Einen theologischen Standpunkt versteht man am besten, wenn man seine Geschichte kennt. In diesem Teil beschreibe ich die Entstehung der evangelikalen Bewegung und definiere ihr Verhältnis zum Fundamentalismus einerseits und dem Phänomen des Post-Evangelikalismus anderseits. Der Blick in die Geschichte wird uns helfen zu verstehen, warum Evangelikale die Bibel so und nicht anders auslegen.
Anfänge im angelsächsischen Raum
Das englische «evangelical» ist bereits fünfhundert Jahre alt. Der Begriff taucht erstmals in England als Bezeichnung der Anhänger der Reformation auf. In den folgenden zweihundert Jahren wird er vom Ausdruck «protestant» zurückgedrängt. Im 18. Jahrhundert tritt der Begriff im Zusammenhang mit der englischen Erweckungsbewegung wieder in Erscheinung. Als «Evangelicals» werden jetzt die Vertreter der Erweckungsbewegung innerhalb der Kirche Englands bezeichnet. Es handelt sich um Christen, die zum lebendigen Glauben erweckt wurden, die starre Rechtgläubigkeit der englischen Staatskirche hinter sich gelassen haben und im Vertrauen auf Christus den Grund ihres Heils sehen. Die Bibel ist für sie oberste Richtschnur des Glaubens. Aus diesem Glauben heraus sind sie sowohl missionarisch als auch diakonisch tätig. Sie sind theologisch konservativ, ziehen sich aber nicht auf die private Tugendhaftigkeit zurück, sondern nehmen aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft teil. Der eingedeutschte Begriff «evangelikal», den wir heute verwenden, bedeutet von seinen Wurzeln her darum «erwecklich».
Die englische Erweckungsbewegung führt zu einer Vielzahl von Gruppierungen und Missionsgesellschaften und damit zu einer Aufsplitterung des kirchlichen Lebens. In den grundlegenden Fragen aber nehmen die Evangelicals eine Einheit wahr, die über konfessionelle Grenzen hinweg verbindet. Diese Verbundenheit drückt sich hauptsächlich im Bekenntnis zur göttlichen Autorität der Heiligen Schrift aus und in der Ablehnung des theologischen Liberalismus, der in den grossen Kirchen Akzeptanz findet. In diesem Bewusstsein kommt es 1846 in London zur Gründung der «Evangelical Alliance». Mit ihr treten die Evangelicals erstmals als transkonfessionelle Bewegung in Erscheinung.
Die Vertreter aus den Vereinigten Staaten, die bei der Gründung der Alliance in London anwesend sind, bringen das Anliegen und den neuen Namen in die neue Welt und prägen damit eine ganze Nation. In den Vereinigten Staaten findet das evangelikale Gedankengut seinen Ausdruck in den Erweckungsbewegungen mit Jonathan Edwards, Charles Finney, Dwight Moody und anderen Persönlichkeiten. Bewegungen wie die Baptisten, Methodisten, Presbyterianer und die Ausbreitung der Heiligungsbewegung geben den Vereinigten Staaten eine tiefe evangelikale Prägung. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sind die Begriffe «evangelical» und «protestant» in den Staaten praktisch gleichbedeutend. Erst die Auseinandersetzung mit der modernen Bibelwissenschaft wird die Unterscheidung zwischen Protestanten und Evangelikalen bringen.
Die eigentlichen Wurzeln des Evangelikalismus sind also die Erweckungsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Christen verschiedener Bekenntnisse nehmen über denominationelle Grenzen hinweg eine Verbundenheit wahr. Durch die Zusammenarbeit verschiedener evangelikal gesinnter Gruppen will man biblisches Christentum und Mission fördern. Die Bewegung wird durch positive Anliegen geprägt. Sie ist theologisch konservativ, gleichzeitig aber weltoffen.
Doch dann kommt ein weiterer mächtiger Faktor hinzu: Das Zeitalter der Aufklärung bringt ein verändertes Weltbild hervor. Das Denken der Menschen beginnt sich aus der kirchlichen Bevormundung zu lösen und das traditionelle Schriftverständnis zu untergraben. Die Aufklärung dringt bis an die Wurzel der protestantischen Theologie vor und befeuert die moderne Bibelwissenschaft. Sie geht hauptsächlich von Deutschland aus, wo sie methodisch radikal durchgeführt wird, während die Entwicklung in der angelsächsischen Welt (bis heute) gemässigter verläuft. Zur selben Zeit unterminieren die Naturwissenschaften, vor allem der Darwinismus, traditionelle christliche Überzeugungen. Mit diesen weltanschaulich konkurrierenden Konzepten erwachsen dem konservativen Christentum, dem die Evangelikalen angehören, mächtige Gegenspieler. Die Auseinandersetzung mit ihnen verändert die Bewegung und prägt sie bis heute. Das gilt auch für das Schriftverständnis. Teile der evangelikalen Bewegung (hauptsächlich an ihren fundamentalistischen Rändern) definiert ihr Bibelverständnis in dezidierter Ablehnung zur modernen Bibelwissenschaft.
