ESSAYS ZU GLAUBEN UND POSTMODERNE 3/5
Viele Christen fühlen sich in der Postmoderne wie der Eisbär auf der schmelzenden Scholle und fragen: Kann man auch anders glauben? Toleranter werden? Hinter dieser Frage steht nicht selten das Wirklichkeitsverständnis der Postmoderne, das Einfluss darauf nimmt, wie wir glauben.
Das westliche Christentum befindet sich in seiner grössten Krise seit der Reformation. Das Christentum erscheint vielen als altgewordene Religion, die nicht mehr in unsere säkularisierte Zeit passt. In Deutschland und in der Schweiz sind fast die Hälfte der Bevölkerung konfessionslos. Wenn es um das öffentliche Leben geht, muss die Religion draussen bleiben wie der Hund vor dem Supermarkt.
Die Ausläufer der Säkularisierung haben längt die konservativen Gebiete der religiösen Landschaft erreicht. Viele fragen: Wie gehen Glaube und Postmoderne zusammen? Wie vertragen sich Wahrheit und Toleranz? Fragen wie diese hat es in der Geschichte schon immer gegeben. Das aktuelle Fragen aber geht tiefer. Es rührt an die Grundpfeiler des Glaubens.
Der Pluralismus der Postmoderne ist kein völlig neues Phänomen. Er hat seine antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Vorformen. Neu ist, dass er dominant auftritt, so dass er nicht mehr durch Gegenmotive aufgefangen werden kann und zur gesellschaftlichen Grundverfassung wird. Für konservative Einstellungen ist immer weniger Platz. Christen, die liberalen Lebensentwürfen distanziert gegenüberstehen, wird vorgeworfen, voller Hass und Vorurteile zu sein. Manche Christen fühlen sich mit ihren traditionellen Glaubensvorstellungen wie der Eisbär auf der schmelzenden Scholle und fragen sich: Kann man auch anders glauben? Die Bibel anders interpretieren?
Paulus schreibt in Römer 12,1–2, dass Christen beständig ihr Denken erneuern sollten. Diese Aufforderung gewinnt in der Postmoderne neue Aktualität.
Die Moderne und die Vernunft
Der Pluralismus der Postmoderne beruht auf einem Denken, das sich markant vom Zeitalter der Moderne unterscheidet. Bis in vormoderne Zeit lasen die Menschen die Bibel mit Vertrauen. Man war überzeugt: Die fünf Bücher Mose stammten von Mose, die Evangelien geben verlässlich Auskunft über Jesus, die Zehn Gebote sind ein sinnstiftender gesellschaftlicher Rahmen. Die moderne Vernunft, die von der Aufklärung befeuert wurde, erschütterte dieses Vertrauen. Der wissenschaftliche Fortschritt förderte zur selben Zeit das Zutrauen in die menschliche Vernunft und Machbarkeit. Die Verhältnisse im Universum des menschlichen Denkens verschoben sich merklich. Je mehr der Mensch wusste, desto verzichtbarer wurde der Glaube an einen Schöpfer. Doch dann wurde auch die Vernunft selbst erschüttert. Je mehr man wusste, desto stärker trat ins Bewusstsein, was man noch nicht wusste und wir möglicherweise nie wissen können. Die Vernunft beantwortete viele Fragen, aber die letzten Fragen blieben unbeantwortet.
Im Grunde genommen ist die Postmoderne die Identitätskrise der modernen Weltanschauung. Denn: Wenn wir nichts sicher wissen können und nicht in der Lage sind, eine bessere Welt zu schaffen, ist alles relativ. In der Postmoderne sind sämtliche Gewissheiten und Autoritäten vom Papst über die Bibel bis zur eigenen Wahrnehmung erschüttert. Wer sind wir? Wissen wir überhaupt noch etwas? Können wir Gott erkennen? Oder sind wir wie die Blinden in der berühmten Karikatur, die den Elefanten berühren, der eine den Schwanz, der andere den Rüssel und alle meinen, sie würden die Wirklichkeit kennen?
