POSTMODERN. PROGRESSIV. POSTEVANGELIKAL. EINE EINORDNUNG
NACH EINEM VORTRAG AM 22. JUNI 2022
EINFÜHRUNG
Seit der Jahrtausendwende erodieren in der westlichen Welt konfessionelle Zugehörigkeiten und kirchliche Bindungen mit atemberaubender Geschwindigkeit. Auslöser dieser Dynamik ist die Postmoderne. Während die Landeskirchen diese Entwicklung schon länger existenziell spüren, ist seit der Jahrtausendwende auch der erweckliche Protestantismus in Gestalt der Freikirchen betroffen. Wer sich auf der religiösen Landkarte einen Überblick verschafft, stellt fest, dass sich der Evangelikalismus in der westlichen Welt in einer Krise befindet. [1]
Diesen Artikel habe ich ursprünglich als Fachreferat an der Tagung der Bundesleitungen der Freien Evangelischen Gemeinden gehalten und einige wenige Änderungen vorgenommen. [2] Es geht darum, die religiöse Situation theologisch und geschichtlich zu fassen und sich der Frage zu stellen, wie im postkonfessionellen Umfeld Kirche gebaut werden kann. Christlicher Glaube definiert sich nie nur durch Dogmen oder Abgrenzung, sondern ist auch auf die jeweilige Lebenswirklichkeit bezogen und muss sich in ihr bewähren. Daraus ergibt sich eine doppelte Aufgabe:
Wir stehen vor der Aufgabe zu definieren, was das Evangelium für die Postmoderne ist, und zu benennen, was ohne Wenn und Aber zum christlichen Glauben gehört. Wie können unsere Gemeinden anschlussfähig an die Postmoderne werden, ohne dass wir den Grundbestand des Glaubens und unsere ethischen Wertsetzungen preisgeben?

BEGRIFFE
Es gibt verschiedene Begriffe, mit denen die aktuelle Situation beschrieben wird. Ich möchte einführend die religiöse Landschaft skizzieren und die wichtigsten Begriffe historisch einordnen.
MODERNE UND POSTMODERNE
Die westliche Kultur befindet sich in einem epochalen Umbruch. Wir gehen von der Moderne mit ihrer Vernunftautonomie zur Postmoderne mit der Autonomie des Individuums über. Der gegenwärtige Umbruch lässt sich als einen von vier paradigmatischen Umbrüchen begreifen, welche die Kultur Europas geformt haben.
Der erste Umbruch erfolgte mit der Konstantinische Wende im 4. Jahrhundert. Sie katapultierte die Kirche aus der vorchristlichen Antike in das katholische Mittelalter und veränderte ihr Selbstverständnis. Die Kirche vor der Wende verstand sich als Gegenkultur zum griechisch-römischen Mainstream. Mit Konstantin wurde die Kirche selbst zum kulturellen Faktor. Die Kirchenväter und die christlichen Apologeten stellten sich der Aufgabe der Kontextualisierung des Evangeliums und verliehen ihm eine hellenistische Gestalt. Sie definierten den christlichen Glauben nach philosophischen Denkvoraussetzungen und verteidigten ihn erfolgreich.
Die Theologie wurde anschlussfähig an den Geist Griechenlands, bezahlte dafür aber einen Preis: Sie verlor ihre Verwurzelung im hebräischen Denken mit seinem integrierten Glaubensverständnis. Musste das als Kollateralschaden für die erfolgreiche Inkulturation des Evangeliums in Kauf genommen werden? Wie hoch darf der Preis sein? Diese Frage stellt sich heute den Evangelikalen, die sich als Gegenkultur zur Mehrheitsgesellschaft verstehen und den Anschluss an die Postmoderne suchen.
Der zweite Umbruch erfolgte mit der Reformation. Er war eng mit dem Humanismus verbunden, der vom 14. Jahrhundert an eine beeindruckende Blüte erlebte. Martin Luther las nicht nur das Neue Testament, sondern auch fleissig die Werke berühmter Humanisten. Von ihnen lernte er nach dem humanistischen Losungswort «Ad Fontes!» zu den Quellen zu gehen (in seinem Fall das Neue Testament) und Traditionen zu hinterfragen. Luther berief sich in einem epochalen Vorgang auf sein autonomes Verständnis der Schrift, als er vor dem Reichstag in Worms sagte, sein Gewissen sei «gefangen in Gottes Wort». Mit Luther verschaffte sich das autonome Gewissen einen festen Platz in der europäischen Geistesgeschichte.
Luthers Kritik an Autoritäten war eine Vorbedingung für den dritten Umbruch vom Mittelalter zur Moderne. Sie setzte spürbar mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert ein und weist mit der Französischen Revolution von 1789 ein fassbares Datum auf. Mit der Aufklärung setzte sich das kritische Denkvermögen des Menschen an die Stelle des mittelalterlichen Dogmas. Die von Luther erkämpfte Freiheit wurde jetzt dazu verwendet, Fundamentalkritik an der christlichen Weltanschauung zu üben. Die Aufklärung setzte eine Freiheitsgeschichte in Gang, die das christliche Abendland in seinen Grundfesten erschütterte und unsere Kultur bis heute prägt. [3]
Die Modernisierung Europas bereitete den Boden für die moderne Bibelwissenschaft mit ihrem rationalistischen Schriftzugang. Sie stürzte das protestantische Schriftprinzip (wonach die Schrift vor Tradition und Vernunft Vorrang hat) in eine Dauerkrise. Diese Krise trifft die evangelikale Bewegung, die sich dem protestantischen Schriftprinzip verpflichtet weiss, im Kern. Gesellschaftlich wirkte sich die Modernisierung in immer neuen Säkularisierungsschüben aus, die ab Mitte des 20. Jahrhunderts postmoderne Verhältnisse schufen.
Die Postmoderne (die eigentlich eine Spätmoderne ist) ist durch eine radikale Pluralisierung von Ansichten und Lebensentwürfen geprägt. Der moderne Freiheitsgedanke wird konsequent individualisiert. Dem Christentum wird die Rolle einer «alt gewordenen Religion» zugewiesen, die nicht mehr in die heutige Zeit passt, wie der Berliner Philosoph H. Schnädelbach angriffig formuliert. [4] Die subjektive Auflösung jeglichen Wahrheitsanspruchs fördert den Gedanken der Toleranz. Er überbietet seine mittelalterlichen und neuzeitlichen Vorformen und wird so dominant, dass er nicht mehr durch Gegentrends aufgefangen werden kann und zur gesellschaftlichen Grundverfassung wird. [5]
Der gegenwärtige Umbruch ist das jüngste Kapitel der westlichen Freiheitsgeschichte, in der sich die Gesellschaft radikal ausdifferenziert und die evangelikale Bewegung vor die Schicksalsfrage stellt, welches Verhältnis sie zur postmodernen Kultur einnimmt.
Digitalisierung führt zu Ausdifferenzierung. Der Faktor Internet fördert Blasen, die virtuelle Realitäten produzieren und Parallelwelten schaffen. Unterschiedlichste Milieus und bunte spirituelle Angebote existieren unverbunden nebeneinander. Immer mehr Menschen sind ihrer Umgebungskultur entfremdet. Das gilt sowohl für säkulare Menschen, die eine grundlegende Skepsis gegen den Staat und die Medien entwickeln, als auch für religiöse Menschen, die der christlichen Bekenntnistradition entfremdet sind. Die vom Christentum emanzipierte Gesellschaft ist im Grunde genommen nicht post, sondern plural konfessionell. Die Zeit der Identität stiftenden Bekenntnisse, die Epochen überdauerten, sind vorbei. «Konfessionen» gibt es jetzt nur noch in atomisierenden Kleinstteilen und ändern sich ständig.
POST-EVANGELIKALISMUS
Der Begriff «Post-Evangelikalismus» ist Ausdruck dafür, dass sich seit der Jahrtausendwende auch der erweckliche Protestantismus im Krisenmodus befindet. Ich verwende ihn, weil er sich im wissenschaftlichen Diskurs durchgesetzt hat.
Ein Post-Evangelikaler ist nach D. Tomlinson jemand, der so viele Überzeugungen evangelikalen Glaubens wie möglich bejaht, und gleichzeitig darüber hinausgeht. [6] Post-Evangelikale spüren eine tiefe Unruhe über traditionellen Glaubensinhalten und Formen. Sie stehen in kritischer Distanz zu theologischen Grundüberzeugungen ihrer Gemeinden oder verlassen sie. Im netzwerkartigen Verbund mit Gleichgesinnten formulieren sie eigene, für sie tragfähige Bekenntnisse.
Post-Evangelikale haben ein feines Gespür für religiöse Fehlleistungen und Rechthaberei. Ihre Kritik deckt auf, dass es in manchen Gemeinden Unerlöstes, Beengendes und Weltfremdes gibt. Obwohl mich vieles beunruhigt, was Post-Evangelikale als Lösung des Problems vorschlagen, sollten wir ihnen zuhören. Ihre Aufgeschlossenheit zeigt uns, welche Art von Glauben in einer pluralistischen Welt lebensfähig ist.