Die Entstehung des Fundamentalismus
Der weitere Weg der evangelikalen Bewegung wird zunächst von den Entwicklungen in den Vereinigten Staaten um die Wende zum 20. Jahrhundert geprägt. Der rasante Wandel in der Theologie und der Aufstieg der Naturwissenschaften wirkt im amerikanischen Protestantismus wie ein Spaltpilz. Eine zunehmende Zahl von Theologen empfindet die Aufrechterhaltung von traditionellen christlichen Anschauungen wissenschaftlich nicht länger als redlich. Von den «Konservativen», die am traditionellen Glaubensgut festhalten, werden sie als «Liberale» oder als «Modernisten» bezeichnet. Die Konservativen (später «Fundamentalisten» genannt) erkennen, dass der Aufbruch des theologischen Liberalismus folgenschwer ist und beginnen die Grundwerte des Glaubens zu verteidigen. Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen, die teilweise starkes mediales Aufsehen erregen. Je stärker der Liberalismus an den Fundamenten der Theologie rüttelt, desto mehr grenzen sich die traditionell gesinnten Kräfte ab.
Die Anschauungen der modernen Bibelwissenschaft und der Naturwissenschaften dringen gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer weiter in die amerikanische Gesellschaft vor. Die konservative Antwort auf diese Entwicklung sind «The Fundamentals». Es handelt sich um eine Serie von zwölf Ausgaben von Aufsätzen, die zwischen 1910 und 1915 eine Gesamtauflage von drei Millionen Exemplaren erreichen und heute in vier Sammelbänden vorliegen. In den Aufsätzen bringen Wissenschaftler theologische Standpunkte zur Geltung, die für den konservativen Protestantismus in den Vereinigten Staaten grundlegend sind. In kompetenter und sachgemässer Weise wird die ganze Bandbreite der christlichen Lehre definiert und gegen verschiedene Strömungen verteidigt.
Zu den wichtigsten Themen der insgesamt dreiundachtzig Artikel gehören die Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift, die Gottheit Jesu und seine leibliche Auferstehung. Kritik wird an Bewegungen wie dem Rationalismus, dem Darwinismus und der modernen Bibelwissenschaft geübt. Obwohl die Debatte anders verläuft als in der alten Welt (siehe Teil 1 dieser Serie), lässt sich feststellen, dass der Grundbestand des Glaubens im amerikanischen Fundamentalismus praktisch deckungsgleich mit dem der konservativen Kräfte in Deutschland ist.
Christen, die sich mit den Inhalten der «Fundamentals» identifizieren, werden als «Fundamentalisten» bekannt. Je heftiger die Auseinandersetzung anhält, desto stärker beginnen sich die Fundamentalisten über das zu definieren, was sie bekämpfen. Der Fundamentalismus wird zu einer reaktionären Angelegenheit, die immer weniger durch positive Anliegen auffällt.
Die «New Evangelicals»
Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt es zu einer innerprotestantischen Erneuerung. Diejenigen, die sich mit den Glaubensinhalten der Fundamentalisten identifizieren, aber nicht mit ihrer theologischen Enge, nennen sich jetzt «New Evangelicals» und knüpfen dadurch an die Ursprünge der evangelikalen Bewegung in England an. Die neuen Evangelikalen setzen sich unvoreingenommen mit den Herausforderungen der Gegenwart auseinander. Sie wollen nicht bloss bekämpfen, sondern in Übereinstimmung mit den ursprünglichen Anliegen der Bewegung auch gestalten. Sie legen Wert auf gründliche theologische Ausbildung, finden mit Billy Graham zeitgemässe Formen der Evangelisation und bemühen sich um Einheit.