Die Postmoderne und ihr Wirklichkeitsverständnis
In der radikal pluralistischen Weltsicht der Postmoderne werden die Parameter menschlichen Denkens noch einmal verschoben. Herkömmliche Vorstellungen von Wahrheit und Moral, die in der Moderne noch eine gewisse Plausibilität aufwiesen, kommen in der Postmoderne wie Dominosteine zu Fall:
- Der an der Vernunft orientierte Wahrheitsbegriff der Moderne gilt in der Postmoderne als überholt. In der Moderne galt als wahr, was durch die Vernunft erschlossen werden konnte. In der Postmoderne wird «Wahrheit» stets neu konstruiert. Was wahr ist, entscheiden Menschen individuell. Es hat mehr mit ihrem persönlichen Empfinden und wechselhaften gesellschaftlichen Bedingungen zu tun als mit einer objektiven Wirklichkeit.
- Der Auflösung des modernen Wahrheitsbegriffs folgt die Relativierung von Wahrheitsansprüchen. Transzendenten Ansprüchen, wie die Bibel sie vorträgt, wird mit besonderer Skepsis begegnet. Relativistische Ansichten dagegen kommen im Sprachduktus der Selbstverständlichkeit daher.
- Der Relativierung der Bibel folgt ein Vertrauensverlust in ihre Autorität und Wirksamkeit. Wenn «Wahrheit» stets neu konstruiert werden muss, können die Ansichten der biblischen Verfasser nicht Zeiten und Kulturen überschreitende Gültigkeit besitzen. Der Gedanke der Inspiration hat im postmodernen Mindset keinen Platz: Die biblischen Verfasser reden nicht durch den Heiligen Geist als Apostel oder Propheten, sondern als Kinder ihrer Zeit.
- Dem Vertrauensverlust in die Bibel folgt ein Glaubensverlust, denn der Glaube kommt aus dem Wort Gottes (Römer 10,17). Wenn die Bibel nicht die massgebende Urkunde des Glaubens ist, lassen sich aus ihr weder feste Wahrheiten noch eine verbindliche Moral ableiten. Moral gibt es noch, aber sie ist jetzt im Rahmen der gesellschaftlichen Verhältnisse veränderbar. Der Zeitgeist spricht stärker als der Heilige Geist.
Zentrale Glaubensbestände werden als Folge dieses Denkens bis tief in die evangelische Theologie und Kirche hinein in Zweifel gezogen oder systematisch dekonstruiert: Die sexualethischen Weisungen der Bibel sind unzeitgemäss, das Sühneopfer Jesu am Kreuz unnötig, die Lehre vom Jüngsten Gericht unmenschlich, der Gedanke der Inspiration der Bibel unhaltbar.
Von den ersten Christen lernen
Der christliche Glaube steht in der säkularisierten Gesellschaft ständig unter Druck. Es reicht für evangelikale Christen längst nicht mehr, ein fröhliches Herz zu haben. Wir müssen lernen, Glauben und Denken enger miteinander zu verbinden. Nur so können wir uns der Herausforderung der postmodernen Wirklichkeit erfolgreich stellen.
Die ersten Christen befanden sich in einer vergleichsweise ähnlichen Situation. Die antike Mehrheitskultur war nur scheinbar tolerant. Sie diktierte, wie man zu leben hatte, nämlich als treue Staatsbürger, die für den Kaiser opferten, um die Götter nicht zu verärgern. Die ersten Christen gerieten unter Verfolgung, weil sie sich weigerten, den Kaiser anzubeten.
Die antike Religion mit ihren vielen Schattierungen hatte eine eklatante Schwäche im Vergleich mit dem aufstrebenden Christentum: Sie liess das Denken beiseite und überliess es den Philosophen. Das Christentum dagegen war im Anschluss an das Judentum von Anfang an eine Religion des Buches und damit der denkenden Erfassung der Welt. In den antiken Religionen spielten heilige Schriften keine Rolle. Der antike Mensch brauchte sein Denken nicht anzustrengen, wenn es um Religion ging. Es genügte, einen Ritus zu vollziehen.
