«Egal was du mir gibst, und auch wenn du mir nimmst» singt der Ukrainische Chor im Saal meiner Kirche. Ukrainische Zufluchtssuchende feiern seit etlichen Monaten ihren Gottesdienst bei uns und zeigen mir neue Wege, mit dem Leid umzugehen.
Menschen, die unaussprechliches und grosses Leid erleben, stellen manchmal die Frage: Warum lässt Gott das zu? Ich werde die Beerdigung von Salome aus meiner Gemeinde nie vergessen, dem einzigen Kind von Simone und Fritz, das mit 17 innert weniger Monate an einem aggressiven Krebs gestorben ist. Ebenso wenig gehen mir die Bilder aus dem Kopf, als ich die Not im Gesicht der Familie eines jungen Mannes unserer Kirche sah. Vergangenen Januar ist er bei einem Surf — Unglück in Mexiko ums Leben gekommen, weit weg von allen.
Dies sind nur zwei Beispiele real erlebten Leides. Gleichzeitig erlebe ich in unserer Zeit eine europäische Kultur, in der es manchmal richtig trendy scheint, die Frage nach dem Leid (die Theodizee Frage) vielleicht etwas vorschnell als Anlass zu nehmen, die Verlässlichkeit und Treue des Gottes der Bibel als fragwürdig zu taxieren. Dies hat bei mir Fragen aufgeworfen.
Ich lese zum Beispiel von bekannten christlichen Influencern. Einige erzählen, dass sie Ausschwitz besucht haben, andere, dass sie sich einfach näher mit diesem Ort des Grauens befasst haben. Wegen Ausschwitz würden sie sich nun fragen, ob Gott wirklich gut sein könne. In Auschwitz sind sie Touristen. Bei ihren Online Recherchen sitzen sie bei Kaffee und Gipfeli auf dem Sofa. Sie bleiben gut eingebettet im Sicherheitsnetz der westlichen Kultur mit besten Spitälern und historisch gesehen, beachtlicher politischer Stabilität.
Ich will diesen christlichen Influencern nicht Unrecht tun, denn ich weiss nicht alles über sie. Vielleicht haben sie persönlich grosses Leid erlebt und Ausschwitz ist der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Trotzdem heftet sich diese Frage an meine Gedanken: Warum braucht es manchmal scheinbar derart wenig, dass Menschen, die sich Christen nennen, an Gottes Güte zweifeln? Überträgt sich die kritische Atmosphäre unserer Zeit gegenüber Gott derart auf unsere Kirchen, dass schon ein Ferien-Besuch den Glauben grundlegend ins Wanken bringen kann? Haben sich Christen unserer Zeit für theologische Meinungen geöffnet, die sie ermutigen, Gott schnell zu misstrauen? Wo sind die christlichen Influencer, die im Leid tiefen Glauben erfahren und zeigen?
Denn immerhin: Die Lobgesänge über Gottes Güte in der Bibel wurden in einer Zeit geschrieben und gesungen, als es noch keine Narkose gab. Die Wahrscheinlichkeit, dass Frau und Kind bei der Geburt starben, war damals unvergleichlich höher als in unserer Zeit. Die Männer starben oft im Krieg. Man konnte schon bei kleinen Verletzungen eine tödliche Infektion einfangen, die heute schnell zu heilen ist. Angesichts des Leidens brachten sie ihre Klagen zu Gott und drangen aber auch immer wieder zum Lob der Güte Gottes hindurch.
Paulus und Silas haben im Gefängnis gesungen (Apg 16:25–26). Der Prophet Habakkuk lobt Gott trotz ausbleibender Ernte (Hab 3:17–19). Jakobus sieht in schweren Anfechtungen Grund zur Freude (Jak 1:2–4). Der Prophet Jeremia findet trotz Verfolgung und Elend Grund, Gott zu rühmen (Jer 17:14). In diversen Psalmen finden wir das Lob Gottes als göttliches ‘Gegenmittel’ in menschlicher Not. Ein Beispiel dafür ist der Psalm 34, wo der Psalmist Gott ‘immerdar’ lobt und die Elenden darüber wieder Freude finden:
Ich will den HERRN loben allezeit; sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein. Meine Seele soll sich rühmen des HERRN, dass es die Elenden hören und sich freuen. Preiset mit mir den HERRN und lasst uns miteinander seinen Namen erhöhen! (Psalm 34:2–4)
Es gibt sie auch heute, die Influencer, die angesichts schwerer persönlicher Schicksale Gott loben. Medial ist der Glaube der deutschen Youtuber Mickenbecker (‘The Real Life Guys’) ein ermutigendes Erlebnis. Einige Jahre, nachdem die Schwester tödlich verunglückt, stirbt auch Philipp mit 23 an Krebs. Doch er stirbt mit «krasser Hoffnung». Sein zurückgeblieben Bruder bekennt: «Jesus hat gestern seine Hand über uns gehalten.»
