Von Christian Haslebacher, Teilnehmer Lausanne-Kongress 4 in Seoul 2024
«Let the Church declare and display Christ together.» – Unter diesem Motto findet vom 22. bis 28. September 2024 der vierte Lausanne-Kongress in Seoul statt. Die Seoul-Erklärung wurde in einem «Spirit» verfasst, der in der ganzen Konferenz spürbar ist und der den Kirchen im deutschsprachigen Europa den Weg in die Zukunft weist.
Die Seoul-Erklärung (The Seoul Statement — Lausanne Movement) schliesst sich an die Lausanner Verpflichtung (1974; eine der wichtigsten und einflussreichsten theologischen Erklärungen der letzten hundert Jahre), das Manila-Manifest (1989) und die Kapstadt-Verpflichtung (2010) an und bestätigt und aktualisiert diese. Die Seoul-Erklärung ist mit 97 Paragrafen (§), die sich auf sieben Kapitel aufteilen, ziemlich umfassend. Es würde sich lohnen, zu jedem der sieben Kapitel einen eigenen Beitrag zu verfassen. Hier ein erster Einblick, der sich vor allem an den richtungs- und taktgebenden Hauptüberschriften orientiert:
Das Grundprinzip: Die Kirche soll gemeinsam Christus bekannt und sichtbar machen.
«Let the church declare and display Christ together.»
«Die Kirche soll gemeinsam Christus bekannt und sichtbar machen»: So lautet meine Übersetzung des Grundmottos der Konferenz. Ich mag die Wortwahl im Englischen: Declare (deklarieren) umfasst Bedeutungen wie erklären und verkündigen. Es geht also um bedeutungsvolle Worte, mit denen wir Jesus bekannt machen wollen. Display umfasst Bedeutungen wie zeigen und vorleben. Es geht also darum, dass wir Christus abbilden und sichtbar machen dürfen. Der Punkt ist dabei: Das Bekannt-Machen kommt nicht ohne das Sichtbar-Machen aus und das Sichtbar-Machen nicht ohne das Bekannt-Machen. Es braucht beides. Keine Einseitigkeit ist hilfreich. Denn je fruchtbarer und schöner wir das Eine tun, desto fruchtbarer und schöner wird uns auch das Andere gelingen!
Diese Pole, zwischen denen wie bei einer Batterie die Energie liegt, werden auch in den Titeln der Kapitel aufgenommen:
Das Evangelium: Die Geschichte, die wir leben und erzählen
«The gospel: the story we live and tell»
Ich verstehe darunter: Wir sind als Kirche gemeinsam berufen, das Evangelium als epochales Narrativ zu erzählen und unsere Mitmenschen einzuladen, selbst Teil davon zu werden. Wie könnten wir dann anders, als dieses Evangelium im Alltag sichtbare Realität werden zu lassen?
Die zentrale Botschaft des Evangeliums ist das Reich Gottes und Jesu Menschwerdung, Tod, Auferstehung, himmlische Verherrlichung und zukünftige Wiederkehr. Gott bietet uns Vergebung, seinen Heiligen Geist und das ewige Leben (§ 18).
Wir schämen uns nicht, an dieses kraftvolle Evangelium zu glauben (Röm 1,16). Wie an der Konferenz mehrmals unterstrichen wurde: «Verfolgung wird die Gemeinde nicht umbringen, ein verfälschtes Evangelium schon.» («Persecution never kills the church, but a compromised gospel will.»)
Wir wollen das Evangelium durch unser Dasein (presence), unser Tun (practice) und unser Reden bezeugen (proclamation; § 16). Aufgrund unseres Glaubens sorgen wir uns umeinander und um Gottes Schöpfung und setzen uns für Gerechtigkeit ein. Wir wollen ein Leben führen, das von Frieden und Dienstbereitschaft geprägt ist (§ 15).
Die Bibel: Die Heiligen Schriften, die wir lesen und befolgen
«The bible: the holy scriptures we read and obey»
Ich verstehe darunter: Wir lesen die Bibel als unsere Heilige «Verfassung» und «Saga», die uns Wurzeln und Zuversicht verleiht und inspiriert. Wie könnten wir dann anders, als unser Leben an diesen Heiligen Schriften auszurichten?