Andreas Merkt, der die Anfänge moderner Religion in der Spätantike in seinem monumentalen Werk Die religiöse Verwandlung der Welt aufgearbeitet hat, schreibt: «In den Gottesdiensten wurden, anders als in den römischen und orientalischen Kulten, nicht nur Riten vollzogen, sondern auch Texte gelesen und ausgelegt. Schon im 2. Jahrhundert besassen die Grossstadtgemeinden regelrechte Katechetenschulen. Sie boten eine Art Popularphilosophie mit klaren Aussagen über den Sinn der Welt und Anleitungen zur Lebensführung.»[1]
Wer Christ werden wollte, trat in das Katechumenat ein, einen anspruchsvollen Einführungskurs in den Glauben, der bis drei Jahre in Anspruch nahm. In dieser für die Antike einzigartigen Form religiöser Bildung lernten die Christen, Glauben und Denken miteinander zu verbinden. Diese Verbindung machte die Christen in einer feindseligen Umgebung stark.
Wenn unser Glaube im Meer der postmodernen Möglichkeiten nicht untergehen soll, müssen wir die Welt denkend erfassen und mit der Bibel ins Gespräch bringen. Das stellt uns vor die Gretchenfrage, wie wir es mit der Bibel halten:
Können wir der Bibel als inspiriertes Gotteswort vertrauen oder müssen wir sie im Licht der postmodernen Toleranz neu interpretieren?
Was Christen glauben, muss biblisch verankert sein oder es ist kein Christentum. Wir Christen können in manchen Fragen uneins sein, es hat uns noch nie anders gegeben als in einer Kultur der Vielfalt. Eines können wir uns jedoch nicht leisten: dass wir unter dem Druck der postmodernen Mehrheitskultur die Bibel als Norma Normans, die uns mit dem Willen Gottes bekanntmacht, relativieren. In der Glaubensbasis der Europäischen Evangelischen Allianz wird ein klares Bekenntnis zur Inspiration und Autorität der Heiligen Schrift abgelegt:
«Evangelische Christen bekennen sich zu der in den Schriften des Alten und Neuen Testaments gegebenen Offenbarung des dreieinigen Gottes und zu dem im Evangelium niedergelegten geschichtlichen Glauben … [Wir bekennen] die göttliche Inspiration der Heiligen Schrift, ihre völlige Zuverlässigkeit und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.»
Wenn Christen dieses Bekenntnis nicht bejahen können, ist ihr Glaube in Gefahr.
Wie der Eisbär auf der Scholle
Es geht in der gegenwärtigen Krise um viel. Nur die Formen christlichen Glaubens haben Zukunft, die sich der postmodernen Mehrheitskultur mit ihrer relativistischen Weltanschauung widersetzen und bereit sind, ihren Glauben in Rückbindung an die Heilige Schrift zu gestalten. Man kann vielfältig glauben, aber man kann nicht gegen die Bibel glauben. Man kann biblische Texte unterschiedlich interpretieren, aber man kann nicht gegen das Selbstzeugnis der Heiligen Schrift die Glaubensbestände, die sie uns bietet, uminterpretieren, ohne schliesslich den Glauben selbst zu verlieren. Am Schluss hat man noch Jesus ohne Christus oder die Bergpredigt ohne den Bergprediger. Das ist wie Fussball spielen ohne Tore schiessen, weil das Entscheidende fehlt.
Wenn Christen nicht mit Verweis auf Gottes Wort an den zentralen Glaubensbeständen festhalten, die durch die Jahrhunderte unaufhebbar zum christlichen Glauben gehört haben, wird uns der Restglaube, der uns in der westlichen Kultur geblieben ist unter den Füssen wegschmelzen wie die Scholle dem Eisbären. Und dann haben wir nichts mehr als uns selbst und unser von der postmodernen Toleranz verdünntes Evangelium, das frohe Botschaft für das Streben nach Selbstverwirklichung ist, aber kein wirkliches Evangelium mehr.
