Evangelikales Schriftverständnis
In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evangelikale zwischen fundamentalistisch und postevangelikal“ befasse ich mich mit der religiösen Landschaft und der evangelikalen Binnenpluralisierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen dritten Weg zwischen einem biblizistischen Fundamentalismus und dem Post-Evangelikalismus auf.
In diesem Beitrag führe ich in Kapitel 2 „Vertrauensvoll wie Luther: Evangelikales Schriftverständnis“ ein (Seiten 45–66).
Die Bibel ist von grundlegender Bedeutung für den christlichen Glauben. Was wir über Gott und die Welt, Jesus und die ersten Christen glauben, wissen wir im Wesentlichen aus der Bibel. Es ist deshalb entscheidend, wie wir die Bibel lesen und verstehen. Um das Verstehen und Interpretieren der Bibel geht es in Kapitel 2 meines Buches über das evangelikale Schriftverständnis und im 3. Kapitel über die moderne Bibelwissenschaft, mit dem ich mich nächste Woche beschäftigen werde.
Vertrauensvoll die Bibel lesen
Die Polarisierung der Christenheit, die uns im letzten Beitrag beschäftigte, hat das Potenzial zu irritieren. Während die einen für konservative Werte einstehen und sich von der Welt abwenden, begrüssen andere den gesellschaftlichen Wandel und umarmen den Zeitgeist. Obwohl alle dieselbe Bibel lesen, gibt es tiefe Gräben in der religiösen Landschaft. Diese Irritation schwächt sich ab, wenn man sich der Geschichte der Bibelauslegung befasst.
Im Laufe der Jahrhunderte haben sich verschiedene Arten der Bibelauslegung herausgebildet. Wenn man Epochen überblickt, ragt unter den vielen Möglichkeiten, sich der biblischen Botschaft anzunähern, das vertrauensvolle Lesen der Schrift heraus. Die Kirchenväter haben es praktiziert, die katholischen Dogmatiker des Mittelalters kannten es, die Reformatoren haben es mit dem Grundsatz „Sola Scriptura“ in den Mittelpunkt der Theologie gerückt, im Pietismus wurde es der kirchlichen Basis nahegebracht.
Die Evangelikalen fühlen sich seit den Anfängen der Bewegung diesem Schriftverständnis zutiefst verbunden. Sie lesen die Bibel im Vertrauen, dass sich in den menschlichen Worten der Bibel Gott selbst zu Wort meldet. Die dynamische Entwicklung der modernen evangelikalen Bewegung im letzten halben Jahrhundert ist diesem Umstand zu verdanken.
Dieses positive Bild ist erschüttert.
Der Umbruch von der Moderne zur Postmoderne hat Bewegung in das Schriftverständnis gebracht. Fragen an die Bibel, die Theologen schon immer beschäftigt haben, werden mit neuer Dringlichkeit gestellt. Es wird nicht mit Kritik gespart und an den Fundamenten des Glaubens gerüttelt. Auch im Evangelikalismus werden Zweifel an der Bibel laut. Hat die vertrauensvolle Bibellektüre unserer Vorväter aus heutiger Sicht noch Bestand? Praktizieren wir vormoderne Romantik, wenn wir uns vom Bibelwort ansprechen lassen? Ist ein vertrauensvolles Lesen der Bibel wissenschaftlich haltbar?
Diese Fragen verlangen nach einer Antwort, wenn der Glaube lebendig sein will. Ein festes Glaubensfundament ist auf nichts so sehr angewiesen wie auf ein vertrauensvolles Lesen der Schrift.
Martin Luther: Allein die Schrift
Die Reformatoren haben die Bibel durchaus kritisch gelesen. Sie haben verschiedene Texte miteinander verglichen und je nach dem einzelnen biblischen Büchern mehr Gewicht zugeschrieben als andern. So machte Luther kein Geheimnis daraus, dass er mit dem Jakobusbrief und der Offenbarung des Johannes nicht viel anzufangen wusste. Den Römerbrief und das Johannesevangelium hingegen schätzte Luther besonders.
Trotzdem konnte Luther sagen, dass für ihn „allein die Schrift regiert“. Luther berief sich auf den Kirchenvater Augustinus, der in einem Brief geschrieben hatte:
„Ich habe gelernt, allein diesen Büchern, welche die kanonischen heissen, Ehre zu erweisen, so dass ich fest glaube, dass keiner ihrer Schreiber sich geirrt hat. Andere aber, wie viel sie auch immer nach Heiligkeit und Gelehrtheit vermögen, lese ich so, dass ich es nicht darum als wahr glaube, weil sie selbst so denken, sondern nur insofern sie mich durch die kanonischen Schriften oder einen annehmbaren Grund überzeugen konnten.“[1]
Luther war kein Bibelkritiker. Entscheidend für ihn war das vertrauensvolle Lesen der Schrift. Er war überzeugt, dass Gott nirgends kräftiger redet als in der Heiligen Schrift.