Die Begeisterung der New Evangelicals strahlt bald auf Europa aus. Erweckliche Kräfte finden zusammen und bilden das, was die moderne evangelikale Bewegung genannt wird. Zu ihnen gehören die Pietisten, die Freikirchen und die bekenntnisorientierten Christen der evangelischen Landeskirchen in Deutschland. Die neue Dynamik wird von zwei Seiten angetrieben: Einerseits finden die erwecklichen Kräfte mit den New Evangelicals wegen des positiven Anliegens der Evangelisierung zusammen. Verbindende Figur ist Billy Graham. Anderseits entwickelt sich eine breit abgestützte Protestbewegung, die den konservativen Protesten im 19. Jahrhundert ähnlich ist. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts dringt die moderne Bibelwissenschaft in Form der Theologie von Rudolf Bultmann an die evangelische Basis vor. Für Bultmann ist der historische Glaube nicht wichtig. Jesus habe sich nicht als Sündopfer hingegeben und er sei nicht leiblich auferstanden, entscheidend sei allein der Glaube des Einzelnen.
Konservative und erweckliche Kräfte schlagen Alarm. Es formiert sich eine Protestbewegung, die beträchtliches mediales Aufsehen erregt. 1966 wird die Bekenntnisbewegung «Kein anderes Evangelium» gegründet, um Bultmanns Einfluss zurückzudrängen und aus konservativer Sicht Orientierung zu bieten. Die in ihr versammelten Christen bilden in der Folge den evangelikalen Flügel der Evangelischen Kirche Deutschlands.
In diesem Zusammenhang kommt es zu einer Bedeutungsverschiebung des Begriffs «evangelikal». Die ursprüngliche Bedeutung von «erwecklich» tritt in den Hintergrund. «Evangelikal» wird jetzt als kirchenpolitisches Kampfwort innerhalb der deutschen Landeskirchen verwendet, um die konservativen Kräfte von den «modernen» abzugrenzen.
Von den 1970er Jahren an wird der Evangelikalismus organisatorisch immer besser fassbar. Die «Evangelische Allianz» wird zum Sammelbecken, die erweckliche Christen vernetzt. Die Gespräche der evangelikal gesinnten Kräfte mit den Leitungen der Landeskirchen verlaufen ergebnislos. Die Evangelikalen beginnen darum, eigene Strukturen aufzubauen. Dazu gehört der Evangeliumsrundfunk (ERF), die Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen (AEM) und die Gründung von theologischen Ausbildungsstätten. Ende der 1970er Jahre ist dieser Vorgang so gut wie abgeschlossen. Die Evangelikalen haben sich in der Glaubenslandschaft des deutschen Sprachraums neben der Evangelischen Kirche und den Katholiken als dritte Kraft etabliert.
Die Post-Evangelikalen
Nach der Jahrtausendwende kommt es zu einer Ausdifferenzierung der bereits bunten Bewegung, die den Begriff des Post-Evangelikalismus hervorbringt. Der Begriff steht für ein Aufsplittern der evangelikalen Bewegung in verschiedene Milieus mit je eigenen theologischen Präferenzen. Ihre Ursprünge liegen in liberalen Aufbrüchen in England in den 1990er Jahren. Der anglikanische Priester Dave Tomlinson, ein Hauptvertreter des Post-Evangelikalismus (Tomlinson wuchs in einer Brüdergemeinde auf), beschreibt in seinem Klassiker «The post-evangelical» die entsprechende Entwicklung gut. Die Ansätze aus England und Einflüsse aus den Vereinigten Staaten im Zusammenhang mit der «Emerging Church» beginnen um die Jahrtausendwende auf den deutschsprachigen Raum einzuwirken.
Eine zunehmende Zahl von erwecklichen Christen verlassen als Folge dieser Entwicklung ihre evangelikale Heimat und wollen neue Wege gehen. Sie bilden Netzwerke, in denen sie ihren Glauben ohne theologisch vorgefertigte Antworten leben und für sich individuelle und persönlich tragfähige Bekenntnisse formulieren können. Theologische Standpunkte, die in der Anfangszeit der evangelikalen Bewegung eine evangelikale Identität förderten, verlieren ihre integrative Kraft. Traditionelle Glaubensgewissheiten brechen für viele weg, aber das empfindet man nicht als Verlust, sondern als Befreiung. In den Netzwerken findet man Gleichgesinnte, welche die theologische Rechthaberei, die Teile des Evangelikalismus prägen, hinter sich lassen. Die Glaubensinhalte, für die die Evangelikalen der ersten Stunde ihren guten Ruf und ihre akademische Stellung riskierten, verlieren an Bedeutung.
Man definiert sich weniger über das, was man glaubt, und mehr über das, was man als Christen in der Gesellschaft bewirken will. Ethische Positionen erfahren in kürzester Zeit tektonische Verschiebungen. Definierten sich bis zur Jahrtausendwende viele jüngere Evangelikale beispielsweise dadurch, dass sie Sexualität in der Ehe auslebten, erachtet eine zunehmende Zahl die Frage, ob sie Vegetarier werden sollten, als weitaus wichtiger.