[1] Merkt, Andreas 2024. Die religiöse Verwandlung der Welt. Die Anfänge «moderner» Religion in der Spätantike, Seite 241.
Titelbild: Istock
Danke für die schöne Zusammenfassung und Gottes Segen für die Predigt 🙂
Liebe Leute,
Es freut mich, dass meine Essays euch zu kreativen Gedanken inspirieren und dass daraus eine gehaltvolle Diskussion wird. Ich werde im vierten Essay das Thema Spiritualität und Postmoderne aufnehmen — in aller Kürze, Essays sind ja nicht mehr als Gedankensplitter, obwohl es so viel zu sagen gäbe. Im fünften Essay werde ich dann den Fokus auf die ersten Christen und die antike Lebenswelt legen. Die ersten Christen befanden sich ja in einem ähnlich pluralistischen Umfeld wie wir heute in der Postmoderne. Da lässt sich manches, was sie richtig gemacht haben, in Beziehung zu uns heute setzen.
Ich verstehe diese Art von christlichem Pessimismus nicht. Wir haben doch die beste Botschaft der Welt zu bieten. Auf die heutige Kultur umgelegt: Jesus Christus bietet dir in einer Welt, in der nichts mehr sicher ist und alles relativ einen festen Anker und sicheren Halt. Dass sich die Menschen nach genau so einer Botschaft sehnen zeigt das “Quiet Revival” in UK und Frankreich. Dazu kommt: Wir sind ja nicht auf uns alleine gestellt. Der Heilige Geist führt uns, weil Er will, dass andere Menschen durch uns von Gottes Kraft und Gegenwart berührt werden.
Natürlich werden wir dabei Gegenwind erleben. Die politische Linke hasst uns und will uns mundtot machen. Aber Jesus sagte: Wir Schüler stehen nicht über ihm als Meister. Wenn sie ihn damals gehasst haben, dann ist nichts anderes zu erwarten als dass sie auch uns hassen. Wenn uns das passiert, ist das kein überraschendes, unfaires Unglück; das ist Teil des Deals, wenn wir mit Jesus gehen. Die Botschaft von Jesus muss sich zu jeder Zeit gegen die vorherrschende Kultur richten, weil sie egal wann und wo immer die bessere Alternative zu dem darstellt, was Menschen ohne Gott für gut, richtig und vernünftig halten. Und deshalb immer das Widergöttliche einer Kultur mit Gottes Wahrheit konfrontiert.
Natürlich, ein Christentum, das sich nur auf der intellektuellen Ebene abspielt, hat der heutigen Welt nichts mehr zu bieten. Es ist unbedingt wichtig, dass wir begründen können, dass es intellektuell redlich und schlüssig ist, Jesus Christus nachzufolgen und die Bibel für Gottes Wort zu halten. Aber Apologetik alleine ist zu wenig, um die Menschen zu erreichen.
Ein Christentum, das authentische Geschichten erzählt, wo Menschen ihrer Aufgabe als Zeugen Jesu Christi nachkommen und ehrlich darüber berichten, wie sie Gott erleben, welche Wunder er an ihnen getan hat, wie er sie verändert hat und über die Schönheit der innigen Gemeinschaft mit Jesus Christus, dann ist das für die Menschen heute durchaus attraktiv.
Wobei es heute wichtiger denn je ist, dem Modell der Apostelgeschichte zu folgen: “Und Gott bestätigte die Predigt der Apostel durch die Zeichen und Wunder, die ihnen folgten.” Es geht nicht um die Wunder um der Wunder willen. Es geht um den Geber, nicht um die Gaben, schon klar. Aber die Gaben sind wichtig und notwendig, um die Menschen mit dem Geber bekannt zu machen. Indem sie Gottes Kraft und Gegenwart erleben im Gebet. Durch eine körperliche oder seelische Heilung. Durch ein prophetisches Wort. Das sind die Werkzeuge, die wir in Gottes Wort vorfinden, und wir sollten sie daher auch nutzen, um Menschen mit Gott in Kontakt zu bringen.