FUNDAMENTALISMUS
Seit der Post-Evangelikalismus auf der religiösen Landkarte erschienen ist, ist der erweckliche Protestantismus zunehmend von Polarisierungen betroffen. Insbesondere Fundamentalisten üben scharfe Kritik am postevangelikalen Aufbruch.
Ursprünglich handelt es sich beim Fundamentalismus um eine Bewegung innerhalb des konservativen Protestantismus in den Vereinigten Staaten. Der Begriff «Fundamentalismus» ist seit den 1920er Jahren üblich. Während konservative Protestanten in der Anfangszeit den Begriff mit Stolz auf sich bezogen, begegnet der Begriff heute praktisch nur noch als Fremdbezeichnung. Er hat sich als Bezeichnung für konservative Formen des Glaubens durchgesetzt, obwohl die Assoziationen mit dem Begriff negativer sind als der tatsächlich existierende Fundamentalismus.
Die evangelikale Bewegung im deutschsprachigen Raum hat starke fundamentalistische Ränder, weshalb von den Evangelikalen oft undifferenziert als Fundamentalisten gesprochen wird. Fundamentalisten zeichnen sich durch das Festhalten an der Inspiration und Autorität der Heiligen Schrift und eine konservative Ethik aus. Sie bieten über Generationen erprobte Glaubensbestände an, an denen sich messen muss, was das Prädikat «christlich» verdient. Problematisch ist die deterministische Eschatologie in Teilen des Fundamentalismus und die Tendenz zur Weltverneinung. [7]
KLASSISCHER EVANGELIKALISMUS
Zwischen diesen beiden Polen befindet sich der evangelikale Mainstream, der den überwiegenden Teil der Bewegung ausmacht. Er bildet eine breite Mitte auf der religiösen Landkarte und vereint unterschiedliche Ansichten und Traditionen auf sich.
Am besten lässt sich der evangelikale Mainstream in Abgrenzung von progressiven und fundamentalistischen Formen des Glaubens umreissen. Evangelikale sind gegen Homosexualität, gegen zu viel Sozialstaat, teilen den fundamentalistischen Kulturpessimismus aber nur bedingt. Diese Aufzählung, die in dieser Knappheit natürlich problematisch ist, fördert ein grundlegendes Problem zutage: Obwohl Evangelikale viele positive Glaubensinhalte verbinden, haben sie Probleme, sich in der Gesellschaft mit diesen Inhalten bemerkbar zu machen. Die Häufigkeit, mit der sie über das wahrgenommen werden, was sie ablehnen, wird ihnen nicht gerecht.
Bedingt durch seine Geschichte ist der Evangelikalismus ausserordentlich vielgestaltig. Zusammengehalten wird er durch das Bekenntnis zur Bibel als Wort Gottes. Die Bewegung hat sich im ausgehenden 20. Jahrhundert für die sozialethische Herausforderung geöffnet, ohne ihren Grundsätzen untreu zu werden. [8] Für die Herausforderungen der postmodernen Realität, ist sie meiner Einschätzung nach aber nicht gut gerüstet.
Der evangelikale Weltbezug weist eine gewisse Ambivalenz auf. Während Post-Evangelikale den Zeitgeist umarmen und Fundamentalisten sich ihm gegenüber resistent zeigen, stehen die Evangelikalen in kritischer Halbdistanz. Die Gefahr ist, dass der evangelikale Mainstream zwischen den Polen aufgerieben wird und Substanz an die Ränder verliert. Die Chance sehe ich darin, dass er eine eigenständige Mitte bildet. Er hat das Potenzial, eine Theologie zu schmieden, die anschlussfähig an die Postmoderne ist, ohne seine biblische Verankerung zu verlieren.
PROGRESSIVES CHRISTENTUM
Ich verwende das Wortpaar «progressives Christentum» als Überbegriff, um eine Theologie zu bezeichnen, die sich hauptsächlich aus dem liberalen Christentum speist und Glaubensformen anstrebt, die mit der postmodernen Toleranz vereinbar sind. Das progressive Christentum steht der Säkularisierung positiv gegenüber und hat die Tendenz, im Zeitgeist den Heiligen Geist am Werk zu sehen. Progressive Vordenker beteiligen sich aktiv an der Dekonstruktion des Glaubens. Im Mittelpunkt der entsprechenden Diskurse stehen Freiheiten für sexuelle Minderheiten, soziale Fragen sowie ökologische Gerechtigkeit.

WER SIND DIE POST-EVANGELIKALEN?
Bis in die 1980er Jahre kann von einem relativ homogenen evangelikalen Mainstream im deutschsprachigen Raum gesprochen werden. Es gab ein «evangelikales Kampfbündnis» gegen die moderne Bibelwissenschaft unter der Führung der «Bekenntnisbewegung kein anderes Evangelium». Zusammen mit einem missionarischen Anliegen wirkte der Kampf gegen liberale Formen des Glaubens Identität stiftend. [9] Von den 80er Jahren an begann sich die Deutsche Evangelische Allianz als entscheidende Kraft zu profilieren. Ihr ging es darum, positive Anliegen einzubringen und Christen aus Landes- und Freikirchen miteinander zu verbinden. Aus dem Kampfbündnis wurde ein Netzwerk, das sich zunehmend ausdifferenzierte.
Um die Jahrtausendwende gewann die evangelikale Ausdifferenzierung nochmals stark an Dynamik und brachte den Begriff des Post-Evangelikalismus hervor. Von dieser Zeit an sind vier wichtige Ströme in den evangelikalen Mainstream eingeflossen:
- 1995 tauchte in England zum ersten Mal der Begriff «Post-Evangelical» auf. Der Begriff diente als Selbstbezeichnung von Christen, die aus konservativem evangelikalem Hintergrund kamen und diesen als zu eng empfanden. Der anglikanische Priester D. Tomlinson, ursprünglich im christlichen Fundamentalismus beheimatet und postevangelikaler Vordenker, gibt in seinem Klassiker «the post evangelical» diesen Christen eine Stimme.
- Mitte der 1990er Jahre erreichte die britische Diskussion die Vereinigten Staaten. Die Ideen der britischen Post-Evangelikalen wurden aufgenommen und zu dem weiterentwickelt, was als «Emerging Church» bekannt wurde. R. Webber beschrieb 2002 in seiner Studie «The Younger Evangelicals» die Emerging Church und bot eine erste geschichtliche und theologische Einordnung. [10]
- Über Blogs und durch internationale Kontakte wurden die Anliegen des britischen Post-Evangelikalismus und der amerikanischen Emerging Church in Deutschland wahrgenommen. 2006 wurde der Koordinationskreis «Emergent Deutschland» gegründet. Er versteht sich als Netzwerk, das Fragen zu Kirche, Theologie, Kultur und Gesellschaft unter den Voraussetzungen der Postmoderne in «sicheren Räumen» diskutieren will. [11]
- Seit den 2010er Jahren macht die Plattform «Worthaus» von sich reden. Worthaus möchte nach eigenen Angaben Einsichten der modernen Bibelwissenschaft zugänglich machen und einen unverstellten Blick auf den christlichen Glauben ermöglichen. Viele Post-Evangelikale können sich mit den Inhalten von Worthaus identifizieren. Es kommt zu einer Annäherung zwischen evangelikalem Glauben und moderner Bibelwissenschaft. Mit Worthaus fliesst ein akademischer Strom in das Geschehen ein, der eine grundlegende Akzeptanz bibelkritischer Ansichten ermöglicht. Ging es in der emergenten Diskussion vor allem um Gottesdienstformen, persönliche Spiritualität und Gesellschaftsverantwortung, verhilft Worthaus in diesem Prozess zu einem akademischen Unterbau.
Von 2015 an können wir von einer postevangelikalen Szene im deutschsprachigen Raum sprechen. 2019 bringt das Buch von M. Till «Zeit des Umbruchs» das postevangelikale Phänomen sowie den Begriff selbst einer breiten Öffentlichkeit zu Bewusstsein. [12]

MERKMALE DES POSTEVANGELIKALISMUS
In den postevangelikalen Debatten im deutschsprachigen Raum werden im Wesentlichen dieselben Fragen diskutiert wie im angelsächsischen Raum und in der Emerging Church. Trotz der unterschiedlichen Ausgangslage korrelieren die Antworten in auffallender Weise. [13] Die Emerging Church löste sich ab den 2010er Jahren in verschiedene Richtungen auf. Als Bewegung ist sie kaum noch fassbar, ihre Kritik an konservativen Formen des Glaubens lebt im Post-Evangelikalismus weiter. Unter der Oberfläche einer enormen Fluidität werden verbindende Merkmale zwischen der Emerging Church und dem Post-Evangelikalismus sichtbar, von denen ich die wichtigsten beschreibe.
EMIGRATION
Wenn man sich mit postevangelikalen Biografien beschäftigt, stellt man fest, dass Kritik an der Theologie des evangelikalen Mainstreams und der Protest gegen kulturell konservative Formen des Evangelikalismus Teil der postevangelikalen Identitätskonstruktion ist.
Postevangelikale stehen unter dem Eindruck, dass die evangelikale Bewegung stark mit der Moderne mit ihren eindeutigen Wertsetzungen und der Tendenz zum Dogma verbunden ist. Sie setzen sich kritisch mit der eigenen Geschichte auseinander, insbesondere mit dem Bibelverständnis in ihren Gemeinden, mit Machtstrukturen und der Sexualethik. In diesem Prozess der theologischen Selbstfindung stellt sich ein Gefühl der Entfremdung ein, das zur Transformation der religiösen Orientierung und in manchen Fällen zur Dekonstruktion des Glaubens führt.
