Ein Galgen für einen Philosophen

Lesezeit: 5 Minuten
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by Roland Hardmeier | 31. Aug. 2025 | 3 comments

ESSAYS ZU GLAUBEN UND POSTMODERNE 1/5

Die Auseinan­der­set­zung über den christlichen Glauben in der Post­mod­erne ist im Grunde genom­men ein alter Stre­it über das Ver­hält­nis von Offen­barung und Ver­nun­ft. Das zeigt ein Blick in eine drama­tis­che Sto­ry im 18. Jahrhundert.

Am 12. Novem­ber 1723 ist Chris­t­ian Wolff, der schon zu seinen Lebzeit­en bekan­nte und beliebte Aufk­lärungsphilosoph an der Uni­ver­sität Halle, auf dem Weg in seine Vor­lesung, als ihm ein Eil­bote der Uni­ver­sitätsver­wal­tung eine Anord­nung des preussis­chen Königs aushändigt. Wolff liest sie und wird krei­de­ble­ich. Der König lässt die Uni­ver­sität Halle wis­sen, er sei nicht bere­it, die Lehren Wolffs zu dulden, «welche der im göt­tlichen Worte geof­fen­barten Reli­gion ent­ge­gen­ste­hen». Wolff habe nach Erhalt der königlichen Anord­nung achtund­vierzig Stun­den Zeit, sein Land zu ver­lassen, anson­sten werde er gehängt. Wolff erbricht sich vor Erre­gung.[i]

Was war geschehen?

Der Vor­wurf des Atheismus

Im Novem­ber 1706 wird Wolff ordentlich­er Pro­fes­sor der Philoso­phie und Math­e­matik an der Friedrichs-Uni­ver­sität im preussis­chen Halle. Als refor­mori­en­tierte Neu­grün­dung des späten 17. Jahrhun­derts beherbergt Halle sowohl pietis­tisch ori­en­tierte als auch der Aufk­lärung zuneigende Kräfte. Wolff ist Mit­glied der philosophis­chen Fakultät und lehrt Logik und Moral­philoso­phie. Als Wolff seine Lehrtätigkeit auf die Meta­physik aus­dehnt, kommt es zum Kon­flikt. Auf der einen Seite ste­hen Johannes Lange (1670–1744), Pro­fes­sor in Halle, und August Her­rmann Francke (1663–1727), Dekan der the­ol­o­gis­chen Fakultät und ein­er der pietis­tis­chen Väter. Ihrer pietis­tis­chen Gesin­nung ver­bun­dene Stu­den­ten unter­stützen sie. Auf der anderen Seite ste­ht Wolff, der durch seine frühaufk­lärerischen Ansicht­en und seine engagierten Vor­lesun­gen eine wach­sende Hör­erzahl an sich binden kann. Die Pietis­ten verdächti­gen ihn wegen sein­er an der Ver­nun­ft ori­en­tierten Philoso­phie der «Athe­is­terey», wie man damals sagte, und begin­nen ihre Stu­den­ten vor dem Besuch von Wolffs Vor­lesun­gen zu warnen.

Der Kon­flikt schwelt vor sich hin, bis er im Juli 1721 offen aus­bricht. Anlass ist Wolffs Pro­tek­torat­srede mit dem The­ma «De Sinarum philosophia prac­ti­ca» (Rede über die prak­tis­che Philoso­phie der Chi­ne­sen). Wolff legt die These vor, dass die Chi­ne­sen auch ohne christliche Offen­barung, allein durch die Ver­nun­ft, in der Lage seien, ein moralisch gutes Leben zu führen. Erweis dafür sei, dass die in der Tra­di­tion des Kon­fuz­ius ste­hen­den Chi­ne­sen über Jahrtausende unab­hängig vom christlichen Glauben eine Hochkul­tur prägten.

