ESSAYS ZU GLAUBEN UND POSTMODERNE 2/5
In diesem Essay werfe ich einen Blick auf die Postmoderne aus meiner Perspektive als evangelikaler Christ, der im freikirchlichen Milieu Zuhause ist, und mache mir Gedanken über die Kirche.
Die Postmoderne markiert eine bedeutende Veränderung im Verhältnis zwischen Christentum und Kultur. Fast zweitausend Jahre lang gab es in der westlichen Welt ein Miteinander von Christentum und Kultur. Der christliche Glaube brachte die europäische Kultur hervor und prägte sie durch konservative Werte. Während sehr langen Perioden waren sie nicht einmal voneinander zu unterscheiden. Von dieser Zeit sprechen wir heute als dem konstantinischen Zeitalter mit seiner Symbiose von Christentum und Kultur und dem Einfluss der Kirche.
Von der Aufklärung zur Diktatur der Toleranz
Die Aufklärung im 18. Jahrhundert stellte dieses Miteinander in Frage und bereitete so dem weltanschaulichen Relativismus den Weg. Fortan existierten zwei Narrative nebeneinander: Das Christentum mit seiner biblischen Weltanschauung und konservativen Werten und der Fortschrittsglaube der Aufklärung mit ihren liberalen Ideen.
In der Mitte des 20. Jahrhunderts gewann das liberale Narrativ die Deutungshoheit. Spürbar wurde das an den Studentenprotesten und der sexuellen Revolution. Trotzdem gab es ein Nebeneinander von konservativen Werten und progressiven Lebenseinstellungen. Am deutlichsten zeigt sich das an Themen wie Abtreibung oder Homosexualität. Abtreibung wurde durch demokratische Prozesse legalisiert. Gleichgeschlechtliche Liebe wurde entkriminalisiert und staatlich geregelt. Bis zur Jahrtausendwende gab es in diesen Fragen heftige Auseinandersetzungen. Trotzdem existierte ein kulturelles Einvernehmen: Man übte sich in gegenseitiger Toleranz. Eine Mehrheit war bereit, eine Kultur der Vielfalt zu akzeptieren.
Seit der Jahrtausendwende wird aus dem Nebeneinander ein Gegeneinander. Der Toleranzgedanke ist so dominant geworden, dass es keinen Platz mehr gibt für konservative Einstellungen. Der Satz „Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren“ des Philosophen Karl Popper aus dem Jahr 1945 ist Wirklichkeit.
Das liberale Narrativ beansprucht im neuen Jahrtausend die Deutungshoheit ganz für sich und will den öffentlichen Raum dominieren. Dass ein neuer Realismus die gesellschaftliche Diskussion in Zukunft prägen könnte, wie einige philosophische Vordenker meinen, ist ein Hoffnungsschimmer am Horizont. In den nächsten Jahrzehnten aber müssen wir uns auf eine Diktatur der Toleranz einstellen. Die Symbiose von Christentum und Kultur ist vorbei. Wer nicht „woke“ ist, wird ausgegrenzt. Als Evangelikaler befinde ich mich ab sofort in einer Situation des Exils.
Eine Situation des Exils
Die gegenwärtig bedrückende Situation wird durch einen historischen Umstand erhellt: Das Christentum ist nicht in einer Symbiose mit dem Geist der Antike entstanden, sondern in einer Situation des Exils. Für die ersten Generationen von Christen war klar, dass sie mit dem Bekenntnis zu Jesus einer Gegenkultur beitraten. Viele wurden wegen ihres Bekenntnisses verlacht, ausgeschlossen oder getötet. Sie bezeichneten sich selbst als „Fremdlinge und Pilger“ (1 Petrus 2,11).
Eine Situation des Exils ist also nichts Neues für uns Christen und nicht einmal existenziell bedrohlich für unseren Glauben. Es gab ein lebendiges Christentum lange vor dem konstantinischen Zeitalter. Trotz des massiven Drucks der antiken Mehrheitskultur, und zum Teil wegen ihr, war das werdende Christentum äusserst lebendig. Es gehört zum Wesen des christlichen Glaubens, dass er sich an Jesus und seiner Botschaft orientiert und dadurch in Konflikt mit der Mehrheitskultur kommt. Die gegenwärtige Situation mag das Ende des Christentums als kultureller Faktor sein, aber nicht das Ende des christlichen Glaubens.
Es ist offensichtlich, dass die Postmoderne und das Evangelium keine Symbiose bilden. Es ist weniger offensichtlich, dass die postmoderne Kultur auch unser Verständnis von Kirche beeinflusst. Wenn es um die Kirche geht, zeigt sich das Bild einer angepassten Christenheit. Das gilt für Fundamentalisten, die sich mit Gleichgesinnten ins Getto der christlichen Glückseligkeit zurückziehen und das Ende abwarten. Es gilt für Postevangelikale, die sich mit anderen Exits auf ein Bier treffen und sagen, dies sei „Kirche“. Es gilt für den evangelikalen Mainstream, dessen Bindung an die Kirche seit der Corona Pandemie ziemlich lose geworden ist. Eine zunehmende Zahl zieht es vor, Predigten im Internet hören, als sich verbindlich einer Gemeinschaft anzuschliessen.