Eine grosse Ermutigung sind die Ukrainischen Gläubigen, die in den letzten Monaten bei uns untergekommen sind. Mein Bruder und ich durften mithelfen, für über 1000 von ihnen eine Unterkunft in den Kirchgemeinden der Schweiz zu organisieren. Wir sind so stolz auf die kirchliche Reaktion auf den Krieg! Einige der gläubigen Ukrainer aus unserer Gegend haben angefangen, bei uns in der Kirche eigene Gottesdienste durchzuführen. Ich fühlte mich sofort unwiderstehlich hingezogen, als ich die Lieder hörte, die sie singen: «Egal was du mir gibst, und auch wenn du mir nimmst, du bist und bleibst mein Gott. Nur dir gehört mein Lob!» Diese Lieder kommen aus dem Mund derer, die erst gerade die Bomben in der Nachbarschaft explodieren hörten und Familie und Freunde im Kriegsgebiet haben!
Eine der bei uns eingetroffenen Frauen hat einen Bruder, der in Kriegsgefangenschaft im berüchtigten Gefängnis in Oleniwka ist. Wir haben in den vergangenen Monaten Trauerfeiern für im Krieg verstorbene Angehörige abgehalten. Und wir haben Trauerfeiern für Menschen gehalten, welche nicht in ihrer Heimat, sondern in der für sie fernen und fremden Schweiz verstorben sind. Der Pastor unseres Ukrainer-Gottesdienstes hat die Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung in Butscha miterlebt. Als 50 russische Panzer an seinem Haus vorbeiziehen, entschliesst er sich für die Flucht mit seiner Familie. Am selben Tag flieht eine befreundete Familie, dessen Sohn mit ihrem Sohn in die Schule geht. Diese Familie wird auf offener Strasse erschossen. Der Pastor und seine Familie bleiben verschont.
Ukrainische Christen, die solches Leid konkret erleben, haben viele Fragen und durchaus auch Wut und Zorn im Bauch. Aber sie preisen Gottes Güte, oft mit Tränen in den Augen. Ihre Lobgesänge verbreiten eine andere Atmosphäre. Eine Atmosphäre, die Gott nicht schnell den Rücken kehrt, sondern es wagt, ihm auch inmitten der schlimmen Ereignisse zu vertrauen.
Ich wünschte, meine Leser könnten diese Gesänge einmal selbst miterleben! Ich sehne mich danach, dass die Kirchen Westeuropas dieser Atmosphäre der ukrainischen Gläubigen und von Menschen, wie den Mickenbeckers, Raum geben! Dies würde eine Ermutigung für uns alle, wenn wir durch unsere eigenen Schicksalsschläge gehen.
Lieber Paul, vielen Dank für deinen wertvollen Artikel. Diese Fragen stelle ich mir derzeit. Die Beiträge auf Instagram von Helena Neudorf #zerbrocheneinduft zu diesem Thema haben mich sensibilisiert und ermutigt.
Ich danke euch für eure wertvollen Artikel und freue mich, sobald einer “erscheint”.
Liebe Renate, herzlichen Dank!
Danke für deine Perspektive und die berührenden Geschichten von Glaube und Hoffnung angesichts von schwerem Leid. Ohne den unangebrachten Teil zu Auschwitz wäre das ein wirklich starker und erbaulicher Text. Dieser Auschwitz-Teil ist aber echt schwierig und geht mir zu nahe, um das so stehenzulassen. Die falsche Schreibweise ist ja das eine, aber gerade bei “derart wenig” und “Ferienbesuch” bin ich schon ordentlich zusammengezuckt. War sicher nicht böse gemeint, offenbart aber auch nicht gerade Verständnis davon, was Auschwitz ist. Selbsterklärenderweise sind Sicherheitsbedenken, wie du richtig feststellst, beim Besuch in Auschwitz nicht der springende Punkt. Umso mehr kann ich einen eigenen Besuch ans Herz legen. Bringt glaube ich mehr, als jetzt erörtern zu wollen, warum diese Wortwahl nicht passend und allgemein die Polemik so nicht angebracht ist. Ich kann dir versichern, die Erfahrung ist mehr als nur ein ‘letzter Tropfen’. Sie reicht mit dem Versuch von Empathie aus, um die Theodizeefrage existenziell werden zu lassen, insbesondere, wenn man vorher schon Erfahrungen mit dem Tod gemacht hat. Und trendy… Nein.
Danke Micha für deine persönliche und offene Reaktion. Ich hatte erwartet, dass dieses Statement kommt. Ich lasse was du sagst gerne mal so stehen ohne zu kommentieren. Vielleicht wollen andere etwas sagen zu dem, was Micha sagt respektive ich im Artikel?
Ich seh´s wie Micha. Für viele Menschen meiner Generation sind die Gedenkstätten Auschwitz, Bergen Belsen, die Austellung zum Thema Anne Frank die ersten Berührungspunkte mit Leid “von aussen” bzw. mit dem Schrecken des Krieges. Wir sind verwöhnt, da geb ich dir Recht. Aber gleichzeitig muss ja irgendwo die Auseinandersetzung mit diesem extremen Leid beginnen. Dazu gehört auch die Frage, warum Gott das zulässt und die Zweifel. Ich bete dafür, dass diese Zweifel zu Mitgefühl, tiefer Trauer und gleichzeitig großer Dankbarkeit für das eigene Leben werden. Aber den Platz dafür, den möchte ich schon haben und auch meinen Mitmenschen geben.
Danke Milan — sehr gut formuliert 🙏
Danke für den Text mit den mutmachenden Beispielen aus Geschichte und Gegenwart.
Vielen Dank Heinz 🙏