Die Empörung der halleschen Pietis­ten ist gross! Sie sehen in Wolffs Rede den Ver­such, die «Ver­nunfft» auf den Thron zu set­zen, die christliche Offen­barung hinge­gen «stürtzen» zu wollen. Dass ver­nun­ft­be­gabte Men­schen, ohne Chris­ten zu wer­den, das Gute erken­nen und tun kön­nen, eracht­en sie als Recht­fer­ti­gung des Athe­is­mus. Wolff ist sein­er­seits empört über seine Geg­n­er, denen er vor­wirft «Beförder­er der Unwis­senheit» und «Feinde ein­er gründlichen Erken­nt­nis» zu sein. Schon ein knappes Jahrzehnt vorher hat­te Wolff in seinem ersten deutschen Lehrbuch dafür plädiert, die Bibel mit den «Kräften des men­schlichen Ver­standes» auszule­gen. Das brachte ihm den Vor­wurf ein, die Philoso­phie als Leitwissenschaft instal­lieren zu wollen und die Offen­barungs­gestalt der Bibel zu verken­nen. Diesen Vor­wurf sehen Wolffs Geg­n­er durch die Pro­tek­torat­srede bestätigt.

Offen­barung oder Vernunft

Es kommt zu Ankla­gen, Ver­leum­dun­gen und Eingaben bei König Friedrich Wil­helm I. (1688–1740). Wolff wer­den «irrige Lehren» vorge­wor­fen und vor seinem «allerge­fährlich­sten Athe­is­mus» gewarnt. Die Pietis­ten wollen, dass der König die Lehrtätigkeit Wolffs auf die math­e­ma­tis­chen Fäch­er beschränkt und ihm die anderen entzieht. Die seit der Ref­or­ma­tion ungelöste Span­nung zwis­chen Offen­barung (welche die Pietis­ten zu vertei­di­gen suchen) und Ver­nun­ft (der sich Wolff verpflichtet weiss), entlädt sich in einem erbit­terten Kampf. Die Pietis­ten glauben wie Luther an den Offen­barungs­ge­halt der Bibel. Wolff ste­ht in der Denk­tra­di­tion von Luthers Gegen­spiel­er Eras­mus von Rot­ter­dam, welch­er der Ver­nun­ft einen grösseren Platz in der Ausle­gung der Heili­gen Schrift ein­räu­men wollte. Wolff ist indes kein Athe­ist. Er verkör­pert die frühaufk­lärerische pos­i­tive Hal­tung zum Chris­ten­tum und sucht einen Aus­gle­ich zwis­chen Offen­barung und Vernunft.

Zwei Jahre nach der anstös­si­gen Pro­tek­torat­srede kommt es zum drama­tis­chen Höhep­unkt, als Wolff auf dem Weg in die Vor­lesung die Verord­nung des Königs aus­ge­händigt wird. Wolff eilt zuerst in die Uni­ver­sität, dann beeilt er sich, nach Hause zu kom­men. Er flieht mit sein­er hochschwan­geren Frau durch den kalten Novem­ber nach Mar­burg und entkommt dem Galgen.

Der Aus­gang des Stre­its ist symp­to­ma­tisch für die aufge­ladene Stim­mung im 18. und 19. Jh. in Sachen Schriftver­ständ­nis. Wolffs Geg­n­er jubilieren über das «gerechte Gottesurteil» des Königs. Francke dankt Gott für die «Erlö­sung von der Macht der Fin­ster­n­is», die sich in Wolffs «got­t­losen Lehren» niedergeschla­gen habe.

Die Pietis­ten haben die Schlacht gewon­nen, aber am Ende ver­lieren sie den Krieg. Wolffs Flucht wird näm­lich zum Siegeszug. Nach sein­er Vertrei­bung tritt er in Mar­burg eine Pro­fes­sur an, wo er von den Stu­den­ten begeis­tert emp­fan­gen wird, und sein philosophis­ches Pro­gramm unbe­hel­ligt weit­er­führen kann. Mit dem Regierungsantritt von Friedrich II. (1712–1786) kommt die pietis­tis­che Aus­rich­tung in Preussen zu einem abrupten Ende. In ein­er sein­er ersten Amt­shand­lun­gen holt der König den berühmten Philosophen nach Halle zurück, das zu einem Zen­trum der the­ol­o­gis­chen Aufk­lärung in Deutsch­land wird. Francke ist während Wolffs Zeit in Mar­burg ver­stor­ben, mit Lange, der Wolffs härtester Geg­n­er war, kommt es zur Ver­söh­nung. Für Wolff ist es ein per­sön­lich­er Tri­umph, für die Aufk­lärung ein Sieg über den Pietismus.

