ESSAYS ZU GLAUBEN UND POSTMODERNE 1/5
Die Auseinandersetzung über den christlichen Glauben in der Postmoderne ist im Grunde genommen ein alter Streit über das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft. Das zeigt ein Blick in eine dramatische Story im 18. Jahrhundert.
Am 12. November 1723 ist Christian Wolff, der schon zu seinen Lebzeiten bekannte und beliebte Aufklärungsphilosoph an der Universität Halle, auf dem Weg in seine Vorlesung, als ihm ein Eilbote der Universitätsverwaltung eine Anordnung des preussischen Königs aushändigt. Wolff liest sie und wird kreidebleich. Der König lässt die Universität Halle wissen, er sei nicht bereit, die Lehren Wolffs zu dulden, «welche der im göttlichen Worte geoffenbarten Religion entgegenstehen». Wolff habe nach Erhalt der königlichen Anordnung achtundvierzig Stunden Zeit, sein Land zu verlassen, ansonsten werde er gehängt. Wolff erbricht sich vor Erregung.[i]
Was war geschehen?
Der Vorwurf des Atheismus
Im November 1706 wird Wolff ordentlicher Professor der Philosophie und Mathematik an der Friedrichs-Universität im preussischen Halle. Als reformorientierte Neugründung des späten 17. Jahrhunderts beherbergt Halle sowohl pietistisch orientierte als auch der Aufklärung zuneigende Kräfte. Wolff ist Mitglied der philosophischen Fakultät und lehrt Logik und Moralphilosophie. Als Wolff seine Lehrtätigkeit auf die Metaphysik ausdehnt, kommt es zum Konflikt. Auf der einen Seite stehen Johannes Lange (1670–1744), Professor in Halle, und August Herrmann Francke (1663–1727), Dekan der theologischen Fakultät und einer der pietistischen Väter. Ihrer pietistischen Gesinnung verbundene Studenten unterstützen sie. Auf der anderen Seite steht Wolff, der durch seine frühaufklärerischen Ansichten und seine engagierten Vorlesungen eine wachsende Hörerzahl an sich binden kann. Die Pietisten verdächtigen ihn wegen seiner an der Vernunft orientierten Philosophie der «Atheisterey», wie man damals sagte, und beginnen ihre Studenten vor dem Besuch von Wolffs Vorlesungen zu warnen.
Der Konflikt schwelt vor sich hin, bis er im Juli 1721 offen ausbricht. Anlass ist Wolffs Protektoratsrede mit dem Thema «De Sinarum philosophia practica» (Rede über die praktische Philosophie der Chinesen). Wolff legt die These vor, dass die Chinesen auch ohne christliche Offenbarung, allein durch die Vernunft, in der Lage seien, ein moralisch gutes Leben zu führen. Erweis dafür sei, dass die in der Tradition des Konfuzius stehenden Chinesen über Jahrtausende unabhängig vom christlichen Glauben eine Hochkultur prägten.
Die Empörung der halleschen Pietisten ist gross! Sie sehen in Wolffs Rede den Versuch, die «Vernunfft» auf den Thron zu setzen, die christliche Offenbarung hingegen «stürtzen» zu wollen. Dass vernunftbegabte Menschen, ohne Christen zu werden, das Gute erkennen und tun können, erachten sie als Rechtfertigung des Atheismus. Wolff ist seinerseits empört über seine Gegner, denen er vorwirft «Beförderer der Unwissenheit» und «Feinde einer gründlichen Erkenntnis» zu sein. Schon ein knappes Jahrzehnt vorher hatte Wolff in seinem ersten deutschen Lehrbuch dafür plädiert, die Bibel mit den «Kräften des menschlichen Verstandes» auszulegen. Das brachte ihm den Vorwurf ein, die Philosophie als Leitwissenschaft installieren zu wollen und die Offenbarungsgestalt der Bibel zu verkennen. Diesen Vorwurf sehen Wolffs Gegner durch die Protektoratsrede bestätigt.