Wir müssen auf dem soliden Fundament der Schrift stehen, ohne Kompromisse, sonst sind wir verloren und verlieren jede gesellschaftliche Relevanz. Aber wir brauchen auch die Kraft des Heiligen Geistes so wie Jesus als er aus der Wüste zurückkehrte (nach Lukas): “Erfüllt mit der Kraft des Heiligen Geistes kehrte Jesus aus der Wüste zurück…”
Wenn wir so unterwegs sind, haben wir nichts zu befürchten von der Postmoderne. Eine Kirche (egal welcher Konfession) in der die Menschen nicht nur Gottes Wort, sondern auch Gottes Kraft und Gegenwart erleben, wird immer attraktiv sein. Für mich ist deshalb die praktisch gelebte Reich-Gottes-Theologie des “Schon jetzt und noch nicht” der theologisch sauberste und praktisch am besten lebbare Weg, meine persönliche Nachfolge hier und jetzt zu leben. Weil es der Weg ist, der am ehesten dazu führt, dass Gott durch mich in meinem Umfeld ganz real etwas bewegt und verändert.
@yumiyoshi
Danke für deinen Kommentar — es fasst sehr schön zusammen was auch mich beschäftigt. Ich sitze gerade an der Predigtvorbereitung für 1Kor 1,18–2,16. Seit Tagen ringe ich mit dem Text.
“Das Wort vom Kreuz ist denen die Verlorengehen Torheit, uns aber Gottes Kraft” + “Nichts anderes unter euch, als Jesus und ihn als gekreuzigt”.
Ich bin ein großer Fan der Apologetik, verfolge viele Apologeten und ihre Arbeit in den sozialen Medien. Ich liebe die Diskussionen und überzeugende Argumente. Und doch — ja und doch hat das alles seine Beschränkung. Und das erlebe ich auch stark in meinem persönlichen Umfeld, wenn ich mit den Menschen rede und wir uns über die ewigen Dinge unterhalten.
Letztlich ist die Frage wie die Menschen auf die Botschaft vom Kreuz reagieren — es ist und bleibt der Kern unserer Überzeugung und muss auch der Kern unserer “Predigt” an den Menschen sein, durch Wort und Tat.
Wir haben die beste Botschaft die es geben kann. Und natürlich kann und muss man zweitrangige Themen ansprechen, aber letztlich entscheidet es die Botschaft vom Kreuz. Wenn wir diese vorleben und sie den Menschen vorstellen — ungeschönt ungeschwächt und ungekürzt — wird sich das auszahlen. Die Botschaft vom Kreuz ist absolut nicht “konkurenzfähig” zu der “Weisheit der Weisen” denn sie spielt in einer ganz anderen Liga abseits jeder Konkurenz. Denn Gott hat das Schwache dieser Welt erwählt um das (vermeintlich) Starke zuschanden macht.
Ergänzend kann man noch auf diesen Artikel hier im Blog verweisen
https://danieloption.ch/featured/das-evangelium-ist-kraftvoll/
Zum Schluss noch folgendes Zitat: “Meine ganze Theologie ist auf vier Worte zusammengeschrumpft: Jesus starb für mich!” C.H Spurgeon
Danke für die Bibelstelle. Das löst in mir ganze Kaskaden von Gedanken aus, viel zu lang um das hier wiederzugeben. Ich versuche, mich auf ein Thema zu beschrännken:
N.T. Wright hat mir in seinem Buch “Worum es Paulus wirklich ging” sehr schön erklärt und zusammengefasst, was es mit dem Evangelium auf sich hat: Das Evangelium ist die Botschaft, dass es nur einen Herrn des Universums gibt, der das Böse endgültig besiegt hat: Jesus Christus. Nichts und niemand kann ihm diese Position streitig machen. Sein Reich (nach Lukas 4,18/Jes. 61,1) ist in die gefallene Welt hereingebrochen, breitet sich aus und wird — wenn er sichtbar zurückkommt — in einer neuen Schöpfung vollständig errichtet werden.