Brück­en bauen statt Gal­gen errichten

Zu Beginn des 21. Jahrhun­dert erleben wir eine Neuau­flage des Stre­its aus dem 18. Und 19. Jahrhundert.

Auf der einen Seite gibt es pro­gres­sive Kräfte, die das Chris­ten­tum dekon­stru­ieren. Die Bibel ist nicht Offen­barung Gottes und nicht inspiri­ert, son­dern men­schlich­es und damit fehlbares Zeug­nis über Gott. So wie die Kräfte der Ver­nun­ft den Stre­it um Chris­t­ian Wolff bes­timmten, prägt der post­mod­erne Tol­er­anzgedanke die gegen­wär­ti­gen Debat­ten. Promi­nente Per­sön­lichkeit­en aus dem erweck­lichen Protes­tantismus und der evan­ge­likalen Bewe­gung lassen ihren alten Glauben hin­ter sich. Sie kön­nen nicht mehr an ein blutiges Opfer am Kreuz oder an Him­mel und Hölle glauben. Homo­sex­u­al­ität und ein polyamourös­er Lebensstil wer­den gut­ge­heis­sen, schliesslich ist Gott ein Gott der Liebe. Und manch­es, was in der Bibel ste­ht, ist doch einem ver­al­teten Welt­bild geschuldet!

Auf der anderen Seite gibt es fun­da­men­tal­is­tis­che Kräfte, die sich in den Kampf zwis­chen Glauben und Unglaube gestellt sehen. Sie glauben, dass der Abfall vom Glauben kom­men muss und dass er zusam­men mit dem endzeitlichen Zeichen des Coro­n­avirus da ist, was unter­dessen bere­its über­holt ist. Sie ziehen sich ins Get­to der christlichen Glück­seligkeit zurück und warten das Ende ab. Viele von ihnen find­en den richti­gen Ton nicht und bewirtschaften Prob­leme, anstatt zu Lösun­gen beizutragen.

Im gegen­wär­ti­gen Stre­it brauchen wir keine Leute die Gal­gen erricht­en, son­dern Nach­fol­ger von Jesus, die Brück­en bauen. Wir brauchen eine Kul­tur des Zuhörens und der «küh­nen Demut», wie es der Mis­sion­swis­senschaftler David Bosch ein­mal aus­drück­te. Wir brauchen engagierte The­olo­gen und Chris­ten, die sich in die Mitte zwis­chen diesen Polen stellen und sich bewusst sind, dass es stets eine Dif­ferenz zwis­chen der bib­lis­chen Wahrheit und unser­er Erken­nt­nis gibt. Diese Dif­ferenz erlaubt es uns, fröh­lich zu unserem Glauben zu ste­hen und an Glaubensin­hal­ten festzuhal­ten, die nicht mit der post­mod­er­nen Tol­er­anz kon­gru­ent sind. Sie stat­tet uns aber auch mit ein­er Gelassen­heit aus, wenn andere abwe­ichende Mei­n­un­gen vertreten. Die grösste Glaub­würdigkeit erre­ichen Chris­ten ohne­hin nicht dadurch, dass sie alle Fra­gen beant­worten kön­nen. Gewiss, es gibt Dinge, über die es sich zu stre­it­en lohnt. Wür­den wir die Suche nach Wahrheit agnos­tisch aufgeben, wür­den wir unseren Glauben ver­leug­nen. Das kön­nen und wollen wir nicht. Was wir in der Suche nach Wahrheit am meis­ten nötig haben, sind Mut, Demut und Dankbarkeit für das Emp­fan­gene. Wer so lebt baut Brücken.


