Urkirche und antike Gesellschaft

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by Peter Bruderer | 28. Sep. 2025 | 0 comments

ESSAYS ZU GLAUBEN UND POSTMODERNE 5/5

Die ersten Chris­ten lebten in ein­er Welt, die der Post­mod­erne erstaunlich ähn­lich ist. Die antike Welt war mit weni­gen Aus­nah­men plu­ral­is­tisch. Gle­ichzeit­ig gab es einen starken Druck von der Mehrheit­skul­tur. Und es gab Konkur­renz von der antiken Philoso­phie. Trotz­dem set­zte sich das Chris­ten­tum durch. Woher rührte dieser Erfolg? Was hat­te das Chris­ten­tum, was antike Philoso­phie und Reli­gion nicht bieten konnten?

Ulrich Vic­tor nen­nt vier Vorzüge, welche das Chris­ten­tum der Anfänge attrak­tiv machen:[1]

Einen strik­ten Monotheismus.

Einen allmächti­gen Schöpfer.

Eine klare Theologie.

Die Kirche.

Klare Glaubens­bestände

Wenn man nach den religiösen und gesellschaftlichen Ver­hält­nis­sen der Antike fragt, ergibt sich fol­gen­des Bild:

Der Monothe­is­mus gewin­nt unter den Griechen schon in vorchristlich­er Zeit an Anziehungskraft. Er mausert sich um die Zeit­en­wende zu ein­er val­ablen Alter­na­tive zum antiken Poly­the­is­mus. Vor allem bietet das Chris­ten­tum eine durch­dachte Vorstel­lung von Gott. Gott ist der allmächtige Schöpfer, der den Kos­mos in sein­er Güte lenkt und keinem von uns fern ist (Apos­telgeschichte 17,27). Die Philoso­phie dage­gen ist ein Herum­stochern im Nebel des Schick­sals. Ihre Vor­denker sind sich in so manchem uneins. Die Anhänger Pla­tons und die Schule Epikurs bestre­it­en, dass die Welt durch göt­tliche Vorse­hung gelenkt wird. Die Stoik­er behaupten das Gegen­teil und gehen von göt­tlich­er Vorse­hung aus. Das Chris­ten­tum mit seinen klaren Glaubens­bestän­den hin­sichtlich Gott, der Welt und den let­zten Din­gen bietet eine klare The­olo­gie und damit Ori­en­tierung. Die antike Reli­gion dage­gen ist eine Reli­gion ohne The­olo­gie und ohne Kod­i­fizierung.[2]

Philoso­phie und Reli­gion haben in der Antike zwei unter­schiedliche Auf­gaben. Die Philoso­phie will zum Guten anleit­en, damit der Men­sch das Leben meis­tern kann. Reli­gion dient der formellen Lebenser­hal­tung. Sie ist ein bloss­es Rit­u­al. Griechen und Römer wis­sen nicht, warum sie den Göt­tern opfern. Sie tun es, weil man es schon immer getan hat. Man glaubt, das Gemein­wohl zu sich­ern, wenn man den Pfad der Väter nicht ver­lässt. Klingt nicht sehr überzeu­gend. Tat­säch­lich läuft die christliche Botschaft mit ihrer intellek­tuellen Anschlussfähigkeit der antiken Weltan­schau­ung mit der Zeit den Rang ab.

Das Chris­ten­tum ist nach antikem Ver­ständ­nis bei­des: Philoso­phie und Reli­gion. Es bietet Strate­gien zur Lebens­be­wäl­ti­gung (wie die Philoso­phie) und Rit­uale, die dem Leben ein Ord­nungs­ge­füge ver­lei­hen (wie die antike Reli­gion). In den ersten Jahrhun­derten wird das Chris­ten­tum daher oft als «philososophia» oder «sophia» beze­ich­net. Nach Ulrich Vic­tor über­dauert das Chris­ten­tum antike Philoso­phie und Reli­gion, weil es bei­de Auf­gaben viel überzeu­gen­der und entsch­ieden­er erfüllt.