Der Weg dorthin führt ausschließlich über das Kreuz: Also das Anerkennen, dass ich unter keinen Umständen so leben kann, um Gottes Anforderungen zu erfüllten. Auch, weil Jesus die Anforderungen in Mt. 5,17ff auf für uns unerreichbare Höhen geschraubt hat: Nämlich, die 100%-ige Erfüllung in unseren innersten Gedanken und Empfindungen. Ich würde es so formulieren: Ich kann durch Jesu Tod und Auferstehung nur dann mit Gott ausgesöhnt und sein Kind werden, wenn ich es anerkenne, dass ich dazu außerstande bin, dass ich deshalb die gerechte Strafe verdient habe — ABER: Jesus hat die aus einer für mich unbegreiflichen Liebe zu mir auf sich genommen, damit ich über den Tod hinaus für immer bei ihm sein kann, in dem Zustand, für den wir Menschen von Anfang an bestimmt waren.
So. Und da fangen die Ärgernisse für das menschliche Denken an. Es ging ja schon bei den Jüngern von Jesus los: Noch nach der Auferstehung fragten sie ihn(Apg. 1,6–7), ob er jetzt das weltliche Reich Israel wieder herstellen würde. Sie hatten immer noch nicht verstanden, dass Jesus das Reich Gottes auf die viel höhrere und tiefere geistliche Ebene gehoben hatte, weil sich die entscheidenden Dinge eben nicht im sichtbaren, weltlichen Bereich abspielen, sondern auf der nicht sichtbaren, geistlichen Ebene. Und das ist meiner Meinung nach für das menschliche Denken so ein großes Ärgernis.
Das Prinzip der Gnade, also der Kern des Evangeliums, nämlich, dass der Mensch unmöglich durch eigene Leistungen Gott “zufrieden stellen” kann, ist vielleicht das größte Ärgernis überhaupt: Weil die Rebellion gegen diese Tatsache Herz und Kern der gefallenen Natur ist: “Ich brauche Gott nicht. Ich kann wie Gott sein. Ich kann selbst beurteilen, was richtig und falsch ist”. Es hat mich über die Jahre viel gekostet, dieses Denken einigermaßen hinter mir zu lassen, los bin ich es noch keineswegs.
Ich habe über die Jahre gelernt, dass ich die Botschaft von Jesus nur dann wirklich verstehen und leben kann, wenn ich in der Lage bin, Spannungsfelder und Paradoxien auszuhalten und als solche stehen zu lassen. Wie ist es logisch erklärbar, dass Jesus den Feind besiegt hat, indem er sich von ihm umbringen ließ? Wie logisch ist es, dass ein Gott sich selbst in Gestalt eines Menschen hinrichten lässt? (Da sind glaub ich die Juden ausgestiegen..). Wie logisch ist es, dass Gott drei und einer gleichzeitig ist? Wie vernünftig ist Feindesliebe, und dem Feind die andere Wange hinzuhalten? Dass wir darauf verzichten, unsere Rechte einzufordern?
Für mich selbst erspüre und erahne ich in meinem Innersten, dass diese Zumutungen Gottes an mich tatsächlich richtig und wahr sind und dass hinter diesen Dingen eine Kraft steht, die größer ist und viel tiefer geht als meine menschlichen Lösungen. Dass ich auf diese Weise aus dem “System” aussteigen kann (“nicht von dieser Welt”) und aufhöre, die Spielchen des Feindes mitzuspielen, weil ich mich weigere, auf seine Ebene herunterzusteigen. Dass seine Attacken dann im Nichts verpuffen und bei den Menschen, die er für genau diese Attacken missbraucht und manipuliert, das Gegenteil dessen eintreten kann, was er beabsichtig. Weil wir “nicht gegen Fleisch und Blut” kämpfen. Wenn mir das gelingt, erlebe ich große geistliche Siege, auch wenn das meist nur kleine, unscheinbare Situationen sind. Gleichzeitig erlebe ich aber, wie mein altes Ich massiv dagegen rebelliert. Weil es dermaßen gegen die gefallene menschliche Natur geht.