[i] Darstel­lung und Zitate beziehen sich auf Albrecht Beu­tel, Causa Wolf­fi­ana, 125ff in ders. Reflek­tierte Reli­gion. Beiträge zur Geschichte des Protes­tantismus. Tübin­gen: Mohr Siebeck.

Titel­bild: Istock

Über den Kanal

Roland Hardmeier

Dr. theol. Roland Hardmeier wohnt und arbeitet in Riedikon bei Uster. Er war 15 Jahre lang Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz. Heute ist er als selbständiger Dozent, Referent und Autor tätig. Einblicke in seine Tätigkeit gibt seine Website www.roland-hardmeier.ch

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Kommentare zu diesen Beitrag

3 Comments

  1. m.B.

    Ehren­wert­er Ver­such. Aber es ist trau­rig das wieder schwarz weiß gemalt wird.

    Man würde mich sich­er als Fun­da­men­tal­ist beze­ich­nen. Ist auch kein Prob­lem für mich, weil a) die Bibel als inspiri­ertes Fun­da­ment ist und b)ich mir nicht viel aus Beze­ich­nun­gen mache.

    Gle­ichzeit­ig bin ich aber Wis­senschaftler und arbeite und forsch seit vie­len Jahren im Bere­ich der Chemie.

    Für mich ergeben die 2 “Wel­ten” in kein­ster Weise irgen­dein Wieder­spruch. Und nein ich falle auch nicht in die Kat­e­gorie der im Artikel erwäh­n­ten Coro­na Endzeit Philosophen. Auch von einem Rück­zug kann eigentlich keine Rede sein.

    Ich lebe sehr real in dieser Welt und habe Teil daran, arbeite hier und “suche der Stadt Bestes”. Und trotz­dem ist meine Heimat nicht hier und ich sehne mich jeden Tag nach Christi Wiederkun­ft weil ich hier ein Fremdling bin.

    Ich habe sehr viele ver­schieden­ste Chris­ten ken­nen gel­ernt, ganz beson­ders aus dem Spek­trum der Brüderge­mein­den, geschlossen wie offen. Und ganz ehrlich. Die im Artikel beschwore­nen Coro­na Endzeit Hard­lin­er, die sich in ihre eigene Seligkeit zurück ziehen sind eine absolute Aus­nahme. Und es ärg­ert mich extrem das die große Masse an kon­ser­v­a­tiv­en aber sehr ratio­nalen, aber hingegebe­nen und nach Heiligkeit sowie prak­tis­chem Glauben streben­den Chris­ten wed­er erwäh­nt oder mit anderen über einen Kamm geschert werden.

    Artikel wie dieser sind eher ein Bären­di­enst für uns Chris­ten und ähn­liche Polar­isierung habe ich in let­zter Zeit eigentlich haupt­säch­lich bei der Berichter­stat­tung der öffentlichen rechtlichen über Freikirchen gesehen.

    Schade

    Reply
    • m.b.

      Man verzei­he mir die Rechtschreibfehler, vom Handy ist das eine Qual, hier zu schreiben.😁

      Reply
    • Roland

      Lieber m.b.
      Schade, dass dich der Artikel “extrem ärg­ert” wie du schreib­st. Das hat möglicher­weise damit zu tun, dass ein Essay ein bes­timmtes The­ma kurz und zuge­spitzt aufn­immt und nicht nach allen Seit­en hin aus­ge­wogen sein kann — und auch nicht will. Du wün­schst, dass die “grosse Masse” an kon­ser­v­a­tiv­en und hingegebe­nen Chris­ten zu Wort käme. Das leiste ich im Buch “Glauben, der trägt, wenn alles im Fluss ist”. Dort ist es mein Anliegen, die evan­ge­lis­che Mitte, die an der Bibel als Gottes verbindlich­es Wort fes­thält, aber sich nicht von der Welt abschot­tet, zu Gehör bringen.

      Reply

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