Offenbarung oder Vernunft
Es kommt zu Anklagen, Verleumdungen und Eingaben bei König Friedrich Wilhelm I. (1688–1740). Wolff werden «irrige Lehren» vorgeworfen und vor seinem «allergefährlichsten Atheismus» gewarnt. Die Pietisten wollen, dass der König die Lehrtätigkeit Wolffs auf die mathematischen Fächer beschränkt und ihm die anderen entzieht. Die seit der Reformation ungelöste Spannung zwischen Offenbarung (welche die Pietisten zu verteidigen suchen) und Vernunft (der sich Wolff verpflichtet weiss), entlädt sich in einem erbitterten Kampf. Die Pietisten glauben wie Luther an den Offenbarungsgehalt der Bibel. Wolff steht in der Denktradition von Luthers Gegenspieler Erasmus von Rotterdam, welcher der Vernunft einen grösseren Platz in der Auslegung der Heiligen Schrift einräumen wollte. Wolff ist indes kein Atheist. Er verkörpert die frühaufklärerische positive Haltung zum Christentum und sucht einen Ausgleich zwischen Offenbarung und Vernunft.
Zwei Jahre nach der anstössigen Protektoratsrede kommt es zum dramatischen Höhepunkt, als Wolff auf dem Weg in die Vorlesung die Verordnung des Königs ausgehändigt wird. Wolff eilt zuerst in die Universität, dann beeilt er sich, nach Hause zu kommen. Er flieht mit seiner hochschwangeren Frau durch den kalten November nach Marburg und entkommt dem Galgen.
Der Ausgang des Streits ist symptomatisch für die aufgeladene Stimmung im 18. und 19. Jh. in Sachen Schriftverständnis. Wolffs Gegner jubilieren über das «gerechte Gottesurteil» des Königs. Francke dankt Gott für die «Erlösung von der Macht der Finsternis», die sich in Wolffs «gottlosen Lehren» niedergeschlagen habe.
Die Pietisten haben die Schlacht gewonnen, aber am Ende verlieren sie den Krieg. Wolffs Flucht wird nämlich zum Siegeszug. Nach seiner Vertreibung tritt er in Marburg eine Professur an, wo er von den Studenten begeistert empfangen wird, und sein philosophisches Programm unbehelligt weiterführen kann. Mit dem Regierungsantritt von Friedrich II. (1712–1786) kommt die pietistische Ausrichtung in Preussen zu einem abrupten Ende. In einer seiner ersten Amtshandlungen holt der König den berühmten Philosophen nach Halle zurück, das zu einem Zentrum der theologischen Aufklärung in Deutschland wird. Francke ist während Wolffs Zeit in Marburg verstorben, mit Lange, der Wolffs härtester Gegner war, kommt es zur Versöhnung. Für Wolff ist es ein persönlicher Triumph, für die Aufklärung ein Sieg über den Pietismus.
Brücken bauen statt Galgen errichten
Zu Beginn des 21. Jahrhundert erleben wir eine Neuauflage des Streits aus dem 18. Und 19. Jahrhundert.
Auf der einen Seite gibt es progressive Kräfte, die das Christentum dekonstruieren. Die Bibel ist nicht Offenbarung Gottes und nicht inspiriert, sondern menschliches und damit fehlbares Zeugnis über Gott. So wie die Kräfte der Vernunft den Streit um Christian Wolff bestimmten, prägt der postmoderne Toleranzgedanke die gegenwärtigen Debatten. Prominente Persönlichkeiten aus dem erwecklichen Protestantismus und der evangelikalen Bewegung lassen ihren alten Glauben hinter sich. Sie können nicht mehr an ein blutiges Opfer am Kreuz oder an Himmel und Hölle glauben. Homosexualität und ein polyamouröser Lebensstil werden gutgeheissen, schliesslich ist Gott ein Gott der Liebe. Und manches, was in der Bibel steht, ist doch einem veralteten Weltbild geschuldet!
Auf der anderen Seite gibt es fundamentalistische Kräfte, die sich in den Kampf zwischen Glauben und Unglaube gestellt sehen. Sie glauben, dass der Abfall vom Glauben kommen muss und dass er zusammen mit dem endzeitlichen Zeichen des Coronavirus da ist, was unterdessen bereits überholt ist. Sie ziehen sich ins Getto der christlichen Glückseligkeit zurück und warten das Ende ab. Viele von ihnen finden den richtigen Ton nicht und bewirtschaften Probleme, anstatt zu Lösungen beizutragen.