Ich erlebe es bis heute so, dass der größte Schaden immer dann entsteht, wenn Christen versuchen, diese Spannungsfelder aufzulösen. Ich finde, das sind dann immer nur Scheinlösungen, die versuchen, einen nicht fassbaren Gott in die sehr begrenzten Schubladen menschlichen Denkens hineinzustopfen, weil sie nicht damit umgehen können, dass für uns Gott auf dieser Welt unmöglich vollständig erfassbar ist. Wenn man das versucht, fällt man immer vom Pferd — ob nach links, rechts, vorne oder hinten ist dabei bedeutungslos. Ich spüre hinter diesem Denken oft große Angst und Unsicherheit, weil es ja wirklich nicht leicht zu ertragen ist, dass man gewisse Dinge einfach nicht versteht und nur versuchen kann, sich ihnen anzunähern. Mir fallen in dem Zusammenhang Römer 14 und 1. Korinther 8 ein, wo Paulus eben NICHT sagt: So ist es “richtig” und so ist es “falsch”. Sondern: “Es kommt darauf an”. Da steckt eine große Weisheit dahinter. Aber auch eine große Herausforderung.
Was mir sehr geholfen hat ist, dass ich gelernt habe, dass die Juden der Antike anders dachten als der von griechisch-römischer Philosophie geprägte aufgeklärte Westen. Dass Juden nicht in “Wenn-Dann”-Kategorien denken, sondern in “Sowohl-Als auch”. Dass für Juden damals das, was uns heute als unauflösbarer Widerspruch erscheint, zwei Seiten einer Medaille waren. So ungefähr jedenfalls, ich bin ja kein Akademiker.
Puh, so viele Gedanken und so viel Text. Im Herzen liebe ich die Apologetik und die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Schrift ja auch sehr. Was ich sagen wollte ist lediglich: Die Postmoderne sehnt sich in Zeiten der maßlosen Überflutung mit Informationen nach authentischen Geschichten. Meine Erfahrung ist: Wenn ich mein Umfeld nicht “anpredige” sondern einfach über meine Geschichte mit Jesus spreche — denn ich kann nicht über mich selbst sprechen, ohne über Jesus zu sprechen — dann hören mir alle zumindest zu. Selbst überzeugte Atheisten und Kirchenhasser.
Vielen lieben Dank für deine Gedanken! Solche Diskussionen sind mir immer wieder wertvolle Denkanstöße, um mich mit meinen eigenen Gottes- und Weltbild auseinanderzusetzen und immer wieder das eine oder andere zu lernen oder zu vertiefen.
Vielen Dank auf für deinen Text — das sind auch die Gedanken ich ich gerade bewege für Sonntag…
man könnte noch ergänzen — wie logisch ist Vergebung — der Verzicht auf Gerechtigkeit und Wiedergutmachung — wie logisch ist es das der Vater seinem Sohn das ganze Erbe gibt und ihn alles verprassen lässt. Wie logisch ist es das er ihn danach wieder als seinen Sohn annimmt ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren.
Ich bin Wissenschaftler und liebe die Logik — mein Verstand wurde mir von Gott gegeben und hat seinen Platz. Noch mehr liebe ich aber Jesus — er wurde uns zur Weisheit, Heiligkeit, Gerechtigkeit und Erlösung (1Kor 1,30)
Und das schöne ist — ich sehe es wie du — lange hab ich mich mit den Paradoxen der Bibel gequält, viel dazu gelesen — nach guten Antworten gesucht. Und es gibt gute Antworten. Aber vor allem habe ich gelernt diese Wahrheiten im Herzen zu glauben, weil mein Verstand einfach zu klein ist.
Durch Glauben (pistis) verstehen (nous–>Verstand) wir das die Welten durch Gott bereitet worden sind. Hebr 11,3
Kein Wiederspruch sondern die richtige Rangordnung von Glaube und Verstand.
Soli Deo Gloria