Die biblischen Texte müssen in ihrem historischen Hintergrund, ihrer literarischen Gattung und ihrem gesamtbiblischen Kontext verstanden werden (§ 20), als autorisiertes Zeugnis der Apostel (§ 22) und in Übereinstimmung mit den Bekenntnissen der Alten Kirche, aus deren Hand wir die Bibel haben (§en 24 und 25). Die Bibel ist Gottes Wort in menschlichen Worten (§ 17).
Die Kirche: Das Volk Gottes, das wir lieben und aufbauen
«The church: the people of God we love and build up»
Ich verstehe darunter: Wir glauben an die Kirche und ihr Potenzial. Wie könnten wir dann anders, als diese Kirche aufzubauen und in ihre Blühte hineinzufördern?
Die Kirche hat den Auftrag, Menschen in die Jesus-Nachfolge einzuladen und darin zu fördern. Dies kann dort geschehen, wo die Gegenwart Christi uns erfüllt (Christ-filled presence), wo Christus im Zentrum steht (Christ-centred proclamation) und wo wir christusgemäss leben (Christlike practice; § 43).
Die Gemeinde steht vor realen Herausforderungen, Ablehnung und Verfolgung (die Konferenz widmete der verfolgten Kirche einen ganzen Tag) von aussen und noch bedrohlicheren Gefahren von innen (§ 33). Es ist zu beklagen, dass die Kirche leider allzu oft Verlockungen der politischen Macht, der kulturellen Anerkennung und der Vergnügungen der Welt erlegen ist und dadurch ihren Auftrag, Gottes sicht- und hörbares prophetisches Zeugnis in der Welt zu sein, torpediert hat (§ 35).
Der Mensch: Als Ebenbild Gottes geschaffen und wiederhergestellt
«The human person: the image of God created and restored»
Ich verstehe darunter: Wir erkennen in jedem Menschen seine unantastbare Würde als das Ebenbild Gottes. Wie könnten wir dann anders, als die Menschen den Weg zur Wiederherstellung zu weisen, wo sie sich neu aufrichten dürfen?
Diese Wiederherstellung betrifft alle Aspekte des Menschseins, wie die Würde des Menschen auch in allen Bereichen verletzt werden kann. Aufgrund der speziellen Sensibilitäten in der heutigen Gesellschaft (§ 67) geht die Erklärung vertieft darauf ein, dass die in der Bibel beschriebene Würde des Menschen verletzt wird, wo sexuelle Praktiken ausserhalb der Ehe zwischen Mann und Frau geschehen (§ 60, 61 und 68). Alle Ortsgemeinden sind aufgerufen, Singles und Verheirateten ihre Herzen zu öffnen, sie in ihre persönlichen Gemeinschaften zu integrieren und dadurch Netzwerke gegenseitiger Ermutigung, Förderung und praktischer Unterstützung zu sein (§ 66).
Die Nachfolge: Unsere Berufung zur Heiligkeit und unser Auftrag als göttliche Delegation in dieser Welt
«Discipleship: our calling to holiness and mission» [auf Englisch mehrdeutig]
Ich verstehe darunter: Wir folgen Gottes unfassbarer Einladung, zu seinem «Team» zu gehören und ein Leben führen zu dürfen, das ihm geweiht ist. Wie könnten wir dann anders, als unser Leben voll Freude und Leidenschaft in Gottes Dienst zu stellen?
Die Begriffe «Christen und Christinnen» und «Jünger und Jüngerinnen» beziehungsweise «Nachfolger und Nachfolgerinnen» sind gleichbedeutend (Apg 11,26). Die Gemeinde ist keine fromme Eventorganisation, sondern ein «Nachfolge-Kollektiv».
Nachfolgende von Jesus sind Menschen, die durch das Evangelium so geprägt werden, dass sie mit ihrem Leben Gott und ihre Mitmenschen lieben. Beides (§ 71). Nachfolgende von Jesus verkündigen die gute Nachricht und engagieren sich in einer zerbrochenen Welt. Beides (§ 73).
Die Nationen: Wir nehmen die Konflikte zwischen Völkern wahr und setzen uns für Frieden ein
«The family of nations: the peoples in conflicts we see and serve for peace»
Ich verstehe darunter: Jesus liebt und ruft jeden Menschen gleich wie dich und mich, unabhängig davon, zu welchem Volk, Ethnie, Kultur, Milieu, Bildungs- und Einkommensschicht er gehört. Wie könnten wir dann anders, als uns für Versöhnung und faire Chancen für alle einzusetzen?