Rev­o­lu­tionäre Kirche

Schliesslich bringt das Chris­ten­tum die Kirche her­vor. Ein Christ ist nach neutes­ta­mentlichem Ver­ständ­nis Ange­höriger ein­er lokalen Kirche oder er ist kein­er. Im Gegen­satz zu heute ist die Kirche nicht das Prob­lem, son­dern die Lösung. Wahrschein­lich geht man nicht falsch, wenn man sagt: Die Art und Weise, wie Chris­ten in der Antike Kirche sind, ist das, was das römis­che Reich auf den Kopf gestellt hat. Was macht die «ekkle­sia», wie sie im Neuen Tes­ta­ment beze­ich­net wird, so revolutionär?

Die Kirche ist eine Gemein­schaft der Gle­ichen und damit eine Gegenkul­tur zur sozialen Schich­tung der Antike. Die Antike ist eine Gesellschaft der Ungle­ichen. Selig sind die Starken, denn sie wer­den sich durch­set­zen. In Pla­tons Dialo­gen sagt ein­er der Pro­po­nen­ten: «Die Natur selb­st aber, denke ich, würde wohl zeigen, dass es gerecht ist, dass der Stärkere mehr habe als der Schwächere, und der Tüchtigere mehr als der Untüchtige». Weil die Natur das Schick­sal so bestellt, ist es gerecht, «dass der Stärkere über den Schwächeren herrsche und mehr habe.»[3] Dieses Denken ist in der Antike weit verbreitet.

Von der antiken Ungle­ich­heit sind haupt­säch­lich Sklaven und Frauen betrof­fen. Aris­tote­les ver­tritt in seinem Werk «Poli­tik» die Auf­fas­sung, manche Men­schen seien von Natur aus eben Sklaven. Und er set­zt noch einen oben­drauf: Der Mann ver­di­ene Vor­rang vor der Frau, weil er eine höhere Intel­li­genz habe.[4] Mit ihrem Fil­i­bustern über die Natur des Men­schen und das kos­mis­che Schick­sal zemen­tieren die Philosophen die Ungle­ich­heit der antiken Gesellschaft. Sie treten die Schwachen rhetorisch in den Staub, wo sie für alle Ewigkeit bleiben sollen und feiern die Starken. Tom Hol­land bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: «Die Rolle der griechis­chen Philosophen erschöpfte sich darin, dieses Selb­st­bild mit Gol­drand zu verse­hen.»[5]

Die Chris­ten heben die Ver­lier­er aus dem Staub und nehmen sie in ihren Rei­hen auf. Anfangs schüt­teln Griechen und Römer bloss den Kopf. Doch dann begin­nt sich im Grundge­füge der Gesellschaft etwas zu verän­dern: In der Kirche bröck­elt der Zement der Ungle­ich­heit. Es entste­ht eine neue Möglichkeit men­schlich­er Beziehun­gen. Man ver­ste­ht sich als Him­mels-Fam­i­lie, die auf Erden gesellschaftliche Schranken über­windet. Män­ner und Frauen begeg­nen sich auf Augen­höhe. Freie und Sklaven sind Brüder in Chris­tus. Die Kirche bietet gar soziale Auf­stiegsmöglichkeit­en. Ein Unge­bilde­ter kann Ältester ein­er Gemeinde oder Bischof werden.

Antike Vere­ine und die Kirche

Im Prinzip funk­tion­ieren die christlichen Haus­ge­mein­den wie antike Vere­ine. «Col­le­gia», wie die Römer sie nen­nen, gibt es wie Sand am Meer. Es sind Berufsvere­ine, wie die der Feuer­wehrleute, religiöse Vere­ine, die sich der Verehrung ein­er bes­timmten Got­theit verpflicht­en, Vere­ine, die den Mit­gliedern ein anständi­ges Begräb­nis ermöglichen oder Vere­ine mit eth­nis­ch­er Prä­gung. Die Mit­glieder tre­f­fen sich zum gemein­samen Essen, unter­stellen sich den Vere­in­sregeln und verpflicht­en sich zur gegen­seit­i­gen Unterstützung.

