Psalm 23 trifft auf die Postmoderne

Lesezeit: 4 Minuten
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by Roland Hardmeier | 21. Sep. 2025 | 0 comments

ESSAYS ZU GLAUBEN UND POSTMODERNE 4/5

Die Post­mod­erne bietet zahllose Optio­nen, die uns rast­los machen und trimmt uns auf Effizienz. In den ersten drei Essays habe ich mich haupt­säch­lich mit der post­mod­er­nen Tol­er­anz und dem Wahrheits­be­griff befasst und mich denkerisch damit auseinan­derge­set­zt. In diesem Essay frage ich nach Spir­i­tu­al­ität und spreche für ein­mal das Herz an. Ich bringe zwei Wel­ten zusam­men: Ich frage mich, was geschieht, wenn der berühmte Psalm 23 aus die Post­mod­erne trifft.

Die 150 Psalmen, die uns in fünf Samm­lun­gen über­liefert sind, gehören zu den beliebtesten Teilen der Bibel. Im Grunde genom­men sind die Psalmen das Lied­buch Israels ohne Noten (unser heutiges Nota­tion­ssys­tem ent­stand erst im späten Mit­te­lal­ter). Was wie ein Ver­lust klingt, ist ein Segen. Es inspiri­ert uns, die alten Texte mit neuen Melo­di­en zu verse­hen. Die Psalmen sind eine Quelle lebendi­ger Spir­i­tu­al­ität, die seit Jahrtausenden munter sprudelt.

Bild: Roland Hardmeier

Cov­er-Ver­sio­nen

Das berühmte «Yes­ter­day» der Bea­t­les gilt mit 1600 Cov­er-Ver­sio­nen als den meist­nachge­spiel­ten Song der Musikgeschichte. Das ist ziem­lich sich­er falsch. Von Psalm 23 dürfte es 10’000 oder mehr sein. Ob in einem Gottes­di­enst in Berlin, ein­er Hauskirche im 18. Stock­w­erk eines Wolkenkratzers in Shang­hai oder unter einem Affen­brot­baum in Kenia, wo Chris­ten sich zum Gottes­di­enst ver­sam­meln. Über­all entste­hen laufend neue Ver­sio­nen von Davids berühmtem Psalm.

Wie passt ein Lied, das vor dre­itausend Jahren in ein­er uns völ­lig frem­den Welt ent­stand in die Postmoderne?

Vielle­icht ist es der Gegen­satz zwis­chen bei­den Wel­ten, welch­er der Psalm seine ewige Jugend ver­dankt. Wenn der Psalm 23 auf die Post­mod­erne trifft, entste­hen faszinierende Gegensätze:

Der Philosoph Hart­mut Rosa legt in seinem Essay «Unver­füg­barkeit» dar, dass die Welt für uns zum Aggres­sion­spunkt gewor­den ist.[1] Alles muss beherrscht und nutzbar gemacht wer­den: Gewicht muss reduziert, Berge müssen bestiegen, die Anzahl Schritte pro Tag gesteigert wer­den. Immer mehr, immer weit­er, immer schneller. Diese aggres­sive Leben­se­in­stel­lung macht uns rast­los. In Psalm 23 trifft Aggres­sion auf Gelassenheit:

«Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er wei­det mich auf safti­gen Wiesen und führt mich zu frischen Quellen. Er gibt mir neue Kraft. Er leit­et mich auf sicheren Wegen und macht seinem Namen damit alle Ehre» (Psalm 23,1–3).

Das Wis­sen, dass Gott wei­det, führt, leit­et macht gelassen. Was wir haben und was wir nicht haben, ist vom Allmächti­gen abgemessen.

