Kirche im postkonfessionellen Umfeld

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by | 26. Dez. 2025 | 0 comments

POSTMODERN. PROGRESSIV. POSTEVANGELIKAL. EINE EINORDNUNG

EINFÜHRUNG

Seit der Jahrtausendwende erodieren in der west­lichen Welt kon­fes­sionelle Zuge­hörigkeit­en und kirch­liche Bindun­gen mit atem­ber­auben­der Geschwindigkeit. Aus­lös­er dieser Dynamik ist die Post­mod­erne. Während die Lan­deskirchen diese Entwick­lung schon länger exis­ten­ziell spüren, ist seit der Jahrtausendwende auch der erweck­liche Protes­tantismus in Gestalt der Freikirchen betrof­fen. Wer sich auf der religiösen Land­karte einen Überblick ver­schafft, stellt fest, dass sich der Evan­ge­likalis­mus in der west­lichen Welt in ein­er Krise befind­et. [1]

Diesen Artikel habe ich ursprünglich als Fachrefer­at an der Tagung der Bun­desleitun­gen der Freien Evan­ge­lis­chen Gemein­den gehal­ten und einige wenige Änderun­gen vorgenom­men. [2] Es geht darum, die religiöse Sit­u­a­tion the­ol­o­gisch und geschichtlich zu fassen und sich der Frage zu stellen, wie im postkon­fes­sionellen Umfeld Kirche gebaut wer­den kann. Christlich­er Glaube definiert sich nie nur durch Dog­men oder Abgren­zung, son­dern ist auch auf die jew­eilige Lebenswirk­lichkeit bezo­gen und muss sich in ihr bewähren. Daraus ergibt sich eine dop­pelte Aufgabe:

Wir ste­hen vor der Auf­gabe zu definieren, was das Evan­geli­um für die Post­mod­erne ist, und zu benen­nen, was ohne Wenn und Aber zum christlichen Glauben gehört. Wie kön­nen unsere Gemein­den anschlussfähig an die Post­mod­erne wer­den, ohne dass wir den Grundbe­stand des Glaubens und unsere ethis­chen Wert­set­zun­gen preisgeben?

BEGRIFFE

Es gibt ver­schiedene Begriffe, mit denen die aktuelle Sit­u­a­tion beschrieben wird. Ich möchte ein­führend die religiöse Land­schaft skizzieren und die wichtig­sten Begriffe his­torisch einordnen.

MODERNE UND POSTMODERNE

Die west­liche Kul­tur befind­et sich in einem epochalen Umbruch. Wir gehen von der Mod­erne mit ihrer Ver­nun­f­tau­tonomie zur Post­mod­erne mit der Autonomie des Indi­vidu­ums über. Der gegen­wär­tige Umbruch lässt sich als einen von vier par­a­dig­ma­tis­chen Umbrüchen begreifen, welche die Kul­tur Europas geformt haben.

Der erste Umbruch erfol­gte mit der Kon­stan­ti­nis­che Wende im 4. Jahrhun­dert. Sie kat­a­pul­tierte die Kirche aus der vorchristlichen Antike in das katholis­che Mit­te­lal­ter und verän­derte ihr Selb­stver­ständ­nis. Die Kirche vor der Wende ver­stand sich als Gegenkul­tur zum griechisch-römis­chen Main­stream. Mit Kon­stan­tin wurde die Kirche selb­st zum kul­turellen Fak­tor. Die Kirchen­väter und die christlichen Apolo­geten stell­ten sich der Auf­gabe der Kon­tex­tu­al­isierung des Evan­geli­ums und ver­liehen ihm eine hel­lenis­tis­che Gestalt. Sie definierten den christlichen Glauben nach philosophis­chen Denkvo­raus­set­zun­gen und vertei­digten ihn erfolgreich.

Die The­olo­gie wurde anschlussfähig an den Geist Griechen­lands, bezahlte dafür aber einen Preis: Sie ver­lor ihre Ver­wurzelung im hebräis­chen Denken mit seinem inte­gri­erten Glaubensver­ständ­nis. Musste das als Kol­lat­er­alschaden für die erfol­gre­iche Inkul­tur­a­tion des Evan­geli­ums in Kauf genom­men wer­den? Wie hoch darf der Preis sein? Diese Frage stellt sich heute den Evan­ge­likalen, die sich als Gegenkul­tur zur Mehrheits­ge­sellschaft ver­ste­hen und den Anschluss an die Post­mod­erne suchen.

