Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist 2/10

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by Roland Hardmeier | 24. Nov. 2024 | 1 comment

Evangelikales Schriftverständnis

In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evan­ge­likale zwis­chen fun­da­men­tal­is­tisch und poste­van­ge­likal“ befasse ich mich mit der religiösen Land­schaft und der evan­ge­likalen Bin­nen­plu­ral­isierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen drit­ten Weg zwis­chen einem bib­lizis­tis­chen Fun­da­men­tal­is­mus und dem Post-Evan­ge­likalis­mus auf.

In diesem Beitrag führe ich in Kapi­tel 2 „Ver­trauensvoll wie Luther: Evan­ge­likales Schriftver­ständ­nis“ ein (Seit­en 45–66).

Die Bibel ist von grundle­gen­der Bedeu­tung für den christlichen Glauben. Was wir über Gott und die Welt, Jesus und die ersten Chris­ten glauben, wis­sen wir im Wesentlichen aus der Bibel. Es ist deshalb entschei­dend, wie wir die Bibel lesen und ver­ste­hen. Um das Ver­ste­hen und Inter­pretieren der Bibel geht es in Kapi­tel 2 meines Buch­es über das evan­ge­likale Schriftver­ständ­nis und im 3. Kapi­tel über die mod­erne Bibel­wis­senschaft, mit dem ich mich näch­ste Woche beschäfti­gen werde.

Ver­trauensvoll die Bibel lesen

Die Polar­isierung der Chris­ten­heit, die uns im let­zten Beitrag beschäftigte, hat das Poten­zial zu irri­tieren. Während die einen für kon­ser­v­a­tive Werte ein­ste­hen und sich von der Welt abwen­den, begrüssen andere den gesellschaftlichen Wan­del und umar­men den Zeit­geist. Obwohl alle dieselbe Bibel lesen, gibt es tiefe Gräben in der religiösen Land­schaft. Diese Irri­ta­tion schwächt sich ab, wenn man sich der Geschichte der Bibelausle­gung befasst.

Im Laufe der Jahrhun­derte haben sich ver­schiedene Arten der Bibelausle­gung her­aus­ge­bildet. Wenn man Epochen überblickt, ragt unter den vie­len Möglichkeit­en, sich der bib­lis­chen Botschaft anzunäh­ern, das ver­trauensvolle Lesen der Schrift her­aus. Die Kirchen­väter haben es prak­tiziert, die katholis­chen Dog­matik­er des Mit­te­lal­ters kan­nten es, die Refor­ma­toren haben es mit dem Grund­satz „Sola Scrip­tura“ in den Mit­telpunkt der The­olo­gie gerückt, im Pietismus wurde es der kirch­lichen Basis nahegebracht.

Die Evan­ge­likalen fühlen sich seit den Anfän­gen der Bewe­gung diesem Schriftver­ständ­nis zutief­st ver­bun­den. Sie lesen die Bibel im Ver­trauen, dass sich in den men­schlichen Worten der Bibel Gott selb­st zu Wort meldet. Die dynamis­che Entwick­lung der mod­er­nen evan­ge­likalen Bewe­gung im let­zten hal­ben Jahrhun­dert ist diesem Umstand zu verdanken.

Dieses pos­i­tive Bild ist erschüttert.

Der Umbruch von der Mod­erne zur Post­mod­erne hat Bewe­gung in das Schriftver­ständ­nis gebracht. Fra­gen an die Bibel, die The­olo­gen schon immer beschäftigt haben, wer­den mit neuer Dringlichkeit gestellt. Es wird nicht mit Kri­tik ges­part und an den Fun­da­menten des Glaubens gerüt­telt. Auch im Evan­ge­likalis­mus wer­den Zweifel an der Bibel laut. Hat die ver­trauensvolle Bibellek­türe unser­er Vorväter aus heutiger Sicht noch Bestand? Prak­tizieren wir vor­mod­erne Roman­tik, wenn wir uns vom Bibel­wort ansprechen lassen? Ist ein ver­trauensvolles Lesen der Bibel wis­senschaftlich haltbar?

Diese Fra­gen ver­lan­gen nach ein­er Antwort, wenn der Glaube lebendig sein will. Ein festes Glaubens­fun­da­ment ist auf nichts so sehr angewiesen wie auf ein ver­trauensvolles Lesen der Schrift.

Mar­tin Luther: Allein die Schrift

Die Refor­ma­toren haben die Bibel dur­chaus kri­tisch gele­sen. Sie haben ver­schiedene Texte miteinan­der ver­glichen und je nach dem einzel­nen bib­lis­chen Büch­ern mehr Gewicht zugeschrieben als andern. So machte Luther kein Geheim­nis daraus, dass er mit dem Jakobus­brief und der Offen­barung des Johannes nicht viel anz­u­fan­gen wusste. Den Römer­brief und das Johan­ne­se­van­geli­um hinge­gen schätzte Luther besonders.

