel­wis­senschaft“ ein (Seit­en 67–86).

Evan­ge­likale lesen die Bibel im Ver­trauen, dass sie Gottes Wort ist. In poste­van­ge­likalen Debat­ten kann beobachtet wer­den, dass sich ein Teil der Bewe­gung von diesen Wurzeln löst. Ver­langt wird eine kri­tis­che Auseinan­der­set­zung mit bib­lis­chen Tex­ten, wie sie in der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft üblich ist.

Diese Entwick­lung stellt vor die Frage, wie es die evan­ge­likale Bewe­gung in ein­er Zeit des Rel­a­tivis­mus mit der Bibel hält. Wohin die Reise geht, ist ungewiss. Klar ist aber bere­its jet­zt: In den aktuellen Debat­ten um das Schriftver­ständ­nis wer­den die Weichen für die Zukun­ft der Bewe­gung gestellt.

Im falschen Zug

Unsere Art, die Bibel zu lesen, gle­icht ein­er Zug­fahrt. Ein Zug nimmt uns auf ein­er fest­gelegten Schiene in eine ganz bes­timmte Rich­tung mit. Der deutsche The­ologe Diet­rich Bon­ho­ef­fer sagte mit Blick auf die Hal­tung der Deutschen Chris­ten zum Nationalsozialismus:

Es nützt nichts, wenn man in einen falschen Zug ein­steigt und dann im Gang ent­ge­gen der Fahrtrich­tung läuft.

Bon­ho­ef­fers berühmtes Dik­tum lässt sich auf die Debat­ten über das Schriftver­ständ­nis anwen­den, auch wenn es um ganz unter­schiedliche Sachver­halte geht. Auf was lassen sich Poste­van­ge­likale ein, wenn sie eine kri­tis­che Auseinan­der­set­zung mit der Bibel fordern? Wie verän­dert sich der Glaube, wenn der Zug Fahrt aufgenom­men hat? Welche Glaubens­land­schaften der Zug der Kri­tik befährt und wohin er führt, ist Gegen­stand dieses Beitrags. Und natür­lich geht es um die Frage, ob sich die Evan­ge­likalen zu ihren poste­van­ge­likalen Fre­un­den in diesen Zug set­zen soll­ten oder nicht.

Zunächst ein­mal: Wenn man poste­van­ge­likale Debat­ten ver­ste­hen will, muss man die mod­erne Bibel­wis­senschaft ver­ste­hen. Wenn man die mod­erne Bibel­wis­senschaft ver­ste­hen will, muss man ein Stück europäis­che Geis­tes­geschichte ken­nen. Diese Geschichte führt zurück bis zur Ref­or­ma­tion und noch weit­er bis zur Renais­sance im Spätmittelalter.

Im 3. Kapi­tel meines Buch­es zeichne ich ein Stück geis­tes­geschichtliche Entwick­lung Europas nach. Ich beginne mit der Renais­sance und zeige, wie sich bis zur Aufk­lärung des europäis­che intellek­tuelle Denken so verän­derte, dass Platz wurde für sys­tem­a­tis­chen Zweifel an der Bibel.

Eine Rev­o­lu­tion in der Methodik

Hier greife ich eine Per­son aus dem Kapi­tel her­aus, welche die Logik der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft scharf­sin­nig auf den Punkt gebracht hat: Ernst Troeltsch (1865–1923).

Troeltsch war Pro­fes­sor für sys­tem­a­tis­che The­olo­gie in Hei­del­berg und ein schar­fer Denker. In einem berühmten Auf­satz mit der Über­schrift „Über his­torische und dog­ma­tis­che Meth­ode in der The­olo­gie“ bringt Troeltsch die Grund­sätze der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft auf den Punkt. Es lohnt sich, seine phasen­weise anspruchsvolle Argu­men­ta­tion näher anzuse­hen. Ich gebe sie im Fol­gen­den in vere­in­fachter Form wieder.