Der zweite Umbruch erfol­gte mit der Ref­or­ma­tion. Er war eng mit dem Human­is­mus ver­bun­den, der vom 14. Jahrhun­dert an eine beein­druck­ende Blüte erlebte. Mar­tin Luther las nicht nur das Neue Tes­ta­ment, son­dern auch fleis­sig die Werke berühmter Human­is­ten. Von ihnen lernte er nach dem human­is­tis­chen Losungswort «Ad Fontes!» zu den Quellen zu gehen (in seinem Fall das Neue Tes­ta­ment) und Tra­di­tio­nen zu hin­ter­fra­gen. Luther berief sich in einem epochalen Vor­gang auf sein autonomes Ver­ständ­nis der Schrift, als er vor dem Reich­stag in Worms sagte, sein Gewis­sen sei «gefan­gen in Gottes Wort». Mit Luther ver­schaffte sich das autonome Gewis­sen einen fes­ten Platz in der europäis­chen Geistesgeschichte.

Luthers Kri­tik an Autoritäten war eine Vorbe­din­gung für den drit­ten Umbruch vom Mit­te­lal­ter zur Mod­erne. Sie set­zte spür­bar mit der Aufk­lärung im 18. Jahrhun­dert ein und weist mit der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion von 1789 ein fass­bares Datum auf. Mit der Aufk­lärung set­zte sich das kri­tis­che Denkver­mö­gen des Men­schen an die Stelle des mit­te­lal­ter­lichen Dog­mas. Die von Luther erkämpfte Frei­heit wurde jet­zt dazu ver­wen­det, Fun­da­mentalkri­tik an der christlichen Weltan­schau­ung zu üben. Die Aufk­lärung set­zte eine Frei­heits­geschichte in Gang, die das christliche Abend­land in seinen Grund­festen erschüt­terte und unsere Kul­tur bis heute prägt. [3]

Die Mod­ernisierung Europas bere­it­ete den Boden für die mod­erne Bibel­wis­senschaft mit ihrem ratio­nal­is­tis­chen Schriftzu­gang. Sie stürzte das protes­tantis­che Schrift­prinzip (wonach die Schrift vor Tra­di­tion und Ver­nun­ft Vor­rang hat) in eine Dauerkrise. Diese Krise trifft die evan­ge­likale Bewe­gung, die sich dem protes­tantis­chen Schrift­prinzip verpflichtet weiss, im Kern. Gesellschaftlich wirk­te sich die Mod­ernisierung in immer neuen Säku­lar­isierungss­chüben aus, die ab Mitte des 20. Jahrhun­derts post­mod­erne Ver­hält­nisse schufen.

Die Post­mod­erne (die eigentlich eine Spät­mod­erne ist) ist durch eine radikale Plu­ral­isierung von Ansicht­en und Lebensen­twür­fen geprägt. Der mod­erne Frei­heits­gedanke wird kon­se­quent indi­vid­u­al­isiert. Dem Chris­ten­tum wird die Rolle ein­er «alt gewor­de­nen Reli­gion» zugewiesen, die nicht mehr in die heutige Zeit passt, wie der Berlin­er Philosoph H. Schnädel­bach angrif­fig for­muliert. [4] Die sub­jek­tive Auflö­sung jeglichen Wahrheit­sanspruchs fördert den Gedanken der Tol­er­anz. Er über­bi­etet seine mit­te­lal­ter­lichen und neuzeitlichen Vor­for­men und wird so dom­i­nant, dass er nicht mehr durch Gegen­trends aufge­fan­gen wer­den kann und zur gesellschaftlichen Grund­ver­fas­sung wird. [5]

Der gegen­wär­tige Umbruch ist das jüng­ste Kapi­tel der west­lichen Frei­heits­geschichte, in der sich die Gesellschaft radikal aus­d­if­feren­ziert und die evan­ge­likale Bewe­gung vor die Schick­sals­frage stellt, welch­es Ver­hält­nis sie zur post­mod­er­nen Kul­tur einnimmt.