Die christlichen Haus­ge­mein­den tun das­selbe, aber sie tun es bess­er: Von gewis­sen antiken Vere­inen sind Frauen aus­geschlossen. In den christlichen Haus­ge­mein­den sind sie voll­w­er­tige Mit­glieder mit Red­erecht­en und der Möglichkeit, Ämter wie das der Diakonin zu übernehmen oder ein­er Haus­ge­meinde als Patron vorzuste­hen. Die meis­ten Vere­ine ken­nen strenge Auf­nah­mebe­din­gun­gen, die christlichen Haus­ge­meinen sind offen für alle.

Der rev­o­lu­tionärste Unter­schied zwis­chen dem antiken Vere­in­sweisen und den christlichen Haus­ge­mein­den bet­rifft das Ver­hält­nis zu den Nicht-Mit­gliedern. Antike Vere­ine ori­en­tieren sich am Ide­al der Fre­und­schaft unter den Mit­gliedern. Das Ide­al der christlichen Haus­ge­mein­den ist die Agape-Liebe, die über die Gemein­schaft hin­aus allen Men­schen gilt, ins­beson­dere Bedürftigen.

Die christlichen Haus­ge­mein­den sind die einzi­gen Vere­ine, die zum Wohl der Nicht-Mit­glieder existieren. Später schreibt der Kirchen­vater Ter­tul­lian in sein­er Vertei­di­gung des christlichen Glaubens, die Chris­ten wür­den treu für den Kaiser beten, Geld zusam­men­le­gen für die Begräb­nisse von Armen und eltern­losen Kindern, sie wür­den für Schiff­brüchige sor­gen und ihre Geschwis­ter im Gefäng­nis besuchen. «Wir teilen alles miteinan­der», hält Ter­tul­lian in sein­er Apolo­gie fest, «auss­er unsere Frauen».[6]

Die Philosophen kom­men an diese Welt­sicht nicht her­an. Sie streben wie die Chris­ten nach dem gerecht­en Leben. Sie hal­ten die Leute dazu an, das Gute zu tun. Nur wollen ihre Quellen nicht so richtig sprudeln. Gut ist in ihren Augen näm­lich das, was dem eige­nen sozialen Stand dient. Genau­so fordern später die Aufk­lär­er Gle­ich­heit, Frei­heit und Brüder­lichkeit, meinen damit aber nur weisse Män­ner. Für Schwarze, Frauen und Sklaven gel­ten die mod­er­nen Frei­heit­en nicht. Wed­er die antiken Philosophen noch die Aufk­lär­er begreifen, dass ihre Welt­sicht unter einem Höch­st­mass an Solip­sis­mus leidet.

Wirkung der Kirche

Die Kirche der Anfänge durch­bricht Standesun­ter­schiede. Sie nimmt sich der Armen und Bedürfti­gen an. Schwache, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wer­den, bekom­men einen Platz. Zu sein­er vollen Ent­fal­tung kommt dieses Mind­set in der Spä­tan­tike ab dem 3. Jahrhun­dert als die christliche Reli­gion in hohem Mass organ­isiert wird. Bis­chöfe bauen in ihrem Umfeld ein Sozial­sys­tem auf, das in der antiken Welt ihres­gle­ichen sucht und bis in unsere Zeit hinein­wirkt. Sie speisen die Armen, bauen Her­ber­gen für Flüchtlinge, erricht­en Asyl­heime für Lep­rakranke und organ­isieren Crowd­fund­ings zum Freikauf ver­sklavter Christen.

Der Kern dieser neuen Möglichkeit men­schlich­er Beziehun­gen ist nicht eine Vision, nicht eine Utopie, nicht ein poli­tis­ches Pro­gramm, son­dern eine Per­son: Jesus Christus.