Troeltsch unter­schei­det zwei grund­sät­zliche Arten, die Bibel zu lesen voneinan­der. Er spricht von ein­er „his­torischen“ und ein­er „dog­ma­tis­chen“ Meth­ode: Die his­torische Meth­ode ist die Meth­ode der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft, der er sich selb­st verpflichtet weiss. Die Bibel wird nicht aus sich selb­st her­aus, son­dern vom Stand­punkt der all­ge­meinen Geschichte aus betra­chtet. Die dog­ma­tis­che Meth­ode ist bei Troeltsch Beze­ich­nung für das tra­di­tionelle Schriftver­ständ­nis. Troeltsch möchte die bei­den Meth­o­d­en miteinan­der ver­gle­ichen und dabei die Vorzüge der mod­er­nen Arbeitsweise aufzeigen. Troeltsch benen­nt drei Leit­prinzip­i­en, nach denen gear­beit­et wer­den soll:

Das erste Prinzip ist die his­torische „Kri­tik“. Die bib­lis­chen Berichte müssen ein­er kri­tis­chen Beurteilung unter­wor­fen wer­den. Der bib­lis­che Text wird von der Ver­nun­ft in Zweifel gezo­gen. Kri­tik bedeutet für Troeltsch, „dass es auf his­torischem Gebi­et nur Wahrschein­lichkeit­surteile gibt, von sehr ver­schiede­nen Graden der Wahrschein­lichkeit, vom höch­sten bis zum ger­ing­sten, und dass jed­er Über­liefer­ung gegenüber daher erst der Grad an Wahrschein­lichkeit abgemessen wer­den müsse, der ihr zukommt.“[1]

Troeltsch sagt: Eine his­torische Sichtweise erlaubt nur Wahrschein­lichkeit­surteile darüber, ob ver­gan­gener Ereignisse tat­säch­lich stattge­fun­den haben. Zu Gewis­sheit­en führen kann sie nicht. Man muss alles gründlich in Zweifel ziehen und fra­gen, welch­er Grad an Wahrschein­lichkeit beispiel­sweise einem Wort von Jesus oder ein­er von ihm berichteten Tat zukommt: Hat Jesus die Berg­predigt wirk­lich gehal­ten? Hat er den Mis­sions­be­fehl erteilt? Ist es Jesus, der hier spricht, oder sind ihm die Worte in den Mund gelegt wor­den? Wie wahrschein­lich ist es, dass Jesus auf dem Wass­er ging?

Troeltsch fragt weit­er: Wie kann man den Grad der Wahrschein­lichkeit ein­er Sache ermit­teln? Das geschieht zweit­ens durch das Prinzip der „Analo­gie“. Nach Troeltsch weisen alle his­torischen Ereignisse eine prinzip­ielle Gle­ichar­tigkeit (Analo­gie) auf. Für Ereignisse und Vorgänge, die wir heute beobacht­en kön­nen, gibt es einen hohen Grad an Wahrschein­lichkeit, dass sie auch vor zweitausend Jahren stattge­fun­den haben. Dinge, die es heute nicht gibt, haben mit einem hohen Grad an Wahrschein­lichkeit auch früher nicht stattgefunden.

Das Prinzip der Analo­gie ist also ein Erfahrungskri­teri­um. Der Forsch­er schliesst von sein­er heuti­gen Erfahrung ana­log auf damals. Troeltsch spricht in diesem Zusam­men­hang von der „All­macht der Analo­gie“. Die Gle­ichar­tigkeit his­torisch­er Ereignisse erlaube es dem Forsch­er zu beurteilen, wie wahrschein­lich es ist, dass ein Ereig­nis so stattge­fun­den hat, wie es in den Evan­gelien oder an ander­er Stelle berichtet wird.