Dig­i­tal­isierung führt zu Aus­d­if­feren­zierung. Der Fak­tor Inter­net fördert Blasen, die virtuelle Real­itäten pro­duzieren und Par­al­lel­wel­ten schaf­fen. Unter­schiedlich­ste Milieus und bunte spir­ituelle Ange­bote existieren unver­bun­den nebeneinan­der. Immer mehr Men­schen sind ihrer Umge­bungskul­tur ent­fremdet. Das gilt sowohl für säku­lare Men­schen, die eine grundle­gende Skep­sis gegen den Staat und die Medi­en entwick­eln, als auch für religiöse Men­schen, die der christlichen Beken­nt­nistra­di­tion ent­fremdet sind. Die vom Chris­ten­tum emanzip­ierte Gesellschaft ist im Grunde genom­men nicht post, son­dern plur­al kon­fes­sionell. Die Zeit der Iden­tität stif­ten­den Beken­nt­nisse, die Epochen über­dauerten, sind vor­bei. «Kon­fes­sio­nen» gibt es jet­zt nur noch in atom­isieren­den Kle­in­st­teilen und ändern sich ständig.

POST-EVANGELIKALISMUS

Der Begriff «Post-Evan­ge­likalis­mus» ist Aus­druck dafür, dass sich seit der Jahrtausendwende auch der erweck­liche Protes­tantismus im Krisen­modus befind­et. Ich ver­wende ihn, weil er sich im wis­senschaftlichen Diskurs durchge­set­zt hat.

Ein Post-Evan­ge­likaler ist nach D. Tom­lin­son jemand, der so viele Überzeu­gun­gen evan­ge­likalen Glaubens wie möglich bejaht, und gle­ichzeit­ig darüber hin­aus­ge­ht. [6] Post-Evan­ge­likale spüren eine tiefe Unruhe über tra­di­tionellen Glaubensin­hal­ten und For­men. Sie ste­hen in kri­tis­ch­er Dis­tanz zu the­ol­o­gis­chen Grundüberzeu­gun­gen ihrer Gemein­den oder ver­lassen sie. Im net­zw­erkar­ti­gen Ver­bund mit Gle­ich­gesin­nten for­mulieren sie eigene, für sie tragfähige Bekenntnisse.

Post-Evan­ge­likale haben ein feines Gespür für religiöse Fehlleis­tun­gen und Rechthaberei. Ihre Kri­tik deckt auf, dass es in manchen Gemein­den Uner­löstes, Been­gen­des und Welt­fremdes gibt. Obwohl mich vieles beun­ruhigt, was Post-Evan­ge­likale als Lösung des Prob­lems vorschla­gen, soll­ten wir ihnen zuhören. Ihre Aufgeschlossen­heit zeigt uns, welche Art von Glauben in ein­er plu­ral­is­tis­chen Welt lebens­fähig ist.

FUNDAMENTALISMUS

Seit der Post-Evan­ge­likalis­mus auf der religiösen Land­karte erschienen ist, ist der erweck­liche Protes­tantismus zunehmend von Polar­isierun­gen betrof­fen. Ins­beson­dere Fun­da­men­tal­is­ten üben scharfe Kri­tik am poste­van­ge­likalen Aufbruch.

Ursprünglich han­delt es sich beim Fun­da­men­tal­is­mus um eine Bewe­gung inner­halb des kon­ser­v­a­tiv­en Protes­tantismus in den Vere­inigten Staat­en. Der Begriff «Fun­da­men­tal­is­mus» ist seit den 1920er Jahren üblich. Während kon­ser­v­a­tive Protes­tanten in der Anfangszeit den Begriff mit Stolz auf sich bezo­gen, begeg­net der Begriff heute prak­tisch nur noch als Fremd­beze­ich­nung. Er hat sich als Beze­ich­nung für kon­ser­v­a­tive For­men des Glaubens durchge­set­zt, obwohl die Assozi­a­tio­nen mit dem Begriff neg­a­tiv­er sind als der tat­säch­lich existierende Fundamentalismus.