Trotz­dem kon­nte Luther sagen, dass für ihn „allein die Schrift regiert“. Luther berief sich auf den Kirchen­vater Augusti­nus, der in einem Brief geschrieben hatte:

„Ich habe gel­ernt, allein diesen Büch­ern, welche die kanon­is­chen heis­sen, Ehre zu erweisen, so dass ich fest glaube, dass kein­er ihrer Schreiber sich geir­rt hat. Andere aber, wie viel sie auch immer nach Heiligkeit und Gelehrtheit ver­mö­gen, lese ich so, dass ich es nicht darum als wahr glaube, weil sie selb­st so denken, son­dern nur insofern sie mich durch die kanon­is­chen Schriften oder einen annehm­baren Grund überzeu­gen kon­nten.“[1]

Luther war kein Bibelkri­tik­er. Entschei­dend für ihn war das ver­trauensvolle Lesen der Schrift. Er war überzeugt, dass Gott nir­gends kräftiger redet als in der Heili­gen Schrift.

Evan­ge­likale: Voll Vertrauen

Das evan­ge­likale Schriftver­ständ­nis schliesst sich an das refor­ma­torische Schriftver­ständ­nis an. Es ken­nt den nagen­den Zweifel an der Ver­lässlichkeit der Bibel nicht, wie er in der Epoche der Mod­erne aufkam. Evan­ge­likale lesen die Bibel voll Ver­trauen wie einst Luther und gewin­nen daraus einen fes­ten Glauben, der die Kraft bietet, epochalen Umbrüchen standzuhal­ten. Helge Stadel­mann drückt es so aus:

„Evan­ge­likales Schriftver­ständ­nis ste­ht in ein­er lan­gen Tra­di­tion evan­ge­lis­chen Beken­nens. Evan­ge­likales Schriftver­ständ­nis ist vor Auflö­sungser­schei­n­un­gen und Uminter­pre­ta­tio­nen nicht geschützt. Bis heute hat das evan­ge­likale Beken­nt­nis aber immer wieder die Kraft gehabt das zu bezeu­gen, wofür eine gute evan­ge­lis­che Beken­nt­nistra­di­tion ste­ht: die uneingeschränk­te göt­tliche Inspi­ra­tion, Autorität und Wahrheit der Heili­gen Schrift.“[2]

Das ver­trauensvolle Lesen der Bibel wächst aus dem Glauben an die Inspi­ra­tion. In Übere­in­stim­mung mit den Refor­ma­toren gehen Evan­ge­likale davon aus, dass der Heilige Geist die Ver­fass­er der Bibel inspiri­erte (2 Tim­o­theus 3,16) und dass der­selbe Geist den Bibelleser erleuchtet, um das Wort zu ver­ste­hen (Eph­eser 1,18). Sie glauben, dass Gott sich in der Nieder­schrift der Bibel Men­schen bedi­ente und dass sich in diesen Akten das Geheim­nis der Inspi­ra­tion ereignete. Men­schen haben aus ihrer Per­spek­tive geschrieben und Gott hat sie geleit­et, so dass Gott im Men­schen­wort spricht.

Aus dem Gedanken, dass Gott die Ver­fass­er der bib­lis­chen Schriften inspiri­erte, wächst für Evan­ge­likale die Überzeu­gung, dass die Bibel unfehlbar mit dem Willen Gottes bekan­nt­macht. Im Buch gehe ich näher auf die entsprechen­den Unter­schiede zum Fun­da­men­tal­is­mus ein, wo von der völ­li­gen Irrtum­slosigkeit der Bibel die Rede ist.

Erfolg gibt es nicht zum Nulltarif

Viele Evan­ge­likale disku­tieren Zweifel an der Bibel heute offen­er als früher. Das ist zu begrüssen, denn Zweifel wer­den nicht durch Denkver­bote über­wun­den. Es ist aber auch ein Anze­ichen von Unsicher­heit. Wie stark ist die evan­ge­likale Bewe­gung noch in der Bibel ver­wurzelt? Welche Bedeu­tung hat diese Verwurzelung?

Die Evan­ge­likalen kön­nen auf erstaunliche Erfolge in der zweit­en Hälfte des 20. Jahrhun­derts zurück­blick­en.[3] Damals kam die Mod­erne zu ihrem spür­baren Ende. Post­mod­erne Frei­heit­en set­zten sich über­all durch. Die sex­uelle Rev­o­lu­tion verän­derte von den 1970 Jahren an das Lebens­ge­fühl viel­er Menschen.