NEUKONSTRUKTION
Trotz der zum Teil scharfen Kritik ist der Post-Evangelikalismus mehr als eine Protestbewegung. Das eigentliche Anliegen liegt nicht in der Dekonstruktion des Glaubens, sondern in seiner Neukonstruktion unter den Voraussetzungen der Postmoderne. [14]
Postevangelikale stellen traditionelle Formen und Inhalte in Frage, um im Rahmen der Postmoderne sprachfähig mit dem Evangelium zu werden. Die Neukonstruktion findet auf Feldern statt, die für Evangelikale Identität stiftend sind. Die wichtigsten Felder, auf denen die Debatte geführt wird:
- In ethischen Fragen lassen Post-Evangelikale traditionelle Standpunkte hinter sich und suchen aus der Bibel Lebensentwürfe abzuleiten, die mit der postmodernen Toleranz kongruent sind. In der Regel wird Homosexualität befürwortet, polyamoröser Lebensstil steht unter Diskussion. Als ich das Fachreferat hielt, wurde Homosexualität von Postevangelikalen in der Regel befürwortet, polyamouröser Lebensstil stand unter Diskussion. Heute, vier Jahre später, ist beides offenbar breit akzeptiert. [15]
- In theologischen Fragen kann der Versuch beobachtet werden, eine dualistische Geschichtsschau zu überwinden. Gegensätze wie Himmel und Hölle oder Kirche und Welt verlieren an Erzählkraft oder spielen keine Rolle mehr.
- In gesellschaftlichen Fragen suchen Post-Evangelikale Anschluss an die postmoderne Lebenswelt. Sie lassen sich von der Liebe Gottes motivieren, um heilsam mit dem Evangelium in die Welt hineinzuwirken. Gemeinschaft ist ihnen wichtiger als Strukturen. Sie möchten zu einem glaubwürdigen Lebensstil anstiften, der persönliche, soziale und ökologische Gerechtigkeit umfasst.
Durch die Neukonstruktion des Glaubens entsteht in postevangelikalen Debatten eine neue Erzählstruktur des Evangeliums. Diese Erzählstruktur gilt es zu verstehen, um zu erkennen, welches die Chancen sind, die sich mit dem postevangelikalen Aufbruch verbinden und wo die Gefahren liegen.
Im Post-Evangelikalismus lässt sich eine Verschiebung von einer Kreuzestheologie zu einer Theologie des Königreichs feststellen. Mit dieser Verschiebung verbindet sich die Chance, die evangelikale Theologie näher an die Lebenswelt des postmodernen Menschen heranzuführen. Die Gefahr liegt darin, dass sich das Heilsverständnis wesenhaft verändert. Die soteriologische Dimension des Heils wird von Post-Evangelikalen zum Teil unreflektiert um die soziale erweitert.
Im neuen Narrativ, das sich aus dieser Verschiebung ergibt, geht es nicht um die Herausrettung aus der Welt in ein jenseitiges Reich, sondern um das heilsame Hineinwirken mit dem Evangelium in die Gegenwart. Das Problem mit dieser neuen Erzählstruktur besteht nicht in der Wiederentdeckung der Königsherrschaft an sich. Die Gefahr besteht darin, dass die Kreuzestheologie durch die Theologie der Königsherrschaft verdrängt werden kann und so neue Einseitigkeiten entstehen.
Obwohl in postevangelikalen Entwürfen der direkte Bezug zur ökumenischen Missionstheologie der 1960er und 70er Jahre meiner Beobachtung nach fehlt, vollzieht sich hier ein ähnlicher Gestaltwandel des Evangeliums mit auffallend ähnlichen theologischen Parametern und Argumentationsstrukturen. [16]
In postevangelikalen Debatten tritt neben einem starken Interesse an theologischen Fragen dezidiert eine antidogmatische Attitüde zu Tage. Es ist auffallend, «dass propositionelle und dogmatische Zugänge einheitlich kritisch gesehen werden und theologische Aussagen kontextuell verortet werden und als plural verstanden werden.» [17] In der kritischen Distanz zu Dogmen widerspiegelt sich das postmoderne Unbehagen gegenüber Standpunkten mit potenziell ausschliessendem Charakter. Der Verzicht auf theologische Klarheit wird von Postevangelikalen nicht als Mangel empfunden, sondern als Zeichen geistlicher Reife interpretiert. Glaube wird weniger als bekenntnisartiges Festhalten an transzendenten Wahrheiten verstanden und mehr als Reise mit offenem Ausgang.
INSPIRATION
Zur methodischen Herleitung und theologischen Sicherung der Neukonstruktion des Glaubens beziehen Post-Evangelikale wesentliche Inspiration von der modernen Bibelwissenschaft.
Tomlinsons Schriftverständnis widerspiegelt den postevangelikalen Ansatz gut. [18] Tomlinson geht davon aus, dass die Bibel Fehler, Irrtümer und Diskrepanzen aufweist und stellt die Frage, inwiefern sie unter diesen Voraussetzungen «Gottes Wort» sein könne. Die Lösung findet Tomlinson in der Angleichung an die moderne Bibelwissenschaft mit ihrem kritischen Schriftzugang. Die Bibel «sei» nicht Offenbarung, sondern «bezeuge» sie. Sie sei deshalb nicht an sich Gottes Wort, sondern «werde» für den Gottes Wort, der sie im Glauben lese. Dieser Mittelweg zwischen Kritik und traditioneller Auslegung eröffnet postevangelikale Spielräume. Unter der Voraussetzung, dass die biblischen Verfasser keinen fehlerlosen Text verfassten, sondern unter Umständen ihre begrenzte Sichtweise wiedergaben, können Fragen der Sexualmoral, die Bedeutung der nichtchristlichen Religionen oder der Sühnetod Jesu neu interpretiert werden.
Obwohl manche Positionen von Post-Evangelikalen dem Etikett «liberal» zugeordnet werden können, ist das Ziel nicht Emanzipation von der Schrift. Man will stattdessen dogmatische Zugänge überwinden und einen ehrlichen, ergebnisoffenen Umgang mit der Schrift fördern, der den Test des postmodernen Wirklichkeitsverständnisses besteht. Ob das gelingt, werde ich in einem weiteren Artikel mit dem Titel «Kein Platz für Wahrheit?» untersuchen.
Tomlinsons Schriftverständnis korreliert in auffallender Weise mit dem moderat kritischen Ansatz von S. Zimmer. Mit seinen Worthaus Referaten über das fundamentalistische Bibelverständnis und die moderne Bibelwissenschaft hat Zimmer wesentlich zur Akzeptanz der kritischen Schriftauslegung unter Post-Evangelikalen beigetragen. [19]

DEKONVERSION
In postevangelikalen Aufbrüchen zeigen sich Merkmale dekonversiver Prozesse. Dekonversion ist die grundlegende Veränderung der religiösen Identität. Sie kann als Prozess beschrieben werden, in dem ein Individuum seine religiöse Orientierung samt der Gemeinschaft, die diese vermittelt, hinter sich lässt und sich weltanschaulich und religiös neu orientiert.
In ihrer aufwändigen empirischen Studie beschreiben Streib et al. dekonversive Prozesse in Deutschland und den Vereinigten Staaten. Sie unterscheiden sechs verschiedene Verläufe von Ausstiegsprozessen aus religiösen Organisationen und messen diese am Grad der Integration in die Gesellschaft: [20]
- Beim Umstieg («religious switching») wechselt jemand von einer Organisation oder Gruppe zu einer Gruppe mit ähnlichen Anschauungen und Praktiken, ohne dass der Grad der Integration in die Gesellschaft verändert wird.
- Beim integrierenden Ausstieg («integrating exit») verlässt jemand seine Organisation, um sich einer neuen anzuschliessen, die sich von der alten dadurch unterscheidet, dass sie stärker in die Gesellschaft integriert ist.
- Beim oppositionellen Ausstieg («oppositional exit») lässt jemand sein religiöses Umfeld hinter sich, um sich einer Organisation mit stark abweichenden Anschauungen und Praktiken anzuschliessen, die nur marginal in die Gesellschaft integriert ist.
- Beim privatisierenden Ausstieg («privatizing exit») gibt jemand die Zugehörigkeit zu einer Gruppe auf und praktiziert seinen Glauben nur noch im Bereich des Privaten.
- Beim häretischen Ausstieg («heretical exit») verlässt jemand seine Organisation oder Gruppe und nimmt einen völlig neuen Glauben an und praktiziert diesen ohne formale Bindung an eine Organisation.
- Beim säkularen Ausstieg («secularizing exit») gibt jemand sowohl seinen Glauben als auch die Verbindung zu einer Organisation oder Gruppe auf.