Alle diese Formen von Kirche sind auf subtile Weise vom Individualismus der Postmoderne geprägt. Wenn ich auf mein eigenes kirchliches Milieu blicke, wird mir angst und bange: Gemeinsames Bekennen und verbindliche Gemeinschaft werden zu Randerscheinungen. Das sind, um eine Formulierung des ökumenischen Missionstheologen Lesslie Newbigin zu verwenden, „Zeichen einer inneren und geistlichen Kapitulation vor der Ideologie unserer Kultur“.[1] Der postmoderne Individualismus hinterlässt tiefe Spuren, so dass viele gar nicht realisieren, dass sie sich im Krieg befinden und bereits kapituliert haben.
Renaissance der Gemeinschaft
Der Gottesdienst hat für mich hohe Priorität. Meine Eltern lehrten mich durch ihr Vorbild, dass der Gottesdienst am Sonntag gesetzt ist. Ich brauche mich nicht ständig zu fragen, ob am Wochenende schönes Wetter für einen Ausflug ist und was ich dann unternehmen könnte. Der Tag des Herrn gehört dem Herrn.
Ich gehe hauptsächlich in den Gottesdienst, um mich zu Jesus zu bekennen und ihn zu ehren. Wenn es obendrauf eine gute Predigt und einen authentischen Worship gibt, ist das toll, aber es ist nicht der eigentliche Grund, warum ich da bin.
Mit meiner Gewohnheit verankerte ich meinen Glauben in den Grundfesten des Christentums. Zeige mir einen Christ, der nur zum Gottesdienst geht, wenn der Ausflug ins Wasser fällt oder wenn es am Samstagabend nicht zu spät wurde, und ich zeige dir einen Christen ohne Leidenschaft.
Wir brauchen eine Renaissance der Gemeinschaft und des gemeinsamen Bekennens. Christ sein bedeutet nicht nur, an einem Glaubensbestand festzuhalten. Es bedeutet auch, verbindlicher Teil einer Gemeinschaft zu sein.
Gelebte Gemeinschaft ist nicht nur für unser eigenes Glaubensleben wichtig, es ist auch für das christliche Zeugnis in der Welt unerlässlich. Viele säkulare Menschen sind ihrer Umgebungskultur entfremdet. Sie bewegen sich in digitalen Blasen, sind ständig in Bewegung und einsam. Die Konsumkultur bietet viele Annehmlichkeiten: Ein Weihnachtseinkauf in New York, zwei Wochen Südsee zum Schnäppchenpreis, das neuste Gadget am Black Friday. Das Problem ist, dass diese Dinge nicht zusammenpassen. Das Leben im westlichen Kulturkreis wird immer mehr zur qualvollen Zusammenhangslosigkeit und Beziehungslosigkeit.
Wenn wir als Christen in der Postmoderne etwas bewirken wollen, müssen wir der Kultur der Individualisierung eine Kultur der Gemeinschaft entgegensetzen. Wir müssen Jesu Ruf folgen und bereit sein, die Kirche zu sein. Die physische Zusammenkunft von Christen ist in allen Generationen als dynamische Kraft verstanden und erlebt worden. Erst der postmoderne Individualismus stellt das in Frage.
Wenn man sich heute in der religiösen Landschaft umblickt, reibt man sich verwundert die Augen: Was schlimmste Verfolgungen in zweitausend Jahren nicht geschafft haben, bewirkt die Digitalisierung im Handumdrehen: Dass Christen darauf verzichten, sich zu versammeln und gemeinsam anzubeten. Im Grunde genommen ist das die Weigerung, die Kirche zu sein.
Ein Ruf
Wir müssen ein Verständnis dafür entwickeln, dass das Evangelium ein Ruf ist, einer Gegenkultur beizutreten. Wenn wir in der Welt etwas bewirken wollen, müssen wir der Kultur der Individualisierung eine Kultur der Gemeinschaft entgegensetzen.
Wenn wir nicht den Mut haben, die Kirche zu sein, gibt es kein glaubhaftes christliches Zeugnis. Vielleicht ist das die anspruchsvollste Aufgabe von allen und der Bereich, in dem wir alle umkehren müssen, egal ob Fundamentalisten, Evangelikale, Progressive oder Liberale.
[1] Vgl. Newbigin, Den Griechen eine Torheit, 129.