Das Antrieb­smo­ment unser­er Kul­tur ist nach Rosa das Begehren, uns die Welt ver­füg­bar zu machen. Vom Fliess­band in der Fab­rik bis zu Fet­tablagerun­gen in unserem Kör­p­er wird alles opti­miert. Hap­py Birth­day wird zu Hap­py Botox. Was ver­heis­sungsvoll klingt, wird zur Bedro­hung, wie Rosa klug fest­stellt. Wir fürcht­en, das Leben kön­nte uns ent­gleit­en, wenn wir es nicht schaf­fen, effizien­ter zu wer­den.[2]

Ver­trauen statt Verfügbarkeit

Der bib­lis­che Gege­nen­twurf zum Wahn der Ver­füg­barkeit ist schlicht­es Ver­trauen. David fasst es in seinem berühmten Psalm in sym­bol­trächtige Sprache:

«Auch wenn es durch dun­kle Täler geht, fürchte ich kein Unglück, denn du, Herr, bist bei mir. Dein Hirten­stab gibt mir Schutz und Trost. Du lädst mich ein und deckst mir den Tisch vor den Augen mein­er Feinde. Du begrüßt mich wie ein Haush­err seinen Gast und füllst meinen Bech­er bis zum Rand» (Psalm 23,4–5).

David weiss, dass Gott mit ihm ist, wenn es durch dun­kle Täler geht. Er flickt nicht am Uni­ver­sum herum. Er ver­traut, dass Gott ihm voll ein­schenkt. David berührt mit diesem Text das Geheim­nis der Vorse­hung. Wenn wir durch Lei­den gehen, brauchen wir nichts so sehr wie schlicht­es Ver­trauen auf den Allmächti­gen. Es wächst dort am besten, wo der Glaube an die göt­tliche Vorse­hung fest ver­ankert ist. Dieser Glaube führt nicht dazu, dass man rast­los nach Glück strebt, das einem doch zuste­ht, son­dern dass man im Ver­trauen auf Gottes Weg «Ja» zu sein­er Lebenssi­t­u­a­tion sagen kann. Chris­ten wis­sen, dass das eine wei­thin unbeachtete Form von Glück ist. Über­haupt ist Glück nicht etwas, dass Chris­ten um alles in der Welt erstreben. Sie erleben Glück sozusagen als Neben­pro­dukt der Nach­folge. Jesus drückt es im Stil der alttes­ta­mentlichen Weisheit so aus: «Wer sein Leben ret­ten will, wird es ver­lieren; wer aber sein Leben um meinetwillen ver­liert, wird es gewin­nen» (Matthäus 16,25).

Begeg­nung mit dem Unverfügbaren

Hart­mut Rosa schreibt in seinem Essay, dass Lebendigkeit, Berührung und wirk­liche Erfahrung aus der Begeg­nung mit dem Unver­füg­baren entste­hen. Jede Zeile von Davids Psalm sagt genau dies aus. Gott ist nicht ver­füg­bar, aber erfahrbar. Er sorgt für uns wie ein Hirte. Er beschenkt uns wie ein Gast­ge­ber. Er ist der ewig Gegenwärtige.

Über Gott zu ver­fü­gen, ist die Weigerung, die unver­ständlichen Seit­en Gottes auszuhal­ten. David erk­lärt Gott nicht, er beschreibt, was Gott tut und ver­traut, dass er auch in den dun­klen Tälern wirkt.

Der Psalm 23 entwick­elt eine erstaunliche med­i­ta­tive Kraft. Wenn man ihn betet, bre­it­et sich Gelassen­heit aus, sofern man sich aus­re­ichend Zeit nimmt, um die Worte wirken zu lassen. Im Juden­tum ken­nt man das murmel­nde Nachsin­nen über Gottes Wort. Ein Psalm oder son­st ein Text wird leise vor sich hinge­sprochen. Das Mönch­tum entwick­elte diesen Zugang zur «lec­tio div­ina» (göt­tlichen Lesung) weit­er, bei der ein Bibel­text betend gele­sen wird. Man erfasst den Text mit dem Herzen und wird von sein­er Wahrheit tief geprägt. Das Ver­trauen auf Gottes Vorse­hung und seine gute Führung ist das Ende der Rastlosigkeit.


[1] Rosa, Hart­mut 2022. Unver­füg­barkeit, 12ff.

[2] Ebd., 15.

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Roland Hardmeier

Dr. theol. Roland Hardmeier wohnt und arbeitet in Riedikon bei Uster. Er war 15 Jahre lang Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz. Heute ist er als selbständiger Dozent, Referent und Autor tätig. Einblicke in seine Tätigkeit gibt seine Website www.roland-hardmeier.ch

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