Die Evan­ge­likalen ver­weigerten sich dieser Entwick­lung und hiel­ten an ihrer kon­ser­v­a­tiv­en Ethik fest. Lib­erale Kirchen zeigten sich überzeugt, dass die Chris­ten­heit nur Zukun­ft hat, wenn sie sich für die mod­erne Welt öffnet, nach Tol­er­anz strebt und den Dia­log mit den Reli­gio­nen sucht.

Die Evan­ge­likalen set­zten stattdessen Mis­sion und Evan­ge­li­sa­tion zuoberst auf ihre Agen­da. Die kri­tis­che Beschäf­ti­gung mit der Bibel hat­te sich in dieser Zeit an den the­ol­o­gis­chen Fakultäten durchge­set­zt. Die Evan­ge­likalen wider­sprachen der wis­senschaftlichen The­olo­gie und grün­de­ten eigene Aus­bil­dungsstät­ten, die sich von der Bibelkri­tik dis­tanzierten. Für viele Beobachter waren die Evan­ge­likalen die Ewiggestri­gen, die an den Her­aus­forderun­gen der Zeit scheit­ern mussten.

Es kam anders.

Keine andere religiöse Gruppe ist im let­zten hal­ben Jahrhun­dert dynamis­ch­er gewach­sen als die Evan­ge­likalen. Sie schafften es, den Glauben in eine kul­turell rel­e­vante Gestalt zu über­set­zen. Es gelang ihnen, sich vom Fun­da­men­tal­is­mus zu lösen und eine pos­i­tive Art von Chris­ten­tum mit Lei­den­schaft und Vision zu entwer­fen, die der Welt etwas zu geben hat.

Was machte diesen Erfolg möglich?

Das dynamis­che Miteinan­der von kon­ser­v­a­tiv­en Stand­punk­ten und gesellschaftlich­er Aufgeschlossen­heit war ein Schlüs­sel. Diese Dynamik gab es nicht zum Null­tarif, sie grün­dete im Schriftverständnis:

Ohne den Glauben, dass die Bibel das inspiri­erte Wort Gottes ist, das Ori­en­tierung im Glauben bietet und das Mit­tel ist, durch das Gott spricht, wäre der Erfolg der Evan­ge­likalen im 20. Jahrhun­dert nicht möglich gewesen.

Die evan­ge­likale Bewe­gung ist immer dann stark gewe­sen, wenn sie sich als Bibel­be­we­gung ver­stand. Die Evan­ge­likalen haben das 20. Jahrhun­dert erfol­gre­ich gemeis­tert, weil sich gesellschaftliche Aufgeschlossen­heit mit einem starken Bezug zur Bibel ver­band. An welchen Glauben­süberzeu­gun­gen festzuhal­ten ist, wie das Leben als Christ gestal­tet wird, welche Vision die Kirche mit Lei­den­schaft und Überzeu­gung erfüllt, das alles haben die Evan­ge­likalen aus der Bibel gewonnen.

Poste­van­ge­likale Vor­denker lösen sich von diesen Wurzeln und näh­ern sich der kri­tis­chen Lesart der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft an. Welche Denkvo­raus­set­zun­gen und welche Geschichte hin­ter diesem Schritt steck­en und welche Auswirkun­gen diese Annäherung hat, wird The­ma meines näch­sten Beitrags sein.


[1] Luther, Asser­tio 1520, WA 7,98–99.

[2] Stadel­mann, Evan­ge­likales Schriftver­ständ­nis, 24.

[3] Vgl. für das Fol­gende, Dietz, Men­schen mit Mis­sion, 93ff.


Bild: iStock

Über den Kanal

Roland Hardmeier

Dr. theol. Roland Hardmeier wohnt und arbeitet in Riedikon bei Uster. Er war 15 Jahre lang Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz. Heute ist er als selbständiger Dozent, Referent und Autor tätig. Einblicke in seine Tätigkeit gibt seine Website www.roland-hardmeier.ch

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Kommentare zu diesen Beitrag

1 Comment

  1. Wolfgang Ackerknecht

    Das Bewährte set­zt sich durch: Es mag zum erle­ichterten Ver­ständ­nis wohl neue Bibelüber­set­zun­gen geben, aber Gottes Wort berührt die Men­schen ganz ver­schieden, zu ver­schiede­nen Zeit­en und an ver­schiede­nen Orten ihres Lebens. Bibel­texte erhal­ten so sel­ber diverse Ausle­gun­gen. Rat­sam ist weit­er­hin, einzelne Verse nicht aus dem Gesamtzusam­men­hang her­aus auf ungute Weise zu ‘miss­brauchen’. Und let­ztlich bleibt eine zen­trale Aus­sage, dass Jesus selb­st das Wort ist! Und er ist der, der da war, der da ist und der da kommt. Jesus — die Liebes­botschaft schlechthin — und somit das Bibel­wort wird sich nicht ver­biegen lassen…

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