Ukrainische Christen fordern uns heraus

Lesezeit: 4 Minuten
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by Paul Bruderer | 02. Sep. 2022 | 8 comments

«Egal was du mir gib­st, und auch wenn du mir nimmst» singt der Ukrainis­che Chor im Saal mein­er Kirche. Ukrainis­che Zufluchtssuchende feiern seit etlichen Monat­en ihren Gottes­di­enst bei uns und zeigen mir neue Wege, mit dem Leid umzugehen.

Men­schen, die unaussprech­lich­es und gross­es Leid erleben, stellen manch­mal die Frage: Warum lässt Gott das zu?  Ich werde die Beerdi­gung von Salome aus mein­er Gemeinde nie vergessen, dem einzi­gen Kind von Simone und Fritz, das mit 17 innert weniger Monate an einem aggres­siv­en Krebs gestor­ben ist. Eben­so wenig gehen mir die Bilder aus dem Kopf, als ich die Not im Gesicht der Fam­i­lie eines jun­gen Mannes unser­er Kirche sah. Ver­gan­genen Jan­u­ar ist er bei einem Surf — Unglück in Mexiko ums Leben gekom­men, weit weg von allen.

Dies sind nur zwei Beispiele real erlebten Lei­des. Gle­ichzeit­ig erlebe ich in unser­er Zeit eine europäis­che Kul­tur, in der es manch­mal richtig trendy scheint, die Frage nach dem Leid (die Theodizee Frage) vielle­icht etwas vorschnell als Anlass zu nehmen, die Ver­lässlichkeit und Treue des Gottes der Bibel als frag­würdig zu tax­ieren. Dies hat bei mir Fra­gen aufgeworfen.

Ich lese zum Beispiel von bekan­nten christlichen Influ­encern. Einige erzählen, dass sie Auss­chwitz besucht haben, andere, dass sie sich ein­fach näher mit diesem Ort des Grauens befasst haben. Wegen Auss­chwitz wür­den sie sich nun fra­gen, ob Gott wirk­lich gut sein könne. In Auschwitz sind sie Touris­ten. Bei ihren Online Recherchen sitzen sie bei Kaf­fee und Gipfe­li auf dem Sofa. Sie bleiben gut einge­bet­tet im Sicher­heit­snetz der west­lichen Kul­tur mit besten Spitälern und his­torisch gese­hen, beachtlich­er poli­tis­ch­er Stabilität.

Ich will diesen christlichen Influ­encern nicht Unrecht tun, denn ich weiss nicht alles über sie. Vielle­icht haben sie per­sön­lich gross­es Leid erlebt und Auss­chwitz ist der let­zte Tropfen, der das Fass zum Über­laufen gebracht hat. Trotz­dem heftet sich diese Frage an meine Gedanken: Warum braucht es manch­mal schein­bar der­art wenig, dass Men­schen, die sich Chris­ten nen­nen, an Gottes Güte zweifeln? Überträgt sich die kri­tis­che Atmo­sphäre unser­er Zeit gegenüber Gott der­art auf unsere Kirchen, dass schon ein Ferien-Besuch den Glauben grundle­gend ins Wanken brin­gen kann? Haben sich Chris­ten unser­er Zeit  für the­ol­o­gis­che Mei­n­un­gen geöffnet, die sie ermuti­gen, Gott schnell zu mis­strauen? Wo sind die christlichen Influ­encer, die im Leid tiefen Glauben erfahren und zeigen?

Denn immer­hin: Die Lobgesänge über Gottes Güte in der Bibel wur­den in ein­er Zeit geschrieben und gesun­gen, als es noch keine Narkose gab. Die Wahrschein­lichkeit, dass Frau und Kind bei der Geburt star­ben, war damals unver­gle­ich­lich höher als in unser­er Zeit. Die Män­ner star­ben oft im Krieg. Man kon­nte schon bei kleinen Ver­let­zun­gen eine tödliche Infek­tion ein­fan­gen, die heute schnell zu heilen ist. Angesichts des Lei­dens bracht­en sie ihre Kla­gen zu Gott und drangen aber auch immer wieder zum Lob der Güte Gottes hindurch.