Die Jesus-Leute müssen Menschen des Friedens sein, denn das Evangelium ist die Botschaft der Versöhnung zwischen Gott und Menschen und zwischen Menschen (Kapitel VI). Es ist falsch, zu Unrecht zu schweigen, sich hinter apathischer Neutralität zu verstecken (§ 83) oder sich gar daran zu beteiligen (§ 85).
Gemeinden sind berufen, multikulturelle Orte zu sein, die Versöhnung zwischen Menschen verschiedener Herkünfte vorleben (§ 87).
Die technische Entwicklung: Die zunehmende Innovation, die wir entdecken und verantwortlich damit umgehen
«Technology: the accelerating innovation we discern and steward»
Ich verstehe darunter: Schon in biblischen Zeiten wurden technische Mittel verwendet, um Gottes Sache voranzutreiben (z.B. eine Steinschleuder, Schiffe und Briefe). Wie könnten wir dann anders, als technische Innovationen verantwortungsvoll zu gebrauchen, um unseren Auftrag in dieser Welt zu unterstützen?
Es ist eine Tatsache, dass technische Mittel auch für destruktive Ziele eingesetzt wurden und werden (§ 89). Manche Menschen zeigen beispielsweise Suchtverhalten bezüglich digitaler Medien (§ 92).
Die Kirche ist aufgerufen, die heutigen technischen Möglichkeiten in Verantwortung vor Gott und den Menschen zu nutzen (§ 95), um Menschen mit dem Evangelium zu erreichen (§ 97) und in der Jesus-Nachfolge zu fördern (§ 92 und 96).
Von der Lausanne-Bewegung zur deutschsprachigen Jesus-Bewegung!
Was wäre möglich, wenn die Christenheit des deutschsprachigen Europas gemeinsamer, freudvoller und mutiger Christus bekannt und sichtbar machte, indem sie das Evangelium weitererzählt und lebt, die Bibel liest und befolgt, die Kirche liebt und aufbaut, die Menschen als Gottes Ebenbild behandelt und fördert, als Jesu Nachfolgende Gott und den Menschen dient, sich weltweit und innerhalb der Kirchenmauern für Versöhnung zwischen Menschen verschiedener Herkünfte einsetzt und die aktuellen technischen Möglichkeiten nutzt, um Menschen mit dem Evangelium zu erreichen und im Glaubensleben zu fördern?
Dies wäre ein inspirierender Ausdruck davon, dass wir wirklich an die Einzigartigkeit von Christus, die Schönheit und Kraft des Evangeliums, die Inspiration der Bibel, das Potenzial der Kirche, die Würde aller Menschen, Jesu gleichstarke Liebe zu allen und technischen Chancen unserer Zeit glauben. Fehlt uns solcher Glaube? Wenn nicht, dann lasst uns um Gottes Willen eine Bewegung sein! Ich kann mir kaum vorstellen, dass eine solche Bewegung keine Ausstrahlung auf unser säkulares Umfeld hätte. Und das Christsein würde auch uns selbst mehr «Spass» machen!
Zu guter Letzt endet das Seoul-Statement mit den Worten:
Hilf uns, oh Gott, das beten wir im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
«Help us, O God, we pray, in the name of the Father, the Son, and the Holy Spirit.»
Es ist die Rede von der betenden Abhängigkeit von Gottes Geistwirken (Conclusion) als Voraussetzung dessen, was dieses Statement der Kirche ans Herz legt. Oder wie im Rahmen der Konferenz gesagt wurde: «Du kannst (erst) mehr tun als beten, nachdem du gebetet hast, aber du kannst nicht mehr tun als beten, bis du gebetet hast.» («You can do more than pray after you have prayed but you cannot do more than pray until you have prayed.» S. D. Gordon)
Soweit ein kurzer Gruss aus Seoul. Ihr seid eingeladen, die Erklärung selbst zu lesen (zirka 24 DIN-A4-Seiten) und euch eure eigenen Gedanken und Entscheidungen zu machen (The Seoul Statement — Lausanne Movement).
Bilder: Christian Haslebacher / Lausanne
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