In der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft wird im Blick auf die Evan­gelien davon aus­ge­gan­gen, dass zwis­chen Ereig­nis (wie es ursprünglich geschah) und Bericht (in den Evan­gelien) Dif­feren­zen beste­hen. Der kri­tis­che Forsch­er will den ver­muteten Dif­feren­zen auf die Spur kom­men. Er fragt zu diesem Zweck ganz im Sinne von Troeltsch: Wie wahrschein­lich ist es, dass Jesus predi­gend durch die jüdis­chen Lande zog und das Gottes­re­ich aus­rief? Wie wahrschein­lich ist es, dass Jesus sich als Mes­sias ver­stand? Wie wahrschein­lich ist es, dass Jesus auf dem Wass­er ging? Troeltschs Analo­giekri­teri­um würde in diesem Fall bedeuten: Weil es auch heute Leute gibt, die sich an Strasse­neck­en auf­stellen und predi­gen, ist es wahrschein­lich, dass Jesus das auch tat. Hinge­gen wird mir heute kaum jemand begeg­nen, der in Köln über den Rhein spaziert. Ana­log dazu ist es unwahrschein­lich, dass die Berichte der Evan­gelien vom Gang Jesu auf dem Wass­er, ein his­torisches Ereig­nis wiedergeben.

Schliesslich fragt Troeltsch, was dazu berechtigt, durch analoge Schlüsse Wahrschein­lichkeit­surteile zu fällen. Das führt zum drit­ten Prinzip der „Kor­re­la­tion“. Es besagt, dass alle his­torischen Begeben­heit­en in ein­er inner­weltlichen Wech­sel­wirkung (Kor­re­la­tion) zueinan­der­ste­hen. Alles, was geschieht, ste­ht in einem kor­rel­a­tiv­en Fluss mit anderen Din­gen. Alles hängt miteinan­der zusam­men, „so dass alles Geschehen in einem beständi­gen kor­rel­a­tiv­en Zusam­men­hange ste­ht und notwendig einen Fluss bilden muss, indem Alles und Jedes zusam­men­hängt und jed­er Vor­gang in Rela­tion zu anderen ste­ht.“[2] Dass Gott in diesen kor­rel­a­tiv­en Fluss ein­greift, schliesst Troeltsch im Sinn der Aufk­lär­er aus.

Die mod­erne Bibel­wis­senschaft arbeit­et grund­sät­zlich nach den kri­tis­chen Prinzip­i­en von Troeltsch. Obwohl neue Ansätze der Ausle­gung ent­standen sind und Troeltschs Kri­te­rien nicht mehr so kon­se­quent angewen­det wer­den, behal­ten sie ihre prinzip­ielle Gültigkeit.

Troeltschs Ansatz ist die Ver­nun­ft, die Urteile über den Bibel­text fällt. Der Ansatz des evan­ge­likalen Schriftver­ständ­niss­es ist das Ver­trauen in die Bibel als Gotteswort.

Mit dem Ver­trauen und der Ver­nun­ft ste­hen sich zwei grund­sät­zlich ver­schiedene Möglichkeit­en, die Bibel zu lesen, gegenüber. Diese bei­den Möglichkeit­en sind in den Sog pro­gres­siv­er Debat­ten ger­at­en. Dadurch entste­ht für manche der Ein­druck, sie müssten sich zwis­chen einem naiv­en Bibel­glauben und kri­tis­ch­er Wis­senschaftlichkeit entschei­den. Diese Alter­na­tive ist falsch, wie ich in dem Kapi­tel aus­führe. Wenn dich dieses The­ma inter­essiert ist das Kapi­tel ein Muss!