Paulus sagt es so: «Es ist nicht mehr wichtig, ob ihr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, Män­ner oder Frauen seid: In Chris­tus seid ihr alle eins» (Galater 3,28). Dieser Satz ist Aus­druck eines neuen Gesellschaftsver­ständ­niss­es. Mit ihm begin­nt der Gedanke der ele­mentaren Gle­ich­heit aller Men­schen in die abendländis­che Kul­turgeschichte einzudringen.

Der Grund­ton des wach­senden Chris­ten­tums ist die Agape-Liebe (Johannes 13,34–35). Agape ist die selb­st­lose, schenk­ende, barmherzige, geduldige Liebe (Koloss­er 3,13). Die Philosophen reden von Eros, Phil­ia und Respekt. Zur selb­st­losen Näch­sten- und Fein­desliebe, wie die Chris­ten sie leben, steigt die antike Tugendlehre nicht auf. Sie kann nicht, weil sie religiös lim­i­tiert ist. Es ist egal, wie man als Römer seine Sklaven oder seine Ehe­frau behan­delt. Reli­gion stellt keine ethis­chen Anforderun­gen, für das All­t­agsleben ist sie prak­tisch bedeutungslos.

Ganz anders das Chris­ten­tum. Wie man seine Sklaven oder seine Ehe­frau behan­delt, ist von gle­ichem Gewicht wie das Beken­nt­nis oder das Gebet. Mit der Verbindung von Dog­ma und Ethik set­zt das Chris­ten­tum mit seinem wach­senden Ein­fluss einen Prozess in Gang, der die Human­isierung des West­ens ermöglicht.

Eine Ermu­ti­gung zum Schluss

Das Vor­bild der Urkirche ermutigt mich, den Her­aus­forderun­gen der Post­mod­erne zuver­sichtlich zu begeg­nen. Die Aus­sicht­en für die ersten Chris­ten waren nicht gut. Ihre Botschaft passte nicht in die antike Welt. Die Kirche überzeugte haupt­säch­lich durch Tat­en der Näch­sten­liebe, durch welche ihre Botschaft sicht­bar wurde und über­haupt erst ver­standen wer­den kon­nte. Die ersten Chris­ten wider­standen der Ver­suchung, anstös­sige Ele­mente aus ihrer Botschaft zu ent­fer­nen. Ihre klare The­olo­gie wirk­te zusam­men mit tätiger Näch­sten­liebe überzeugend.

Die Ver­hält­nisse heute sind nicht anders als damals. Wir müssen uns für unsere klaren the­ol­o­gis­chen und ethis­chen Überzeu­gun­gen nicht schä­men und wir soll­ten sie mutig vertreten wie damals in den his­torischen Anfän­gen des Glaubens. Wenn sie Hand in Hand mit lebendi­ger Kirche geht, die liebt, die Men­schen aus dem Staub hebt, die gesellschaftliche Schranken über­windet, die echte Diver­sität lebt – dann wer­den die Vorzüge des christlichen Glaubens sicht­bar und Christ­sein attraktiv.


[1] Vic­tor, Ulrich, Karsten Peter Thiede und Urs Stin­gelin 2003. Antike Kul­tur und Neues Tes­ta­ment, 153–158.

[2] Dal­heim, Wern­er 2014. Die Welt zur Zeit Jesu, 319–320.

[3] Pla­ton, Gor­gias oder über die Bered­samkeit, 483.

[4] Aris­tote­les, Poli­tik I,5,1254b; 1,13,1260a.

[5] Hol­land, Tom 2024. Herrschaft. Die Entste­hung des West­ens, 56.

[6] Ter­tul­lian, Apolo­gie, 39,1ff.


Titel­bild: iStock

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Peter Bruderer

Peter Bruderer, Jahrgang 1974, als Kind von Missionaren in Afrika aufgewachsen, seit 1986 in der Schweiz. 1998 war Peter Gründungsmitglied der erwecklichen 'Godi'-Jugendarbeit in Frauenfeld, welche er bis 2013 prägte. Heute arbeitet er als Projektleiter im kirchlichen und gemeinnützigen Bereich. Ein zweites Standbein ist die Arbeit als Architekt. Peter lebt mit seiner Familie in Frauenfeld, Schweiz.

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