Die evan­ge­likale Bewe­gung im deutschsprachi­gen Raum hat starke fun­da­men­tal­is­tis­che Rän­der, weshalb von den Evan­ge­likalen oft undif­feren­ziert als Fun­da­men­tal­is­ten gesprochen wird. Fun­da­men­tal­is­ten zeich­nen sich durch das Fes­thal­ten an der Inspi­ra­tion und Autorität der Heili­gen Schrift und eine kon­ser­v­a­tive Ethik aus. Sie bieten über Gen­er­a­tio­nen erprobte Glaubens­bestände an, an denen sich messen muss, was das Prädikat «christlich» ver­di­ent. Prob­lema­tisch ist die deter­min­is­tis­che Escha­tolo­gie in Teilen des Fun­da­men­tal­is­mus und die Ten­denz zur Weltvernei­n­ung. [7]

KLASSISCHER EVANGELIKALISMUS

Zwis­chen diesen bei­den Polen befind­et sich der evan­ge­likale Main­stream, der den über­wiegen­den Teil der Bewe­gung aus­macht. Er bildet eine bre­ite Mitte auf der religiösen Land­karte und vere­int unter­schiedliche Ansicht­en und Tra­di­tio­nen auf sich.

Am besten lässt sich der evan­ge­likale Main­stream in Abgren­zung von pro­gres­siv­en und fun­da­men­tal­is­tis­chen For­men des Glaubens umreis­sen. Evan­ge­likale sind gegen Homo­sex­u­al­ität, gegen zu viel Sozial­staat, teilen den fun­da­men­tal­is­tis­chen Kul­turpes­simis­mus aber nur bed­ingt. Diese Aufzäh­lung, die in dieser Knap­pheit natür­lich prob­lema­tisch ist, fördert ein grundle­gen­des Prob­lem zutage: Obwohl Evan­ge­likale viele pos­i­tive Glaubensin­halte verbinden, haben sie Prob­leme, sich in der Gesellschaft mit diesen Inhal­ten bemerk­bar zu machen. Die Häu­figkeit, mit der sie über das wahrgenom­men wer­den, was sie ablehnen, wird ihnen nicht gerecht.

Bed­ingt durch seine Geschichte ist der Evan­ge­likalis­mus ausseror­dentlich vielgestaltig. Zusam­menge­hal­ten wird er durch das Beken­nt­nis zur Bibel als Wort Gottes. Die Bewe­gung hat sich im aus­ge­hen­den 20. Jahrhun­dert für die sozialethis­che Her­aus­forderung geöffnet, ohne ihren Grund­sätzen untreu zu wer­den. [8] Für die Her­aus­forderun­gen der post­mod­er­nen Real­ität, ist sie mein­er Ein­schätzung nach aber nicht gut gerüstet.

Der evan­ge­likale Welt­bezug weist eine gewisse Ambivalenz auf. Während Post-Evan­ge­likale den Zeit­geist umar­men und Fun­da­men­tal­is­ten sich ihm gegenüber resistent zeigen, ste­hen die Evan­ge­likalen in kri­tis­ch­er Halb­dis­tanz. Die Gefahr ist, dass der evan­ge­likale Main­stream zwis­chen den Polen aufgerieben wird und Sub­stanz an die Rän­der ver­liert. Die Chance sehe ich darin, dass er eine eigen­ständi­ge Mitte bildet. Er hat das Poten­zial, eine The­olo­gie zu schmieden, die anschlussfähig an die Post­mod­erne ist, ohne seine bib­lis­che Ver­ankerung zu verlieren.

PROGRESSIVES CHRISTENTUM

Ich ver­wende das Wort­paar «pro­gres­sives Chris­ten­tum» als Über­be­griff, um eine The­olo­gie zu beze­ich­nen, die sich haupt­säch­lich aus dem lib­eralen Chris­ten­tum speist und Glaubens­for­men anstrebt, die mit der post­mod­er­nen Tol­er­anz vere­in­bar sind. Das pro­gres­sive Chris­ten­tum ste­ht der Säku­lar­isierung pos­i­tiv gegenüber und hat die Ten­denz, im Zeit­geist den Heili­gen Geist am Werk zu sehen. Pro­gres­sive Vor­denker beteili­gen sich aktiv an der Dekon­struk­tion des Glaubens. Im Mit­telpunkt der entsprechen­den Diskurse ste­hen Frei­heit­en für sex­uelle Min­der­heit­en, soziale Fra­gen sowie ökol­o­gis­che Gerechtigkeit.