Evangelikale: Voll Vertrauen
Das evangelikale Schriftverständnis schliesst sich an das reformatorische Schriftverständnis an. Es kennt den nagenden Zweifel an der Verlässlichkeit der Bibel nicht, wie er in der Epoche der Moderne aufkam. Evangelikale lesen die Bibel voll Vertrauen wie einst Luther und gewinnen daraus einen festen Glauben, der die Kraft bietet, epochalen Umbrüchen standzuhalten. Helge Stadelmann drückt es so aus:
„Evangelikales Schriftverständnis steht in einer langen Tradition evangelischen Bekennens. Evangelikales Schriftverständnis ist vor Auflösungserscheinungen und Uminterpretationen nicht geschützt. Bis heute hat das evangelikale Bekenntnis aber immer wieder die Kraft gehabt das zu bezeugen, wofür eine gute evangelische Bekenntnistradition steht: die uneingeschränkte göttliche Inspiration, Autorität und Wahrheit der Heiligen Schrift.“[2]
Das vertrauensvolle Lesen der Bibel wächst aus dem Glauben an die Inspiration. In Übereinstimmung mit den Reformatoren gehen Evangelikale davon aus, dass der Heilige Geist die Verfasser der Bibel inspirierte (2 Timotheus 3,16) und dass derselbe Geist den Bibelleser erleuchtet, um das Wort zu verstehen (Epheser 1,18). Sie glauben, dass Gott sich in der Niederschrift der Bibel Menschen bediente und dass sich in diesen Akten das Geheimnis der Inspiration ereignete. Menschen haben aus ihrer Perspektive geschrieben und Gott hat sie geleitet, so dass Gott im Menschenwort spricht.
Aus dem Gedanken, dass Gott die Verfasser der biblischen Schriften inspirierte, wächst für Evangelikale die Überzeugung, dass die Bibel unfehlbar mit dem Willen Gottes bekanntmacht. Im Buch gehe ich näher auf die entsprechenden Unterschiede zum Fundamentalismus ein, wo von der völligen Irrtumslosigkeit der Bibel die Rede ist.
Erfolg gibt es nicht zum Nulltarif
Viele Evangelikale diskutieren Zweifel an der Bibel heute offener als früher. Das ist zu begrüssen, denn Zweifel werden nicht durch Denkverbote überwunden. Es ist aber auch ein Anzeichen von Unsicherheit. Wie stark ist die evangelikale Bewegung noch in der Bibel verwurzelt? Welche Bedeutung hat diese Verwurzelung?
Die Evangelikalen können auf erstaunliche Erfolge in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückblicken.[3] Damals kam die Moderne zu ihrem spürbaren Ende. Postmoderne Freiheiten setzten sich überall durch. Die sexuelle Revolution veränderte von den 1970 Jahren an das Lebensgefühl vieler Menschen.
Die Evangelikalen verweigerten sich dieser Entwicklung und hielten an ihrer konservativen Ethik fest. Liberale Kirchen zeigten sich überzeugt, dass die Christenheit nur Zukunft hat, wenn sie sich für die moderne Welt öffnet, nach Toleranz strebt und den Dialog mit den Religionen sucht.
Die Evangelikalen setzten stattdessen Mission und Evangelisation zuoberst auf ihre Agenda. Die kritische Beschäftigung mit der Bibel hatte sich in dieser Zeit an den theologischen Fakultäten durchgesetzt. Die Evangelikalen widersprachen der wissenschaftlichen Theologie und gründeten eigene Ausbildungsstätten, die sich von der Bibelkritik distanzierten. Für viele Beobachter waren die Evangelikalen die Ewiggestrigen, die an den Herausforderungen der Zeit scheitern mussten.
Es kam anders.
Keine andere religiöse Gruppe ist im letzten halben Jahrhundert dynamischer gewachsen als die Evangelikalen. Sie schafften es, den Glauben in eine kulturell relevante Gestalt zu übersetzen. Es gelang ihnen, sich vom Fundamentalismus zu lösen und eine positive Art von Christentum mit Leidenschaft und Vision zu entwerfen, die der Welt etwas zu geben hat.
Was machte diesen Erfolg möglich?
Das dynamische Miteinander von konservativen Standpunkten und gesellschaftlicher Aufgeschlossenheit war ein Schlüssel. Diese Dynamik gab es nicht zum Nulltarif, sie gründete im Schriftverständnis:
Ohne den Glauben, dass die Bibel das inspirierte Wort Gottes ist, das Orientierung im Glauben bietet und das Mittel ist, durch das Gott spricht, wäre der Erfolg der Evangelikalen im 20. Jahrhundert nicht möglich gewesen.
Die evangelikale Bewegung ist immer dann stark gewesen, wenn sie sich als Bibelbewegung verstand. Die Evangelikalen haben das 20. Jahrhundert erfolgreich gemeistert, weil sich gesellschaftliche Aufgeschlossenheit mit einem starken Bezug zur Bibel verband. An welchen Glaubensüberzeugungen festzuhalten ist, wie das Leben als Christ gestaltet wird, welche Vision die Kirche mit Leidenschaft und Überzeugung erfüllt, das alles haben die Evangelikalen aus der Bibel gewonnen.
Postevangelikale Vordenker lösen sich von diesen Wurzeln und nähern sich der kritischen Lesart der modernen Bibelwissenschaft an. Welche Denkvoraussetzungen und welche Geschichte hinter diesem Schritt stecken und welche Auswirkungen diese Annäherung hat, wird Thema meines nächsten Beitrags sein.
[1] Luther, Assertio 1520, WA 7,98–99.
[2] Stadelmann, Evangelikales Schriftverständnis, 24.
[3] Vgl. für das Folgende, Dietz, Menschen mit Mission, 93ff.
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Das Bewährte setzt sich durch: Es mag zum erleichterten Verständnis wohl neue Bibelübersetzungen geben, aber Gottes Wort berührt die Menschen ganz verschieden, zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten ihres Lebens. Bibeltexte erhalten so selber diverse Auslegungen. Ratsam ist weiterhin, einzelne Verse nicht aus dem Gesamtzusammenhang heraus auf ungute Weise zu ‘missbrauchen’. Und letztlich bleibt eine zentrale Aussage, dass Jesus selbst das Wort ist! Und er ist der, der da war, der da ist und der da kommt. Jesus — die Liebesbotschaft schlechthin — und somit das Bibelwort wird sich nicht verbiegen lassen…