Überträgt man die Matrix von Streib auf die postevangelikale Szene, stellt man fest, dass theologisch interessierte Emigranten in der Regel zu den «integrating exits» oder den «secularizing exits» gehören. Sie lassen religiöse Deutungssysteme und Gruppen, die sie als einengend empfinden, hinter sich und finden sich in Gemeinden oder Netzwerken ein, die stärker an das postmoderne Lebensgefühl angeschlossen sind. Andere sagen sich von ihrem Glauben los und bezeichnen sich nicht mehr als Christen. Neben ihnen gibt es eine wachsende Zahl von Christen aus evangelikalen Gemeinden, die sich ohne vertiefte theologische Reflexion in den digitalen Raum mit seinen bunten religiösen Angeboten verabschieden und ihren Glauben privat leben («privatizing exits»).
Die Motive in diesen Ausstiegsprozessen und das individuelle Erleben der Emigranten weichen je nach Biografie und Kontext stark voneinander ab. Trotzdem werden wiederkehrende Merkmale erkennbar. P. Todjeras beschreibt in Anlehnung an Streib fünf Merkmale dekonversiver Prozesse: [21]
ZWEIFEL
Die intellektuelle Diskrepanz zwischen dem, was Emigranten in ihren Gemeinden vermittelt wird, und dem, was sie selbst für ihren Glauben als stimmig erachten, führt zum Zweifel. Am häufigsten werden die Diskrepanz zwischen Theologie und Wissenschaft sowie Glaube und Vernunft genannt. Für viele ergeben sich dadurch Schwierigkeiten im Umgang mit der Bibel, deren Autorität sie in Frage stellen, mit dem Gottesbild, das sie als unzeitgemäss empfinden, und mit Fragen zu Gericht und Hölle, die sie nicht mit einem Gott der Liebe zusammen denken können.
Meiner Beobachtung nach spielen auch existenzielle Fragen eine wichtige Rolle, insbesondere die Theodizee. Bei manchen postevangelikalen Exits scheint das Fehlen einer Theologie des Leidens sie unerwartet zu treffen. Wenn eigenes Leid über sie hereinbricht oder sie sich mit fremdem Leid beschäftigen, bricht ihr Glaubensfundament weg, weil sie eine leidende Welt nicht zusammen mit einem allmächtigen und gütigen Gott denken können. Wenn meine Einschätzung stimmt, ist für eine zunehmende Zahl der «offene Theismus» eine Möglichkeit, dieser Agonie zu entfliehen.
KRITIK
Dekonvertiten üben dezidiert Kritik an ihrer alten Heimat. Spezifische Vorschriften der Gemeinschaft werden als einengend empfunden. Sie fühlen sich als religiöses Individuum nicht gewürdigt und weisen Vorgaben der Gemeinschaft als unangemessen zurück. Häufig ist damit der Vorwurf der Heuchelei verbunden, weil die Gruppe dem Ideal, das gepredigt wird, nicht gerecht werden kann.
LEIDERFAHRUNG
Kränkungen durch Angehörige der Kirche oder Organisation wie Seelsorger, Gemeindeglieder oder Pfarrer führen zu Empörung und schaffen eine Distanz zur Gemeinschaft.
ENTFREMDUNG
Intellektuelle Zweifel und emotionale Leiderfahrung führen zu einem Gefühl der Entfremdung und schliesslich zum Ausstieg aus der Gemeinschaft. Der Verlust von sozialen Beziehungen wird als einschneidend empfunden und kann zu sozialer Instabilität und gesundheitlichen Problemen führen.
VERLUST
Der Verlust der eigenen religiösen Gestimmtheit und der Bruch von sozialen Bindungen führt zu einem Verlust von religiöser Erfahrung, so dem Verlust von Sinngebung, Gotteserfahrung oder Vertrauen. Die vollzogene Loslösung kann aber auch zu einem Gefühl des Befreitseins und der inneren Lebendigkeit führen. Die negativen Dimensionen des Zweifels, der diese Loslösung angestossen hat, und die Gefahr eines Glaubensverlusts spielen in postevangelikalen Debatten und Biografien kaum eine Rolle. An den Biografien von prominenten postevangelikalen Exits zeigt sich, dass einige von ihnen sich schlussendlich ganz von christlichen Glaubensvorstellungen lösen und sich östlichen Religionen zuwenden oder als Atheisten bezeichnen.

«A NEW KIND OF EVANGELICALISM»
Mit dem Umbruch von der Moderne zur Postmoderne entstehen neue Deutungsmuster, Lebenszusammenhänge und Identitäten. Mit dem Phänomen des Post-Evangelikalismus haben diese auch unsere Gemeinden erfasst. Webber spricht im Zusammenhang mit der Emerging Church von einem «new kind of evangelicalism». [22]
Ed Stetzer hat in einem kurzen, aber stark beachteten Artikel drei Typen von emergenten Leitern und Pastoren ausgemacht: [23]
- «Relevants» entwickeln Gottesdienstformen, die relevant für Kirchendistanzierte sind. Sie bemühen sich im Rahmen einer klassischen evangelikalen Theologie um verständliche Verkündigung.
- «Reconstructionists» glauben, dass die Gemeindestrukturen der Evangelikalen nicht hilfreich sind und optieren für die «inkarnatorische» Kirche, die zu den Menschen geht, anstatt sie anzuziehen. Dieses Anliegen lebt in missionalen Gemeindeansätzen weiter.
- «Revisionists» gehen einen Schritt weiter und stellen die evangelikale Theologie und das Schriftverständnis in Frage oder lassen es hinter sich.
Diese Klassifizierung lässt sich ohne weiteres auf den Post-Evangelikalismus anwenden. Im geplanten Artikel «Kein Platz für Wahrheit?» beabsichtige ich, Stetzers Klassifizierung auf die aktuelle Situation anzuwenden und zu zeigen, wohin die Reise der Postevangelikalen führt.
Vergleicht man den Post-Evangelikalismus mit anderen evangelikalen Spielarten, wird deutlich, dass der Post-Evangelikalismus an entscheidenden Stellen über die Grenzen evangelikalen Glaubens hinausgeht, so dass sich die Landschaft des erwecklichen Protestantismus gegenwärtig stark verändert.
Im Anschluss an die emergenten Revisionisten kann das qualitativ Neue am Post-Evangelikalismus dreifach beschrieben werden:
Erstens kann eine radikale Bezogenheit auf die Welt und in Teilen der Bewegung eine positive Haltung zur Säkularisierung konstatiert werden.
In postevangelikalen Debatten scheint die Welt der Kirche konsequent vorgeordnet zu sein. Die Kirche wird nicht als «insularen Rückzugsraum» aus einer verdorbenen Welt verstanden, sondern als «solidarisch auf die Welt bezogen». [24] Diese Stossrichtung findet sich auch in missionalen Ansätzen, allerdings mit einer missionarischen Intention ohne säkularisierende Tendenzen. [25]
Wo liegen die Chancen dieser Entwicklung? Wo die Gefahren?
Die Weltzugewandtheit der Post-Evangelikalen bietet die Möglichkeit, die Weltverneinung zu überwinden, in der Teile des Evangelikalismus immer noch verhaftet sind. Gleichzeitig ist die radikale Bezogenheit auf die Welt Anlass zur Besorgnis. Wenn die grösste Not der Menschen nicht ihre Verlorenheit ist, sondern der Mangel an Liebe und Gerechtigkeit in der Welt, und wenn Sünde ein Fehler oder eine Charakterschwäche ist statt Rebellion gegen Gott, wird der Missionsbegriff umgedeutet und das Evangelium wesenhaft verändert.
Wenn postevangelikale Revisionisten die eingeschlagene Richtung weiterverfolgen, wird es zur selben humanistischen Verflachung kommen, wie in der ökumenischen Missionstheologie der 1960er und 70er Jahre. Damit wären wir wieder bei einem status confessionis, der wesentlich zur Bildung der evangelikalen Bewegung im deutschsprachigen Raum beigetragen hat. [26] Die Folge wäre eine weitere Aufsplitterung der religiösen Landschaft, welche evangelikal ausgerichtete Gemeinden und Verbände existenziell treffen würde. Hier stehen Gemeinden und Verbände vor der Frage, ob sie vom Gedanken der Einheit ausgehend eine grösstmögliche Vielfalt anstreben oder sich vom Wahrheitsbegriff her definieren und theologische Grenzen markieren sollten.
Aus der radikalen Bezogenheit auf die Welt entsteht zweitens im Rahmen des Freiheitsgedankens eine plurale Sexualethik, die sich markant von traditionellen Standpunkten unterscheidet.
Die Offenheit gegenüber unterschiedlichsten Lebensentwürfen nährt sich ähnlich wie in progressiven Ansätzen am Gedanken der Liebe Gottes. Die Liebe dient als Metakriterium, die ein Übergewicht gegenüber restriktiven Aussagen der Bibel zu Fragen der Sexualethik erhält. Die Weigerung, Normen und Lebensformen aus der Bibel abzuleiten, die über den Gedanken der Liebe und der Einvernehmlichkeit hinausgehen, trägt deutliche Spuren eines pluralistischen Wahrheitsverständnisses.
Geistesgeschichtlich gesehen ist die postevangelikale Sexualethik eine christliche Ausformung des säkularisierten Freiheitsgedankens, der seinen Ausgang in der Aufklärung nahm. Die Aufklärer lösten den Freiheitsgedanken aus seiner Bezogenheit auf den christlichen Gott heraus und rückten das kritische Individuum ins Zentrum. Die Ausdifferenzierung der westlichen Gesellschaft in unterschiedliche sexuelle Identitäten ist die konsequente Weiterführung und Überbietung des modernen Freiheitsgedankens, der sich seiner christlichen Wurzeln entledigt hat.