WER SIND DIE POST-EVANGELIKALEN?

Bis in die 1980er Jahre kann von einem rel­a­tiv homo­ge­nen evan­ge­likalen Main­stream im deutschsprachi­gen Raum gesprochen wer­den. Es gab ein «evan­ge­likales Kampf­bünd­nis» gegen die mod­erne Bibel­wis­senschaft unter der Führung der «Beken­nt­nis­be­we­gung kein anderes Evan­geli­um». Zusam­men mit einem mis­sion­ar­ischen Anliegen wirk­te der Kampf gegen lib­erale For­men des Glaubens Iden­tität stif­tend. [9] Von den 80er Jahren an begann sich die Deutsche Evan­ge­lis­che Allianz als entschei­dende Kraft zu pro­fil­ieren. Ihr ging es darum, pos­i­tive Anliegen einzubrin­gen und Chris­ten aus Lan­des- und Freikirchen miteinan­der zu verbinden. Aus dem Kampf­bünd­nis wurde ein Net­zw­erk, das sich zunehmend ausdifferenzierte.

Um die Jahrtausendwende gewann die evan­ge­likale Aus­d­if­feren­zierung nochmals stark an Dynamik und brachte den Begriff des Post-Evan­ge­likalis­mus her­vor. Von dieser Zeit an sind vier wichtige Ströme in den evan­ge­likalen Main­stream eingeflossen:

  • 1995 tauchte in Eng­land zum ersten Mal der Begriff «Post-Evan­gel­i­cal» auf. Der Begriff diente als Selb­st­beze­ich­nung von Chris­ten, die aus kon­ser­v­a­tivem evan­ge­likalem Hin­ter­grund kamen und diesen als zu eng emp­fan­den. Der anglikanis­che Priester D. Tom­lin­son, ursprünglich im christlichen Fun­da­men­tal­is­mus behei­matet und poste­van­ge­likaler Vor­denker, gibt in seinem Klas­sik­er «the post evan­gel­i­cal» diesen Chris­ten eine Stimme.
  • Mitte der 1990er Jahre erre­ichte die britis­che Diskus­sion die Vere­inigten Staat­en. Die Ideen der britis­chen Post-Evan­ge­likalen wur­den aufgenom­men und zu dem weit­er­en­twick­elt, was als «Emerg­ing Church» bekan­nt wurde. R. Web­ber beschrieb 2002 in sein­er Studie «The Younger Evan­gel­i­cals» die Emerg­ing Church und bot eine erste geschichtliche und the­ol­o­gis­che Einord­nung. [10]
  • Über Blogs und durch inter­na­tionale Kon­tak­te wur­den die Anliegen des britis­chen Post-Evan­ge­likalis­mus und der amerikanis­chen Emerg­ing Church in Deutsch­land wahrgenom­men. 2006 wurde der Koor­di­na­tion­skreis «Emer­gent Deutsch­land» gegrün­det. Er ver­ste­ht sich als Net­zw­erk, das Fra­gen zu Kirche, The­olo­gie, Kul­tur und Gesellschaft unter den Voraus­set­zun­gen der Post­mod­erne in «sicheren Räu­men» disku­tieren will. [11]
  • Seit den 2010er Jahren macht die Plat­tform «Worthaus» von sich reden. Worthaus möchte nach eige­nen Angaben Ein­sicht­en der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft zugänglich machen und einen unver­stell­ten Blick auf den christlichen Glauben ermöglichen. Viele Post-Evan­ge­likale kön­nen sich mit den Inhal­ten von Worthaus iden­ti­fizieren. Es kommt zu ein­er Annäherung zwis­chen evan­ge­likalem Glauben und mod­ern­er Bibel­wis­senschaft. Mit Worthaus fliesst ein akademis­ch­er Strom in das Geschehen ein, der eine grundle­gende Akzep­tanz bibelkri­tis­ch­er Ansicht­en ermöglicht. Ging es in der emer­gen­ten Diskus­sion vor allem um Gottes­di­en­st­for­men, per­sön­liche Spir­i­tu­al­ität und Gesellschaftsver­ant­wor­tung, ver­hil­ft Worthaus in diesem Prozess zu einem akademis­chen Unterbau.