Paulus und Silas haben im Gefäng­nis gesun­gen (Apg 16:25–26). Der Prophet Habakkuk lobt Gott trotz aus­bleiben­der Ernte (Hab 3:17–19). Jakobus sieht in schw­eren Anfech­tun­gen Grund zur Freude (Jak 1:2–4). Der Prophet Jere­mia find­et trotz Ver­fol­gung und Elend Grund, Gott zu rüh­men (Jer 17:14). In diversen Psalmen find­en wir das Lob Gottes als göt­tlich­es ‘Gegen­mit­tel’ in men­schlich­er Not. Ein Beispiel dafür ist der Psalm 34, wo der Psalmist Gott ‘immer­dar’ lobt und die Elen­den darüber wieder Freude finden:

Ich will den HERRN loben allezeit; sein Lob soll immer­dar in meinem Munde sein. Meine Seele soll sich rüh­men des HERRN, dass es die Elen­den hören und sich freuen. Preiset mit mir den HERRN und lasst uns miteinan­der seinen Namen erhöhen! (Psalm 34:2–4)

Es gibt sie auch heute, die Influ­encer, die angesichts schw­er­er per­sön­lich­er Schick­sale Gott loben. Medi­al ist der Glaube der deutschen Youtu­ber Mick­en­beck­er (‘The Real Life Guys’) ein ermuti­gen­des Erleb­nis. Einige Jahre, nach­dem die Schwest­er tödlich verunglückt, stirbt auch Philipp mit 23 an Krebs. Doch er stirbt mit «krass­er Hoff­nung». Sein zurück­ge­blieben Brud­er beken­nt: «Jesus hat gestern seine Hand über uns gehalten.»

Eine grosse Ermu­ti­gung sind die Ukrainis­chen Gläu­bi­gen, die in den let­zten Monat­en bei uns untergekom­men sind. Mein Brud­er und ich durften mithelfen, für über 1000 von ihnen eine Unterkun­ft in den Kirchge­mein­den der Schweiz zu organ­isieren. Wir sind so stolz auf die kirch­liche Reak­tion auf den Krieg! Einige der gläu­bi­gen Ukrain­er aus unser­er Gegend haben ange­fan­gen, bei uns in der Kirche eigene Gottes­di­en­ste durchzuführen. Ich fühlte mich sofort unwider­stehlich hinge­zo­gen, als ich die Lieder hörte, die sie sin­gen: «Egal was du mir gib­st, und auch wenn du mir nimmst, du bist und bleib­st mein Gott. Nur dir gehört mein Lob!» Diese Lieder kom­men aus dem Mund der­er, die erst ger­ade die Bomben in der Nach­barschaft explodieren hörten und Fam­i­lie und Fre­unde im Kriegs­ge­bi­et haben!

Eine der bei uns eingetrof­fe­nen Frauen hat einen Brud­er, der in Kriegs­ge­fan­gen­schaft  im berüchtigten Gefäng­nis in Oleni­wka ist. Wir haben in den ver­gan­genen Monat­en Trauer­feiern für im Krieg ver­stor­bene Ange­hörige abge­hal­ten. Und wir haben Trauer­feiern für Men­schen gehal­ten, welche nicht in ihrer Heimat, son­dern in der für sie fer­nen und frem­den Schweiz ver­stor­ben sind. Der Pas­tor unseres Ukrain­er-Gottes­di­en­stes hat die Kriegsver­brechen an der Zivil­bevölkerung in Butscha miter­lebt. Als 50 rus­sis­che Panz­er an seinem Haus vor­beiziehen, entschliesst er sich für die Flucht mit sein­er Fam­i­lie. Am sel­ben Tag flieht eine befre­un­dete Fam­i­lie, dessen Sohn mit ihrem Sohn in die Schule geht. Diese Fam­i­lie wird auf offen­er Strasse erschossen. Der Pas­tor und seine Fam­i­lie bleiben verschont.

Ukrainis­che Chris­ten, die solch­es Leid konkret erleben, haben viele Fra­gen und dur­chaus auch Wut und Zorn im Bauch. Aber sie preisen Gottes Güte, oft mit Trä­nen in den Augen. Ihre Lobgesänge ver­bre­it­en eine andere Atmo­sphäre. Eine Atmo­sphäre, die Gott nicht schnell den Rück­en kehrt, son­dern es wagt, ihm auch inmit­ten der schlim­men Ereignisse zu vertrauen.

Ich wün­schte, meine Leser kön­nten diese Gesänge ein­mal selb­st miter­leben! Ich sehne mich danach, dass die Kirchen Wes­teu­ropas dieser Atmo­sphäre der ukrainis­chen Gläu­bi­gen und von Men­schen, wie den Mick­en­beck­ers, Raum geben! Dies würde eine Ermu­ti­gung für uns alle, wenn wir durch unsere eige­nen Schick­salss­chläge gehen.