Das kritische Schriftverständnis der modernen Bibelwissenschaft bietet drittens den hermeneutischen Unterbau zur postevangelikalen Neuorientierung.
In postevangelikalen Debatten spielt «das zunehmende Bejahen einer historisch-kritischen Perspektive» eine zentrale Rolle. [27] Die wachsenden Differenzen zwischen dem evangelikalen Mainstream und dem Post-Evangelikalismus in ethischen und weltanschaulichen Fragen ist meiner Einschätzung nach den Unterschieden im Schriftverständnis geschuldet.
Im klassischen Evangelikalismus ist Bibel das von Menschen verfasste und von Gottes Geist inspirierte Wort, das sich dem Glauben erschliesst und unfehlbar mit dem Willen Gottes bekanntmacht. Im Post-Evangelikalismus ist die Bibel menschliches Zeugnis über Gott, das geistliche Orientierungskraft besitzt, aber in den Bereich des Menschlichen mit seiner Irrtumsfähigkeit gehört und deshalb zeitgebundene Aussagen enthält, wie etwa Siegfried Zimmer argumentiert. [28]
Postevangelikale Revisionisten tragen das evangelikale Inspirationsverständnis nicht mit und gehen wie in kritischen Ansätzen stärker von der menschlichen Seite der Bibel mit ihren spannungsvollen Aussagen aus. Das ermöglicht es ihnen, Kritik an biblischen Texten zu üben und sie im Rahmen eines postmodernen Wahrheitsverständnisses anders zu interpretieren. Kritik an der Bibel ist aus ihrer Sicht sachgemäss und nicht mit Kritik an Gott gleichzusetzen, weil zwischen Gott und der Bibel eine Wirkungseinheit, aber keine Wesenseinheit angenommen wird.
Der Blick auf das Schriftverständnis rechtfertigt meines Erachtens die Rede von einem «new kind of evangelicalism». Während praktisch alle evangelikalen Spielarten wie Allianzevangelikale, Bekenntnisevangelikale und Migrantengemeinden ein klassisches Schriftverständnis vertreten, schliessen sich Postevangelikale kritischen Zugängen an. Gingen die hermeneutischen Bruchlinien früher zwischen evangelikal und liberal hindurch, gehen sie heute mitten durch die evangelikale Bewegung.

KRISENPHÄNOME VERSTEHEN
Paradigmatische Umbrüche lösen in unregelmässigen Abständen Krisen aus. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass wir uns gesellschaftlich und theologisch mitten in tektonischen Verschiebungen befinden. Einerseits stellen diese den Grundbestand des Glaubens in Frage, anderseits bieten sie die Möglichkeit, den Anschluss an die postmoderne Lebenswelt zu finden. Folgende Dimensionen treten in den Vordergrund:
- Hermeneutisch geht es um die Frage, ob wir von der Bibel noch uneingeschränkt als Gotteswort sprechen können oder ob es als Menschenwort kritisch relativiert werden muss. Theologiegeschichtlich gesprochen befindet sich die Dauerkrise des protestantischen Schriftprinzips in einer neuen und entscheidenden Phase. [29]
- Ethisch sind wir vor die Entscheidung gestellt, ob die biblische Sexualethik verbindlich bleibt oder ob es sich bei den entsprechenden biblischen Texten um Kontext bedingte Aussagen handelt, die keine Gültigkeit über ihre eigene Zeit hinaus beanspruchen. Hier ist sich der hermeneutischen Weichenstellungen in ethischen Fragen bewusst zu sein.
- Soteriologisch wird die Frage diskutiert, ob Jesus ein «sacrifice» zur Sühnung unsere Sünden ist oder ob er als «victim» einer ungerechten Gesellschaft starb. Hier geht es um die Frage, ob für die evangelikale Mitte weiterhin die soteriologische Deutung des Kreuzesgeschehens im Vordergrund steht, oder ob das Kreuz ethisiert wird.
- Gesellschaftlich stellt sich die Frage, wie weit die Evangelikalen auf einer Skala von dezidierter Weltverneinung (wie sie in Teilen des Fundamentalismus zu finden ist) zu aktiver Weltgestaltung (wie sie in missionalen Ansätzen und postevangelikalen Entwürfen vorgetragen wird) gehen können und wollen.
Die gesellschaftliche Dimension des gegenwärtigen Umbruchs dient als Reminder, dass mit dem Übergang zur Postmoderne nicht nur die Gefahr eines Glaubensverlusts besteht, sondern dass sich der evangelikalen Bewegung auch die Möglichkeit bietet, zu mehr Gesellschaftsrelevanz aufzubrechen.
Um diese Möglichkeit zu nutzen, muss man Krisenphänomene verstehen, weil man nur durch ein entsprechendes Verstehen richtig auf Umbrüche reagieren kann. Um was es geht, zeigt sich am besten, wenn man mit dem Fundamentalismus und dem progressiven Christentum die Pole der religiösen Landschaft in den Blick nimmt.
Sowohl der Fundamentalismus als auch das progressive Christentum sind Krisenphänomene:
Der Fundamentalismus ist nach Jörg Lauster ein «Krisenphänomen der Moderne». [30] Durch die Aufklärung kam es zu einem Rückbau des religiösen Weltgebäudes auf seinen vernünftig gesicherten Grundbestand. Transzendente Wahrheiten wurden nur noch widerwillig aus der Schrift abgleitet oder durch einen methodischen Atheismus im theologischen Wissenschaftsbetrieb ausgeschlossen.
Der Fundamentalismus reagierte auf diese Entwicklung «durch eine brachiale Setzung von Eindeutigkeit in der Diagnose und in den Therapievorschlägen für die Krise». [31] Die Fundamentalisten zeigten sich resistent gegen den Zeitgeist und verteidigten die Grundwahrheiten des Glaubens. Sie entwickelten einen ausgesprochenen Kulturpessimismus und zogen sich von weltlichen Angelegenheiten zurück. Es spricht für den Fundamentalismus, dass trotz der Überzeugung, die Welt sei unreformierbar, sich missionarische Bemühungen auch mit sozialem Engagement verbanden.
Progressive Formen des Christentums sind ein Krisenphänomen der Postmoderne. Nachdem sich das moderne Versprechen auf eine allgemeingültige Vernunftwahrheit nicht eingestellt hat, ist alles relativ. Religion ist nach postmoderner Weltsicht ein hilfloser und vormoderner Versuch, die Wahrheit zu fassen. Ethische Wertsetzungen sind in diesem Weltbild blosse menschliche Angelegenheiten und können nicht verbindlich sein. Jeglicher Wahrheitsanspruch muss in eine Krise geraten, weil die Postmoderne axiomatisch auf die Rede von Wahrheit verzichtet. Progressive Formen des Glaubens sind Ausdruck davon, dass der weltanschauliche Relativismus im Grundsatz akzeptiert worden ist. Relativismus wird nicht als Kollateralschaden wahrgenommen, der für den Anschluss an die postmoderne Lebenswelt in Kauf genommen werden muss, sondern gilt als intellektuell redlich und alternativlos.
Fundamentalistische und progressive Ansätze sind attraktiv, weil sie vermeintliche Sicherheiten bieten:
Der Fundamentalismus bietet Sicherheit vor einer gefährlichen und bösen Welt. Konservativ eingestellte Menschen sind nicht selten von der anziehenden Kraft einseitiger Ansichten fasziniert und anfällig für Verschwörungstheorien. Identität wird massgeblich durch Ablehnung definiert. Während in den Anfängen der evangelikalen Bewegung Gruppen mit fundamentalistischer Grundausrichtung wie etwa die Heilsarmee, sich gesellschaftlich engagierten, drücken sich heute viele Fundamentalisten vor der Weltverantwortung und ziehen sich in die private Tugendhaftigkeit zurück. Sie sind aufrichtig in ihrem Glauben, aber sie tragen kaum etwas zu einer besseren Welt bei. Sie bewirtschaften Probleme, aber helfen selten, sie zu lösen.
Das progressive Christentum dagegen bietet Sicherheit vor dem Zeitgeist. Progressive Ansichten sind politisch korrekt, weil sie mit dem Gedanken der Toleranz kongruent sind. Wer progressiv denkt, muss sich nicht für die Torheit des Kreuzes schämen und wird wegen seinen ethischen Überzeugungen nicht kritisiert. Liberalen Gruppierungen ist der Applaus der Medien sicher, wenn sie Homosexualität zur Schöpfungsvariante erklären. Bloss: Wer der Wirklichkeit die Schleppe nachträgt, muss sich fragen, was das spezifisch Christliche an seinen Ansichten ist.
Der Evangelikalismus hat bedingt durch seine Geschichte die Tendenz, Identität durch Abgrenzung zu definieren. Die fundamentalistischen Ränder haben bereits mit massiver Kritik reagiert. Ich fürchte, dass Teile der Bewegung sich zu sehr darauf verlegen, Bollwerke gegen progressive Ansichten zu errichten, so dass die berechtigten Anfragen nicht gehört werden. Damit wäre eine historische Chance vertan.