Im gegenwärtigen Streit brauchen wir keine Leute die Galgen errichten, sondern Nachfolger von Jesus, die Brücken bauen. Wir brauchen eine Kultur des Zuhörens und der «kühnen Demut», wie es der Missionswissenschaftler David Bosch einmal ausdrückte. Wir brauchen engagierte Theologen und Christen, die sich in die Mitte zwischen diesen Polen stellen und sich bewusst sind, dass es stets eine Differenz zwischen der biblischen Wahrheit und unserer Erkenntnis gibt. Diese Differenz erlaubt es uns, fröhlich zu unserem Glauben zu stehen und an Glaubensinhalten festzuhalten, die nicht mit der postmodernen Toleranz kongruent sind. Sie stattet uns aber auch mit einer Gelassenheit aus, wenn andere abweichende Meinungen vertreten. Die grösste Glaubwürdigkeit erreichen Christen ohnehin nicht dadurch, dass sie alle Fragen beantworten können. Gewiss, es gibt Dinge, über die es sich zu streiten lohnt. Würden wir die Suche nach Wahrheit agnostisch aufgeben, würden wir unseren Glauben verleugnen. Das können und wollen wir nicht. Was wir in der Suche nach Wahrheit am meisten nötig haben, sind Mut, Demut und Dankbarkeit für das Empfangene. Wer so lebt baut Brücken.
[i] Darstellung und Zitate beziehen sich auf Albrecht Beutel, Causa Wolffiana, 125ff in ders. Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus. Tübingen: Mohr Siebeck.
Titelbild: Istock
Ehrenwerter Versuch. Aber es ist traurig das wieder schwarz weiß gemalt wird.
Man würde mich sicher als Fundamentalist bezeichnen. Ist auch kein Problem für mich, weil a) die Bibel als inspiriertes Fundament ist und b)ich mir nicht viel aus Bezeichnungen mache.
Gleichzeitig bin ich aber Wissenschaftler und arbeite und forsch seit vielen Jahren im Bereich der Chemie.
Für mich ergeben die 2 “Welten” in keinster Weise irgendein Wiederspruch. Und nein ich falle auch nicht in die Kategorie der im Artikel erwähnten Corona Endzeit Philosophen. Auch von einem Rückzug kann eigentlich keine Rede sein.
Ich lebe sehr real in dieser Welt und habe Teil daran, arbeite hier und “suche der Stadt Bestes”. Und trotzdem ist meine Heimat nicht hier und ich sehne mich jeden Tag nach Christi Wiederkunft weil ich hier ein Fremdling bin.
Ich habe sehr viele verschiedenste Christen kennen gelernt, ganz besonders aus dem Spektrum der Brüdergemeinden, geschlossen wie offen. Und ganz ehrlich. Die im Artikel beschworenen Corona Endzeit Hardliner, die sich in ihre eigene Seligkeit zurück ziehen sind eine absolute Ausnahme. Und es ärgert mich extrem das die große Masse an konservativen aber sehr rationalen, aber hingegebenen und nach Heiligkeit sowie praktischem Glauben strebenden Christen weder erwähnt oder mit anderen über einen Kamm geschert werden.
Artikel wie dieser sind eher ein Bärendienst für uns Christen und ähnliche Polarisierung habe ich in letzter Zeit eigentlich hauptsächlich bei der Berichterstattung der öffentlichen rechtlichen über Freikirchen gesehen.
Schade
Man verzeihe mir die Rechtschreibfehler, vom Handy ist das eine Qual, hier zu schreiben.😁
Lieber m.b.
Schade, dass dich der Artikel “extrem ärgert” wie du schreibst. Das hat möglicherweise damit zu tun, dass ein Essay ein bestimmtes Thema kurz und zugespitzt aufnimmt und nicht nach allen Seiten hin ausgewogen sein kann — und auch nicht will. Du wünschst, dass die “grosse Masse” an konservativen und hingegebenen Christen zu Wort käme. Das leiste ich im Buch “Glauben, der trägt, wenn alles im Fluss ist”. Dort ist es mein Anliegen, die evangelische Mitte, die an der Bibel als Gottes verbindliches Wort festhält, aber sich nicht von der Welt abschottet, zu Gehör bringen.