Titelbild: Roland Hardmeier
Es heißt „ Fast zweitausend Jahre lang gab es in der westlichen Welt ein Miteinander von Christentum und Kultur.“ Wie kommt der Autor drauf, von einem Miteinander zu sprechen? Ist die katholische Kirche oder die evangelische Kirche „das“ Christentum? Das würden Täufer und andere „Erweckte“ anders sehen. Wenn von einer „Diktatur der Toleranz“ gesprochen wird, stellt sich die Frage, in welchen Situationen diese sogenannte Diktatur ganz konkret erlebt wird.
Ich selber war schon immer politisch rechts — dafür gab es vor 30 Jahren Kritik und die Kritik gibt es heute. Dass ich sonntags in die Kirche renne, konnten vor 30 Jahren die Leute auch schon nicht verstehen. Ich glaubte bereits vor 30 Jahren, dass die Bibel Mythen enthält und wurde dafür von Christen gerügt. Meine Meinung wird von Frommen auch heute nicht geteilt. Lebe ich deswegen in einer Diktatur? Es hat sich aus meiner Sicht viel weniger verändert, als es den Frommen lieb ist. Das Internet macht vieles öffentlich und polarisiert wohl etwas mehr. Ansonsten gibt es nicht viel Neues unter der Sonne.
Lieber Alex
Danke für dein Mitdenken an diesem wichtigen Thema. Gewiss, ein stetes Miteinander von Christentum und Kultur hat es ebenso wenig gegeben wie heute alles ein Gegeneinander ist. Aber die Tendenz ist doch eindeutig und das möchte ich mit meinem Essay ausdrücken. Wenn es etwa um sexualethische Themen ging, wurde man in den 1970er Jahren als ich Teenager war, als Christ bloss mal schräg angeschaut. Heute ist das, was Christen in der evangelikalen Mitte zu diesem Thema sagen, unerträglich geworden. Ausserdem werden etwa Lebensrechtsmärsche von Linken angegriffen und müssen unter Polizeischutz stattfinden. Diktatur der Toleranz ist da wohl nicht zu weit hergeholt.
Ich kann da nur auf ein Interview mit Helmut Matthies verweisen, der über seine Erfahrungen in der SMD in seiner Studentenzeit berichtet. Vielleicht ist die Schweiz da nicht wirklich repräsentativ, aber Widerstand von links hat es in den 60er und 70ern eher mehr statt weniger gegeben. Ich hatte ja gefragt, wo Du in deinem Leben konkret „gezwungen“ wurdest, bestimmte Dinge zu tolerieren, die gegen deinen Glauben sind. Danke vorab für ein paar Beispiele
Schönes Statement für die Kirche. Leider ist diese aber in der Gesellschaft absolut unscheinbar und die meisten säkularen Menschen, sowie auch viele Christen, wurden religiös verletzt und würden nie wieder in eine Kirche gehen. Die Kirche hat in der Gesellschaft keine Relevanz mehr. Zu zahnlos ist der Glaube geworden. Oder mit den Worten Jesu: “lauwarm” und das hat Er nicht so gerne.
Ich plädiere ebenfalls für Gemeinschaft, das ist das Fundament des Glaubens. Denn nur in der Gemeinschaft kann das Individuum wachsen. Wie es in Sprüche 27,17 heisst: Wie man Eisen durch Eisen schleift, so schleift ein Mensch den Charakter eines anderen. Da geschieht Wachstum und der Mensch kann sich weiter in seiner Heilung und Heiligung entwickeln, Jesus ähnilcher werden und seinen persönlichen Auftrag von Gott erkennen. Dies geschieht in ehrlicher Gemeinschaft beim gemeinsamen Bibellesen, Beten, Whorshippen, prophetischem Hören etc.
Die Kirche mit ihrer Struktur und dem Programm und einer vorgekauten Message ist maximal gut für die Anbetung. Ehrliche und heilsame Gemeinschaft habe ich bisher nur in der kleinen Gruppe (Familie) erlebt. Natürlich gibt es Ausnahmen aber die meisten Kirchen haben keine oder eine sehr kleine Wirkung nach aussen. Und das entspricht kaum dem Grundauftrag von Jesus für alle Christen.…so denke ich jedenfalls.
Lieber Chris
Du hast recht, dass die Kirche in unserer postmodernen Gesellschaft ziemlich irrelevant ist. Manches davon ist, wie du antönst, auch hausgemacht. Gerade deshalb möchte ich mit meinem Artikel einen Gegentrend setzen, auch weil immer mehr evangelikale Christen lokalen Gemeinden den Rücken kehren. Ein glaubhaftes Zeugnis für Jesus Christus gibt es nur durch Gemeinschaft, die sichtbar ist. Deshalb gehöre ich einer lokalen Gemeinde an, bin stolz auf sie, leide an ihr — aber bleibe dabei. Es ist trotz aller Mängel der beste Weg, praktisch zu demonstrieren, was das Evangelium ist.