Ich bin überzeugt:
Krisen werden nicht überwunden, indem man Bollwerke errichtet, sondern durch das demütige Hören auf die Kritiker, durch eine wissenschaftlich verantwortbare Reflexion im Einvernehmen mit der Schrift und die Bereitschaft zur Veränderung. Eine solche Reflexion möchte ich im abschliessenden Teil bieten.

DIE AUFGABE VOR UNS
Ausgehend von der Ausgangsfrage, wie unsere Gemeinden anschlussfähig an die Postmoderne werden können, ohne den Grundbestand des Glaubens und unsere ethischen Wertsetzungen preiszugeben, möchte ich von einer doppelten Aufgabe sprechen, die vor uns liegt. [32]
EINE GESUNDE AMBIGUITÄTSTOLERANZ ANSTREBEN
Die Postmoderne ist durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen geprägt, um einen Ausdruck von Jörg Lauster zu verwenden. [33] Unterschiedliche Ansichten prallen aufeinander oder existieren nebeneinander. Menschen, Ansichten und Identitäten sind ständig in Bewegung. Die fluide Gesellschaft ist eine Realität. Sie wird in den kommenden Jahren unseren Lebensstil, unser Denken und Handeln zutiefst prägen. Die Kirche kann sich dieser Lebenswelt nicht entziehen, sondern muss sich in dieser Wirklichkeit bewähren.
Wir gehen in eine neue Normalität über, in der sich die sich ständig wandelnde Gesellschaft in unseren Gemeinden in einer theologischen Binnenpluralisierung sowie ethischen Werteverschiebungen widerspiegelt.
Um dieser Herausforderung zu begegnen, müssen wir eine gesunde Ambiguitätstoleranz anstreben. Es geht um die Fähigkeit, mit Mehrdeutigkeit (Ambiguität) konstruktiv umzugehen.
Hier sind vor allem die fundamentalistischen Ränder unserer Gemeinden gefordert. Meinungsverschiedenheiten werden im fundamentalistischen Milieu als Gefahr empfunden und abweichende Ansichten bekämpft, so dass ein Klima der Beengung entsteht. Die Sehnsucht nach Eindeutigkeit führt zu engen Grenzen und fördert Absetzbewegungen aus unseren Gemeinden.
Thorsten Dietz stellt in seiner Vermessung der evangelikalen Landschaft die Frage, ob die Evangelikalen lernen, ihre geschichtlich gewachsene Vielfalt in theologischen Ansätzen zu akzeptieren oder ob sich die neuere Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Klarheit des gemeinsamen Bekennens in möglichst vielen Fragen durchsetzen wird. Nach Dietz stünde es den Evangelikalen gut an, der Versuchung nach Eindeutigkeit nicht nachzugeben und Vielfalt zu akzeptieren. [34]
Dietz Charmeoffensive wirft richtungweisende Fragen auf:
Ist das Bedürfnis nach Eindeutigkeit in theologischen Fragen als Versuchung zu sehen? Oder geht es um einen Auftrag? Wie gehen wir mit der theologischen Binnenpluralisierung im Evangelikalismus um? Wie gelingt es uns, Vielfalt und Klarheit in ein angemessenes Verhältnis zu bringen?
Im Anschluss an Paul Bruderer in seinen Artikeln auf Daniel Option über das progressive Christentum sehe ich folgende Möglichkeiten: [35]
In Fragen, die den christlichen Glauben nicht zentral betreffen, brauchen wir eine grosse Ambiguitätstoleranz und sollten grösstmögliche Vielfalt anstreben.
Dazu gehört bereits die Fähigkeit, zentrale Fragen von nicht zentralen zu unterscheiden. Ich schlage vor, den nicht zentralen Fragen Themen wie die Rolle der Frau in der Kirche, Scheidung und Wiederverheiratung, die Taufe, Gottesdienstformen, Theorien der Dreieinigkeit und die meisten eschatologischen Diskussionen zuzuschlagen. Wer diese Themen den nicht zentralen Fragen zuschlägt, will nicht ihre Bedeutung kleinreden. Er anerkennt, dass sie nicht konstitutiv für den Glauben sind und dass im Laufe der Zeit unterschiedlichste Lösungsvorschläge eingebracht wurden, die nicht alle miteinander versöhnt werden können. Hier sind wir aufgefordert, einander mit Respekt und Toleranz zu begegnen und nicht zu richten (Mt 7,1 ff).
Bei den zentralen Glaubensinhalten entscheiden wir uns für eine begrenzte Ambiguitätstoleranz und benennen eindeutig, was zum christlichen Glauben gehört und was nicht.
Der Glaube an den transzendenten Schöpfergott, an Jesus Christus als inkarnierter und auferstandener Erlöser, die Rechtfertigung aus Glauben, das Wirken des Heiligen Geistes, die Parusie Christi, den Jüngsten Tag, ewiges Leben und ewige Verlorenheit und die Neuschöpfung sind konstitutiv für den christlichen Glauben. Hier gilt es nach neutestamentlichem Vorbild, bekenntnisartig an den Grundwahrheiten des Evangeliums festzuhalten (Kol 2,8; 1 Joh 4,1 ff).
Das Schriftverständnis gehört meines Erachtens in den Bereich der begrenzten Toleranz, weil die Schrift norma normans unseres Glaubens ist.
Der Grundbestand des Glaubens und unsere ethischen Wertsetzungen ergeben sich direkt aus unserem Schriftverständnis. Hier muss uns die Angleichung an die moderne Bibelwissenschaft in postevangelikalen Diskursen Sorge bereiten. Das gleiche gilt meines Erachtens für den Versuch von Dietz, den Anschluss der evangelikalen Theologie an das pluralistische Wahrheitsverständnis der Postmoderne (Dietz spricht von der Moderne) ohne Bruch zu vollziehen. Dietz sucht in seinen Veröffentlichungen zwischen der gegenwärtigen Kultur und der christlichen Offenbarung zu vermitteln, so dass möglichst kein Konflikt entsteht. Er weiss sich einerseits christlichen Wahrheiten verpflichtet, zeigt aber eine ideologische Nähe zur modernen Vernunftautonomie, wie sie seit der Aufklärung im liberalen Christentum üblich ist. Den Anschluss kann Dietz nur vollziehen, wenn er die Autorität der Schrift relativiert. Rolf Hille ist zuzustimmen, wenn er feststellt, dass Dietz mit seinem Theologieverständnis die Grenze des Evangelikalismus überschreitet und ein Bruch im Sinne des Post-Evangelikalismus vollzieht. [36]
Wir brauchen einen Mittelweg zwischen fundamentalistischer Engführung und kritischen Bibelzugängen. Wir sollten ganz unfundamentalistisch eingestehen, dass es eine Differenz zwischen unserer Ansicht und der Wahrheit des Evangeliums gibt. Die gemeinsame Suche nach Wahrheit sollte uns mehr verbinden als unsere unterschiedlichen Positionen uns trennen. Gleichzeitig sollten wir uns nicht scheuen, gemeinsam mit der christlichen Weltgemeinschaft, die über Jahrhunderte bekenntnisartig an den zentralen Stücken des Evangeliums festgehalten hat, von unwandelbaren christlichen Wahrheiten zu sprechen.
Die Differenz zwischen Offenbarung und Vernunft kann nie völlig überbrückt werden. Der bruchlose Anschluss an den postmodernen Wahrheitspluralismus ist evangelikalen Theologen darum nicht möglich.
Der weltanschauliche Graben zwischen Offenbarung und Vernunft und damit zwischen evangelikaler und liberaler Theologie darf nicht kleingeredet werden, sondern sollte als solcher benannt werden. Der Versuchung, die Suche nach Wahrheit oder nach eindeutigen Standpunkten agnostisch aufzugeben, ist zu widerstehen. Von einer Bibelkritik, die mit den weltanschaulichen Engführungen der Aufklärung belastet ist, sollten wir uns distanzieren und dafür plädieren, die Schrift mit einem Grundvertrauen zu lesen. [37] Wenn wir diese Schlacht verlieren, verlieren wir den Kampf.
EINE PHILOSOPHIE DER LIEBE FÜR DIE POSTMODERNE ENTWICKELN
Die fundamentalistische Weltverneinung trägt ein gerütteltes Mass Schuld an der gegenwärtigen Situation. Exits aus fundamentalistischen Gemeinschaften wurden gelehrt, dass die Liebe zu Christus sich mit der Liebe zur Welt nicht verträgt. Sie lernten, sich um geistliche Angelegenheiten zu kümmern und der Welt ihren Lauf zu lassen. Der Einsatz für eine bessere Welt sei Zeitverschwendung. Er lenke von der wichtigsten Aufgabe der Kirche ab, Seelen aus dem Wrack zu retten, wie es D.L. Moody vor über hundert Jahren ausdrückte. Dieses unbiblische Narrativ muss überwunden werden.