Umsteigen

Glaubens­fun­da­mente brechen nicht ein­fach so weg.  Man muss hin­guck­en und genau sehen, wo die Bruch­lin­ien sind. Diese befind­en sich beim Schriftver­ständ­nis. Der poste­van­ge­likalen Rel­a­tivierung des Glaubens­be­stands geht die Annäherung an die kri­tis­che Lesart der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft voraus. Einige set­zen sich bewusst in den Zug der Kri­tik und lassen evan­ge­likale Deu­tungsmuster hin­ter sich. Hat der Zug der Kri­tik Fahrt aufgenom­men, führt er auf unsicheres Ter­rain und gefährdet den Glauben an sich. Es nützt dann nichts, im Gang ent­ge­gen der Fahrtrich­tung zu laufen, um einen Teil der Glaubenssub­stanz doch noch zu ret­ten. Zwei­hun­dert Jahre Erfahrung mit der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft mit ihren lib­eralen Auswirkun­gen auf die Kirche im 19. und 20. Jahrhun­dert haben vor Augen geführt, dass nur eines hil­ft: Umsteigen.


[1] Troeltsch, Über his­torische und dog­ma­tis­che Meth­ode in der The­olo­gie, 731.

[2] Ebd., 733.


Bild: iStock


Unser Gespräch zum Buch: 

Über den Kanal

Roland Hardmeier

Dr. theol. Roland Hardmeier wohnt und arbeitet in Riedikon bei Uster. Er war 15 Jahre lang Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz. Heute ist er als selbständiger Dozent, Referent und Autor tätig. Einblicke in seine Tätigkeit gibt seine Website www.roland-hardmeier.ch

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Kommentare zu diesen Beitrag

2 Comments

  1. Roland Hardmeier

    Lieber Dominik,

    Her­zlichen Dank für deine ehrlichen Zeilen. Es ist genau diese authen­tis­che Art von the­ol­o­gis­chen Diskursen, die wir brauchen und uns weit­er­brin­gen. Ich kann von mein­er eige­nen Erfahrung sagen, als ich bes­timmte fun­da­men­tal­is­tis­che Deu­tungsmuster hin­ter mir liess: Wenn ich eine bes­timmte Art, die Bibel zu lesen, inner­lich nicht mehr mit­tra­gen kann, lasse ich offene Fra­gen ein­fach mal zu und übe mich in einem Grund­ver­trauen in die Bibel, so wie Jesus Grund­ver­trauen in das Alte Tes­ta­ment hat­te. Vielle­icht ist das, was du als End­sta­tion empfind­est nur ein Zwis­chen­halt? Und mit der Zeit wer­den unklare Dinge wieder klar­er? Ich kann das für dich natür­lich nicht beant­worten. Wiederum­steigen kön­nte auch heis­sen: Ich nähere mich vor­sichtig, mit kri­tis­ch­er Offen­heit wieder einem ver­trauensvollen Lesen der Schrift an und beobachte, was mit mir geschieht. Wün­sche dir Weisheit und Klarheit auf dein­er Glaubensreise!

    Reply
  2. Dominik

    Zu den abschliessenden Worten deines Artikels bezüglich der einzi­gen Möglichkeit “Umzusteigen” kommt mir da eine Frage auf: Wie gelingt es dann umzusteigen?
    Als Reisender des post­mod­er­nen Zuges: Ich gebe dir Recht, dass die Bruch­stelle ver­mut­lich irgend­wo beim Bibelver­ständ­nis liegt, auch bei mir. Aber dieser Bruch ist geschehen, weil ich an vie­len unter­schiedlichen Orten und The­men gemerkt habe, dass mein evan­ge­likales Bibelver­ständ­nis nicht mehr getra­gen hat (die Reise in diesem Zug hat mich nicht weit­erge­bracht: das war qua­si eine End­sta­tion, wo ich aussteigen musste).
    Und wieso sollte ich zurück in diesen Zug, der an der End­sta­tion angekom­men ist? Oder, in welchen Zug sollte ich dann umsteigen, wenn der vorherige nicht mehr weiterfährt?
    Das ist doch jet­zt hier die span­nende Anschlussfrage: Was für einen Weg seht ihr konkret, wie das “Wiederum­steigen” funk­tion­ieren kann?

    Reply

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