Theologisch gehen die Bruchlinien, die früher zwischen den Evangelikalen und den «Modernen» verliefen, jetzt mitten durch das evangelikale Lager. Einige dieser postevangelikalen Gruppierungen vertreten progressive Standpunkte, an denen der Bezug zum Evangelikalismus gut erkennbar ist. Andere lösen sich ganz von evangelikalen Standpunkten oder geben das christliche Bekenntnis auf.
Fragen
Bedingt durch ihre Geschichte ist die evangelikale Bewegung theologisch äusserst vielgestaltig. Von fundamentalistischen Standpunkten am rechten Rand der Bewegung bis zur teilweisen Akzeptanz der Ergebnisse und Methoden der modernen Bibelwissenschaft hat viel Platz. Dadurch stellen sich Anfragen an das evangelikale Schriftverständnis.
Die Fundamentalisten stellen die Frage, ob die Evangelikalen nicht eine zu grosse theologische Weite aufweisen. Fundamentalisten möchten in theologischen Fragen eindeutige Standpunkte und glauben, dass sie durch gründliches Bibelstudium zu erreichen sind. In populären Formen des Fundamentalismus gibt es kaum eine Differenz zwischen «der biblischen Wahrheit» und «meinem Verständnis der Bibel». Das macht theologische Auseinandersetzungen schwierig, weil sie oft in Rechthaberei münden. Evangelikale sind eher bereit zuzugeben, dass zwischen ihrem Bibelverständnis und der biblischen Wahrheit stets eine Differenz besteht. Sie machen ernst mit der Tatsache, dass unsere Erkenntnis Stückwerk ist, und sind eher bereit, unterschiedliche theologische Standpunkte ungeklärt stehen zu lassen.
Die moderne Bibelwissenschaft stellt den Evangelikalen die Frage, ob sie die historische Gestalt der Bibel ernst genug nehmen. Sie werfen ihnen vor, zu schnell biblische Inhalte zu systematisieren. Sie glauben, dass es nötig ist, den biblischen Texten mit einem akademischen Zweifel zu begegnen und nur das gelten zu lassen, was vernünftig nachvollziehbar ist. Dem stellen die Evangelikalen entgegen, dass die Bibel nur mit einem Grundvertrauen gewinnbringend gelesen werden kann. Das Bekenntnis zur Bibel als Wort Gottes, dem wir vertrauen können und das Anspruch auf unser Leben erhebt, hält die vielfältige Bewegung zusammen.
Post-Evangelikale werfen den traditionellen Evangelikalen vor, in ethischen Fragen zu eng zu sein und Andersdenkende auszugrenzen. Sie kommen unter Anwendung der Methoden der modernen Bibelwissenschaft zu abweichenden Ergebnissen, etwa wenn es um die Frage geht, ob Homosexualität Gottes Schöpfungsabsichten entspricht. An der Diskussion wird deutlich, dass es hermeneutische Fragen sind (Fragen, welche die Regeln der Schriftauslegung betreffen), die darüber entscheiden, zu welchen ethischen Standpunkten man schlussendlich kommt.
Es ist klar, dass die Frage nach dem Schriftverständnis die evangelikale Bewegung in den nächsten Jahren stark beschäftigen wird. Die evangelikale Bewegung kann sich in Sachen Schriftverständnis keine Indifferenz (Gleichgültigkeit) leisten, sonst wird sie zwischen dem fundamentalistischen und dem postevangelikalen Flügel zerrieben.
Noch etwas rein Formales — aber Wichtiges für die Leser: Wenn ich 2/6 gelesen habe, will ich nicht lange suchen oder nochmals Googeln um Teil “3/6” zu finden. Dies ist aber jetzt (wo es halt alle 6 Teil gibt] so… und etwas unschön, auch sehr ungewöhnlich kompliziert für solche verketteten Blogs…
Ihr könnt das auch einfach umsetzen, und müsst meinen Kommentar nicht mal genehmigen..
Mit liebem Gruss,
Martin Mächler
Danke für diese Reihe.
Kein inhaltlicher Kommentar, sondern nur formal:
Im letzten Teil **Fragen** sind 3 Gruppen, sowohl fett hervorgehoben, als auch durch Absatz getrennt. Ich denke, da ist versehentlich die 4.Gruppe (oder 2. je nach Zählung), die *Evangelikalen*, zum Abschnitt der *Fundamentalisten* zugeführt worden, statt einen eigenen Absatz (und Fettschreibung) bekommen zu haben.
Vielen Dank für ‘danieloption.ch‘!