In Teilen des Fundamentalismus gibt es eine fatale Gleichsetzung von Weltverneinung und Rechtgläubigkeit. Diese Gleichsetzung führt bei Exits aus fundamentalistischen Gemeinschaften dazu, sich progressiven Formen des Glaubens zuzuwenden. Sie möchten Nachfolge mit Weltgestaltung verbinden und das bewusst als Teil ihrer christlichen Lebenseinstellung tun. Für andere bricht aus Enttäuschung über die fundamentalistische Weltfremdheit das Glaubensfundament weg. Sie lassen das Evangelium hinter sich, das für sie zu einem Synonym für Weltverneinung und Indifferenz in sozialen Fragen geworden ist und werden zu Agnostikern.
Wenn wir Evangelikalen wollen, dass an den Rändern unserer Bewegung das fundamentalistische Verhältnis zur Welt heilt, müssen wir eine Philosophie der Liebe für die Postmoderne entwickeln, die feste biblische Wurzeln hat und Inspirationen aus der Geschichte aufnimmt.
Hier können uns die Humanisten der Renaissance Denkanstösse geben. Die italienischen Humanisten waren die ersten, welche die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellten, ohne Gott aus dem Zentrum des Universums zu vertreiben, wie es später die Aufklärer taten. Ihr Versuch, Weltgestaltung im Rahmen einer christlichen Weltanschauung zu betreiben, wirkt inspirierend, ohne dass man ihr humanistisches Programm übernehmen muss.
Der italienische Renaissancedichter Francesco Petrarca (1304–1374) war der erste, der von der Idee der Gottesebenbildlichkeit aus die Würde des Menschen zu einem Programm des Humanismus machte. [38] Der Florentiner Marsilio Ficino (1433–1499) entwickelte eine Philosophie der Liebe. In ihr legte er dar, dass die Schönheit der Welt, aber auch die Schönheit von Menschen, Spuren Gottes sind. Schönheit war für Ficino der Köder, den der Schöpfer auslegt, um die Menschen zu sich emporzuheben. Den Aufbruch des Humanismus verstand er nicht als Gefährdung, sondern als Chance für das Christentum: «Er verknüpfte die Impulse seiner Zeit mit der christlichen Tradition und formte daraus das Ideal eines weltoffenen, geistreichen und intellektuell neugierigen Christentums.» [39]
Der christliche Fundamentalismus ist weder weltoffen noch geistreich noch neugierig. Er ist aufrichtig, aber er ist verschlossen und intellektuell einsilbig. Was wir in der Postmoderne brauchen, ist ein christlicher Humanismus im besten Sinn des Wortes mit starken biblischen Wurzeln, der weltoffen und intellektuell ernstzunehmend ist.
Als Evangelikale können wir Inspiration aus unserer eigenen Geschichte aufnehmen. Die eindrückliche abolitionistische Kampagne zur Abschaffung der Sklaverei im England des 18. Jahrhunderts, an der britische Evangelikale massgebend beteiligt waren und der Einsatz der Evangelischen Allianz für Religionsfreiheit können als Inspiration dienen, um zu unseren ganzheitlichen Wurzeln zurückzufinden.
Wenn der evangelikale Glaube in der Postmoderne Relevanz erzielen will, muss er sich aus der fundamentalistischen Verklammerung lösen. Wir brauchen einen «christlichen Humanismus» für unsere Zeit. Er hat die Aufgabe, eine Philosophie der Liebe für die Postmoderne zu entwickeln, die resistent gegen Weltfremdheit, aber auch resilient gegen ausufernde Toleranz ist.
Natürlich müssen wir das biblisch begründen. Ohne biblische Verankerung führt jede Theologie der Zuwendung zur Welt in die humanistische Verflachung. In meinen Publikationen habe ich versucht, erste Parameter im Rahmen einer evangelikalen Theologie zu setzen. [40] Ich kann hier nur skizzieren, in welchen Bereichen Grundlagenarbeit nötig ist, damit ein fruchtbares gesellschaftliches Engagement theologisch auch durchgehalten werden kann:
Als Ausgangspunkt kann uns eine Theologie der Schöpfung dienen. Wir Evangelikale haben eine starke Theologie der Erlösung, aber eine schwache Theologie der Schöpfung. Dass die Schöpfung gut ist (Gen 1,31), dass wir über sie herrschen und sie bebauen und bewahren sollen (Gen 2,15), dass Gott den Kosmos leidenschaftlich liebt (Joh 3,16) und die Schöpfung ihrer Befreiung entgegensieht (Röm 8,18 ff), bietet genug Inspiration, um eine biblisch verantwortbare Theologie der Weltzugewandtheit zu entwickeln.
Nachhaltig gesunden kann das fundamentalistische Verhältnis zur Welt nur, wenn wir den Blick auf Christus richten und eine ganzheitliche Christologie entwickeln. Jesu Inkarnation ist Gottes grosses Ja zur Schöpfung und zur Leiblichkeit. Jesus war Gottes Sohn und gleichzeitig wunderbar menschlich. Er begab sich auf Augenhöhe mit den Ausgestossenen, er berührte Kranke, heilte Zerbrochene, liess sich von Prostituierten anfassen und feierte mit Zöllnern und Sündern Feste (Lk 4,18 ff; Lk 7,36 ff; Lk 19,1 ff).
Das Kreuz ist der grosse Fluchtpunkt seines aussergewöhnlichen Lebens und steht im Zentrum der Evangelien. Am Kreuz sühnte Jesus für unsere Sünden und versöhnte uns mit Gott. Im Glauben an ihn werden wir gerechtfertigt und treten in den Raum der Gnade ein (Röm 5,1; Hebr 4,16). Die Urkirche hat sich geweigert, diese anstössigen Elemente aus ihrer Verkündigung zu streichen und uns damit den Weg gewiesen, den wir zu gehen haben.
Das Christentum wird in Zukunft weder in progressiven noch in fundamentalistischen Formen eine nennenswerte Rolle spielen. Das progressive Christentum hat wenig spezifisch Christliches zu sagen und wird zum Salz, das nicht mehr salzt. Fundamentalistische Formen des Glaubens verlieren den Anschluss an die heutige Lebenswelt vollends und werden sprachlos. Relevant kann das Christentum nur sein, wenn es sich konsequent an Christus orientiert.
Wir bekennen Jesus als göttlichen Erlöser von Schuld und Sünde und folgen einem wunderbar menschlichen Jesus, der uns so sendet, wie der Vater ihn gesandt hat (Joh 20,21). Die konsequente Ausrichtung auf Christus ermöglicht es uns, eine Philosophie der Liebe für die Postmoderne zu entwickeln und so das Narrativ vom sinkenden Schiff hinter uns zu lassen. Wir retten nicht Seelen aus einem Wrack, sondern sind Teilhaber an der Missio Dei, um der Welt mit dem Evangelium in Wort und Tat zu dienen. Um in der Postmoderne Relevanz zu erzielen, brauchen wir nicht weniger Christentum, sondern mehr Christus! Diesem Narrativ können sich die meisten Post-Evangelikalen anschliessen.
Es ist davon auszugehen, dass der Postevangelikalismus ein Übergangsphänomen ist. Möglicherweise wird der Begriff verschwinden, sobald die gegenwärtige Protestphase abgeschlossen ist. Vielleicht wird sich in einer Konsolidierungsphase der Post-Evangelikalismus in einen moderaten und einen revisionistischen Flügel weiter ausdifferenzieren. Der revisionistische Flügel wird die Grenzen der evangelikalen Landkarte verlassen und sich dem liberalen Christentum anschliessen oder in den Atheismus führen. Der moderate Flügel wird als Teil der vielfältigen evangelikalen Bewegung weiterexistieren und ihn bereichern. Wenn es dem evangelikalen Mainstream gelingt, die moderaten Kräfte zu integrieren, können konstruktive Impulse aus den postevangelikalen Debatten aufgenommen werden und der Evangelikalismus zu mehr Gesellschaftsrelevanz aufbrechen.

ABSCHLUSS
Heute, fast 4 Jahre nach dem Referat, sehe ich meine Prognose bestätigt: Der revisionistische Flügel des Postevangelikalismus verlässt die Grenzen der evangelikalen Landkarte und schliesst sich dem liberalen Christentum an. Insbesondere was die Sexualethik betrifft, trägt der Postevangelikalismus dem Zeitgeist unterdessen brav die Schleppe nach statt die Fackel voran. Weshalb die Erosion zentraler Glaubenswahrheiten derart schnell voranschreitet, werde ich im kommenden Artikel «Kein Platz für Wahrheit?» mit Blick auf das Schriftverständnis deutlich machen.
[1] Dietz, Thorsten 2022. Menschen mit Mission. Eine Landkarte der evangelikalen Welt. Holzgerlingen: SCM Brockhaus.
[2] Hardmeier, Roland 2022. Kirche im postkonfessionellen Umfeld. Fachreferat an der Tagung der Bundesleitungen der Freien Evangelischen Gemeinden von Deutschland, Schweiz, Österreich und Italien vom 22.6.2022.
[3] Lauster, Jörg 2021. Der Heilige Geist. München: C.H. Beck, 155.
[4] Schnädelbach, Herbert 2000. Der Fluch des Christentums. Die sieben Geburtsfehler einer alt gewordenen Weltreligion. Eine kulturelle Bilanz nach zweitausend Jahren. Die Zeit Nr. 20, Mai 2000.