Bilder: aus unseren ukrainischen Gottesdiensten.

Über den Kanal

Paul Bruderer

Paul Bruderer, Jahrgang 1972, als Kind von Missionaren in Afrika aufgewachsen, 1998 Gründungsmitglied der erwecklichen ‹Godi›-Jugendarbeit in Frauenfeld. Seit 2001 Pastor in der Chrischona Gemeinde Frauenfeld. Paul lebt mit seiner Familie in Frauenfeld, Schweiz.

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Kommentare zu diesen Beitrag

8 Comments

  1. Kanzinger Renate

    Lieber Paul, vie­len Dank für deinen wertvollen Artikel. Diese Fra­gen stelle ich mir derzeit. Die Beiträge auf Insta­gram von Hele­na Neu­dorf #zer­broch­enein­duft zu diesem The­ma haben mich sen­si­bil­isiert und ermutigt.
    Ich danke euch für eure wertvollen Artikel und freue mich, sobald ein­er “erscheint”.

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    • Paul Bruderer

      Liebe Renate, her­zlichen Dank!

      Reply
  2. Micha

    Danke für deine Per­spek­tive und die berühren­den Geschicht­en von Glaube und Hoff­nung angesichts von schw­erem Leid. Ohne den unange­bracht­en Teil zu Auschwitz wäre das ein wirk­lich stark­er und erbaulich­er Text. Dieser Auschwitz-Teil ist aber echt schwierig und geht mir zu nahe, um das so ste­hen­zu­lassen. Die falsche Schreib­weise ist ja das eine, aber ger­ade bei “der­art wenig” und “Ferienbe­such” bin ich schon ordentlich zusam­mengezuckt. War sich­er nicht böse gemeint, offen­bart aber auch nicht ger­ade Ver­ständ­nis davon, was Auschwitz ist. Selb­sterk­lären­der­weise sind Sicher­heits­be­denken, wie du richtig fest­stellst, beim Besuch in Auschwitz nicht der sprin­gende Punkt. Umso mehr kann ich einen eige­nen Besuch ans Herz leg­en. Bringt glaube ich mehr, als jet­zt erörtern zu wollen, warum diese Wort­wahl nicht passend und all­ge­mein die Polemik so nicht ange­bracht ist. Ich kann dir ver­sich­ern, die Erfahrung ist mehr als nur ein ‘let­zter Tropfen’. Sie reicht mit dem Ver­such von Empathie aus, um die Theodizeefrage exis­ten­ziell wer­den zu lassen, ins­beson­dere, wenn man vorher schon Erfahrun­gen mit dem Tod gemacht hat. Und trendy… Nein.

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    • Paul Bruderer

      Danke Micha für deine per­sön­liche und offene Reak­tion. Ich hat­te erwartet, dass dieses State­ment kommt. Ich lasse was du sagst gerne mal so ste­hen ohne zu kom­men­tieren. Vielle­icht wollen andere etwas sagen zu dem, was Micha sagt respek­tive ich im Artikel?

      Reply
      • Milan

        Ich seh´s wie Micha. Für viele Men­schen mein­er Gen­er­a­tion sind die Gedenkstät­ten Auschwitz, Bergen Belsen, die Austel­lung zum The­ma Anne Frank die ersten Berührungspunk­te mit Leid “von aussen” bzw. mit dem Schreck­en des Krieges. Wir sind ver­wöh­nt, da geb ich dir Recht. Aber gle­ichzeit­ig muss ja irgend­wo die Auseinan­der­set­zung mit diesem extremen Leid begin­nen. Dazu gehört auch die Frage, warum Gott das zulässt und die Zweifel. Ich bete dafür, dass diese Zweifel zu Mit­ge­fühl, tiefer Trauer und gle­ichzeit­ig großer Dankbarkeit für das eigene Leben wer­den. Aber den Platz dafür, den möchte ich schon haben und auch meinen Mit­men­schen geben.

        Reply
        • Paul Bruderer

          Danke Milan — sehr gut formuliert 🙏

          Reply
  3. Heinz Wilhelm

    Danke für den Text mit den mut­machen­den Beispie­len aus Geschichte und Gegenwart.

    Reply
    • Paul Bruderer

      Vie­len Dank Heinz 🙏

      Reply

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