[5] Welsch, Wolfgang 1999. Moderne und Postmoderne, in Pechmann, Ralph und Martin Reppengagen (Hg.), Mission im Widerspruch. Religionsgeschichtliche Fragen heute und Mission morgen. Neukirchen-Vluyn: Aussaat / Neukirchener, 40.
[6] Tomlinson, Dave 1995. The post evangelical. London: SPCK, 6.
[7] Hardmeier, Roland 2020. Die Stadt des Königs. Eine biblische Theologie der Hoffnung. Studienreihe IGW. München: GRIN, 33ff.
[8] Näheres bei Hardmeier, Roland 2009. Kirche ist Mission. Auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Missionsverständnis. Studienreihe IGW. Schwarzenfeld: Neufeld, 19ff; ders. 2015, Missionale Theologie. Evangelikale auf dem Weg zur Weltverantwortung. Studienreihe IGW. Schwarzenfeld: Neufeld, 63ff.
[9] Bauer, Gisa 2012. Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland (Dissertation). Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 639.
[10] Webber, Robert E. 2002. The Younger Evangelicals. Facing the Challenges of the New World. Grand Rapids: Baker.
[11] Faix, Künkler und Bachmann, Emerging Church verstehen. Eine Einladung zum Dialog. Marburg: Francke.
[12] Till, Markus 2019. Zeit des Umbruchs. Wenn Christen ihre evangelikale Heimat verlassen. Holzgerlingen: SCM Brockhaus.
[13] Todjeras, Patrick 2021. «Post-Evangelikal» — eine Verständigung, in Pastoraltheologie 2021/3, 66.
[14] Lukas Amstutz lenkt in seinem Bienenberg Beitrag (Bienenberg Magazin 2020, 11) den Blick auf die tieferliegenden Anliegen der Bewegung. Über die «tiefe Unruhe» über traditionelle Glaubensinhalte und Formen hinaus benennt Amstutz die folgenden positiven Anliegen des Post-Evangelikalismus: «Die Bibel und ihre Auslegung: Post-Evangelikale beschäftigt die Unterschiedlichkeit biblischer Texte mit ihren teils spannungsvollen Aussagen. Einsichten der Bibelwissenschaften helfen ihnen, die Texte in ihrem Kontext zu lesen und ihre Weisheit in moderne Lebenswelten zu übersetzen. Ganzheitliches Evangelium: Post-Evangelikale sorgen sich nicht primär um das ‘Seelenheil’, sondern erwarten, dass die gute Nachricht vom Reich Gottes bereits heute zu einem christlichen Lebensstil anstiftet, der auch soziale und ökologische Gerechtigkeit umfasst. Das Verhältnis zur ‘Welt’: Post-Evangelikale erleben, dass auch ausserhalb der Kirche viel Gutes geschieht. Sie erkennen darin das Wirken Gottes und sind bereit, Wege des Miteinanders zu suchen, die ein friedliches Zusammenleben fördern. Gemeinschaft vor Strukturen: Post-Evangelikale pflegen neue Formen von Gemeinschaften, die Gruppenzugehörigkeit mit Flexibilität, Authentizität, Respekt vor der persönlichen Individualität und Platz für Scheitern zu verbinden suchen. Glaubwürdiges Christsein: Post-Evangelikale scheuen sich nicht, Fragen und Zweifel offen zu formulieren. Schnellen und einfachen Antworten misstrauen sie. Sie ziehen es vor, mit gewissen Spannungen und Brüchen zu leben, anstatt eine christliche Doppelmoral zu leben. Die Liebe Gottes als Hauptantrieb: Post-Evangelikale lassen sich von der Liebe Gottes motivieren, ihren Glauben mit anderen zu teilen. In dieser Liebe sehen sie auch ihre Offenheit gegenüber anderen Lebensentwürfen und ‑formen begründet.» Der Schweizer Pastor und Blogger Dave Jäggi stimmt in seinem Blog «Sola Gratia» diesen Thesen zu und ergänzt sie mit einer siebten, um das Bild des Post-Evangelikalismus abzurunden: «Post-Evangelikale sind auf der Suche nach neuen Frömmigkeitsformen. Sie entdecken die uralten Schätze christlicher Spiritualität und monastischer Traditionen neu. Im Wissen um ihre Verbundenheit mit der Erzählgemeinschaft des Christentums und Familie Mensch, scheuen sie nicht die Auseinandersetzung mit Schätzen aus der Spiritualität anderer Religionen. Daraus wollen sie in kühner Demut lernen, um die eigene Frömmigkeitspraxis fruchtbringend zu erweitern und auf die Sehnsüchte der Menschen des 21. Jh. zu reagieren.».
[15] Ausdruck dafür ist Dietz, Thorsten und Tobias Faix 2025. Wege zur Liebe. Eine Sexualität zum Selberdenken. Neukirchen-Vlyun: Neukirchener Verlagsgesellschaft.
[16] Hardmeier, Roland 2015. Missionale Theologie. Evangelikale auf dem Weg zur Weltverantwortung. Schwarzenfeld: Neufeld, 31ff.
[17] Todjeras, «Post-Evangelikal», 72.
[18] Tomlinson, The post evangelical, 85ff.
[19] Zimmer, Siegfried 2015. Ein Beispiel zur Arbeitsweise der modernen Bibelwissenschaft. Referat vom 31.7.2015. Vgl. auch sein Worthaus Referat Warum das fundamentalistische Bibelverständnis nicht überzeugen kann.
[20] Streib, Heinz, Ralph W. Hood Jr., Barbara Keller, Rosina-Martha Csöff und Christopher F. Silver 2009. Deconversion. Qualitative und Quantitative Results from Cross-Cultural Research in Germany and the United States of America, 26ff.
[21] Todjeras, «Post-Evangelikal», 74; ders 2019. «Emerging Church» — ein dekonversiver Konversationsraum. Eine praktisch-theologische Untersuchung über ein anglo-amerikanisches Phänomen gelebter Religiosität (Dissertation).
[22] Webber, The Younger Evangelicals, 16.
[23] Stetzer, Ed 2006. Understanding the Emerging Church. www.crosswalk.com vom 18.6.2022.
[24] Bachmann, Arne-Florian 2017. Postkonfessionelle Identitäten? Eine Begehung der Post-Evangelikalen Landschaft. www.cursor.pubpub.org vom 31.10.2017, 7.
[25] Reimer, Johannes 2009. Die Welt umarmen. Theologie des gesellschaftsrelevanten Gemeindebaus. Marburg: Francke.
[26] Zur Nachzeichnung der damaligen Situation siehe für eine Aussenperspektive Bauer, Evangelikale Bewegung, 259ff, sowie Wrogemann, Henning 2013. Missionstheologien der Gegenwart. Globale Entwicklungen, kontextuelle Profile und ökumenische Herausforderungen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 119ff; für eine Innenperspektive Breitschwerdt, Jörg 2019. Theologisch konservativ. Studien zur Genese und Anliegen der evangelikalen Bewegung in Deutschland (Dissertation). Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 355ff.
[27] Schmieding Christoph 2019. www.eulemagazin.de vom 25.9.2019.
[28] Zimmer, Siegfried 2012. Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.
[29] Zum protestantischen Schriftprinzip: Lauster, Jörg. 2004. Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart. Tübingen: Mohr Siebeck.
[30] Lauster, Jörg 2015. Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums. München: C.H. Beck, 508.
[31] Lauster, Die Verzauberung der Welt, 508.
[32] Ausführlicher in Hardmeier, Roland 2024. Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evangelikale zwischen fundamentalistisch und postevangelikal. Giessen: Brunnen.
[33] Lauster, Die Verzauberung der Welt, 401.
[34] Dietz, Menschen mit Mission, 189.
[35] Bruderer, Paul 2020. Die dritte Option. www.danieloption.ch vom 8.3.2020.
[36] Hille, Rolf 2022. Hat das postevangelikale Brückenbauen Grenzen? www.idea.de vom 18.5.2022.
[37] Vgl. Breitschwerdt, Theologisch konservativ, 81ff. Breitschwerdt zeichnet die Auseinandersetzung zwischen dem konservativen Christentum und der modernen Bibelwissenschaft im deutschsprachigen Raum im 19. und 20. Jahrhundert akribisch nach. Die Parallelen zum gegenwärtigen Streit um das Schriftverständnis sind offensichtlich. Schon damals ging es darum, das protestantische Schriftprinzip gegen die Vernunft zu verteidigen und an einem Grundbestand des Glaubens bekenntnisartig festzuhalten. Siehe auch meine sechsteilige Serie «Holy Bible» (www.danieloption.ch), in der ich den Konflikt im Schriftverständnis zwischen den Evangelikalen und der modernen Bibelwissenschaft auf die wesentlichen Fragen reduziere und ihn historisch und theologisch einordne.
[38] Lauster, Die Verzauberung der Welt, 246ff.
[39] Lauster, Der Heilige Geist, 149–150.
[40] Hardmeier, Roland 2009. Kirche ist Mission. Auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Missionsverständnis. Schwarzenfeld: Neufeld; ders. 2012. Geliebte Welt. Auf dem Weg zu einem neuen missionarischen Paradigma. Schwarzenfeld: Neufeld; ders. 2015. Missionale Theologie. Evangelikale auf dem Weg zur Weltverantwortung. Schwarzenfeld: Neufeld.
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