Von 2015 an kön­nen wir von ein­er poste­van­ge­likalen Szene im deutschsprachi­gen Raum sprechen. 2019 bringt das Buch von M. Till «Zeit des Umbruchs» das poste­van­ge­likale Phänomen sowie den Begriff selb­st ein­er bre­it­en Öffentlichkeit zu Bewusst­sein. [12]

MERKMALE DES POSTEVANGELIKALISMUS

In den poste­van­ge­likalen Debat­ten im deutschsprachi­gen Raum wer­den im Wesentlichen diesel­ben Fra­gen disku­tiert wie im angel­säch­sis­chen Raum und in der Emerg­ing Church. Trotz der unter­schiedlichen Aus­gangslage kor­re­lieren die Antworten in auf­fal­l­en­der Weise. [13] Die Emerg­ing Church löste sich ab den 2010er Jahren in ver­schiedene Rich­tun­gen auf. Als Bewe­gung ist sie kaum noch fass­bar, ihre Kri­tik an kon­ser­v­a­tiv­en For­men des Glaubens lebt im Post-Evan­ge­likalis­mus weit­er. Unter der Ober­fläche ein­er enor­men Flu­id­ität wer­den verbindende Merk­male zwis­chen der Emerg­ing Church und dem Post-Evan­ge­likalis­mus sicht­bar, von denen ich die wichtig­sten beschreibe.

EMIGRATION

Wenn man sich mit poste­van­ge­likalen Biografien beschäftigt, stellt man fest, dass Kri­tik an der The­olo­gie des evan­ge­likalen Main­streams und der Protest gegen kul­turell kon­ser­v­a­tive For­men des Evan­ge­likalis­mus Teil der poste­van­ge­likalen Iden­tität­skon­struk­tion ist.

Poste­van­ge­likale ste­hen unter dem Ein­druck, dass die evan­ge­likale Bewe­gung stark mit der Mod­erne mit ihren ein­deuti­gen Wert­set­zun­gen und der Ten­denz zum Dog­ma ver­bun­den ist. Sie set­zen sich kri­tisch mit der eige­nen Geschichte auseinan­der, ins­beson­dere mit dem Bibelver­ständ­nis in ihren Gemein­den, mit Macht­struk­turen und der Sex­u­alethik. In diesem Prozess der the­ol­o­gis­chen Selb­stfind­ung stellt sich ein Gefühl der Ent­frem­dung ein, das zur Trans­for­ma­tion der religiösen Ori­en­tierung und in manchen Fällen zur Dekon­struk­tion des Glaubens führt.

NEUKONSTRUKTION

Trotz der zum Teil schar­fen Kri­tik ist der Post-Evan­ge­likalis­mus mehr als eine Protest­be­we­gung. Das eigentliche Anliegen liegt nicht in der Dekon­struk­tion des Glaubens, son­dern in sein­er Neukon­struk­tion unter den Voraus­set­zun­gen der Post­mod­erne. [14]

Poste­van­ge­likale stellen tra­di­tionelle For­men und Inhalte in Frage, um im Rah­men der Post­mod­erne sprach­fähig mit dem Evan­geli­um zu wer­den. Die Neukon­struk­tion find­et auf Feldern statt, die für Evan­ge­likale Iden­tität stif­tend sind. Die wichtig­sten Felder, auf denen die Debat­te geführt wird:

  • In ethis­chen Fra­gen lassen Post-Evan­ge­likale tra­di­tionelle Stand­punk­te hin­ter sich und suchen aus der Bibel Lebensen­twürfe abzuleit­en, die mit der post­mod­er­nen Tol­er­anz kon­gru­ent sind. In der Regel wird Homo­sex­u­al­ität befür­wortet, polyamorös­er Lebensstil ste­ht unter Diskus­sion. Als ich das Fachrefer­at hielt, wurde Homo­sex­u­al­ität von Poste­van­ge­likalen in der Regel befür­wortet, polyamourös­er Lebensstil stand unter Diskus­sion. Heute, vier Jahre später, ist bei­des offen­bar bre­it akzep­tiert. [15]
  • In the­ol­o­gis­chen Fra­gen kann der Ver­such beobachtet wer­den, eine dual­is­tis­che Geschichtss­chau zu über­winden. Gegen­sätze wie Him­mel und Hölle oder Kirche und Welt ver­lieren an Erzäh­lkraft oder spie­len keine Rolle mehr.
  • In gesellschaftlichen Fra­gen suchen Post-Evan­ge­likale Anschluss an die post­mod­erne Lebenswelt. Sie lassen sich von der Liebe Gottes motivieren, um heil­sam mit dem Evan­geli­um in die Welt hineinzuwirken. Gemein­schaft ist ihnen wichtiger als Struk­turen. Sie möcht­en zu einem glaub­würdi­gen Lebensstil ans­tiften, der per­sön­liche, soziale und ökol­o­gis­che Gerechtigkeit umfasst.

Durch die Neukon­struk­tion des Glaubens entste­ht in poste­van­ge­likalen Debat­ten eine neue Erzählstruk­tur des Evan­geli­ums. Diese Erzählstruk­tur gilt es zu ver­ste­hen, um zu erken­nen, welch­es die Chan­cen sind, die sich mit dem poste­van­ge­likalen Auf­bruch verbinden und wo die Gefahren liegen.

Im Post-Evan­ge­likalis­mus lässt sich eine Ver­schiebung von ein­er Kreuzes­the­olo­gie zu ein­er The­olo­gie des Kön­i­gre­ichs fest­stellen. Mit dieser Ver­schiebung verbindet sich die Chance, die evan­ge­likale The­olo­gie näher an die Lebenswelt des post­mod­er­nen Men­schen her­anzuführen. Die Gefahr liegt darin, dass sich das Heilsver­ständ­nis wesen­haft verän­dert. Die sote­ri­ol­o­gis­che Dimen­sion des Heils wird von Post-Evan­ge­likalen zum Teil unre­flek­tiert um die soziale erweitert.

Im neuen Nar­ra­tiv, das sich aus dieser Ver­schiebung ergibt, geht es nicht um die Her­aus­ret­tung aus der Welt in ein jen­seit­iges Reich, son­dern um das heil­same Hinein­wirken mit dem Evan­geli­um in die Gegen­wart. Das Prob­lem mit dieser neuen Erzählstruk­tur beste­ht nicht in der Wieder­ent­deck­ung der Königsh­errschaft an sich. Die Gefahr beste­ht darin, dass die Kreuzes­the­olo­gie durch die The­olo­gie der Königsh­errschaft ver­drängt wer­den kann und so neue Ein­seit­igkeit­en entstehen.

Obwohl in poste­van­ge­likalen Entwür­fen der direk­te Bezug zur öku­menis­chen Mis­sion­s­the­olo­gie der 1960er und 70er Jahre mein­er Beobach­tung nach fehlt, vol­lzieht sich hier ein ähn­lich­er Gestalt­wan­del des Evan­geli­ums mit auf­fal­l­end ähn­lichen the­ol­o­gis­chen Para­me­tern und Argu­men­ta­tion­sstruk­turen. [16]

In poste­van­ge­likalen Debat­ten tritt neben einem starken Inter­esse an the­ol­o­gis­chen Fra­gen dezi­diert eine anti­dog­ma­tis­che Attitüde zu Tage. Es ist auf­fal­l­end, «dass propo­si­tionelle und dog­ma­tis­che Zugänge ein­heitlich kri­tisch gese­hen wer­den und the­ol­o­gis­che Aus­sagen kon­textuell verortet wer­den und als plur­al ver­standen wer­den.» [17] In der kri­tis­chen Dis­tanz zu Dog­men wider­spiegelt sich das post­mod­erne Unbe­ha­gen gegenüber Stand­punk­ten mit poten­ziell auss­chliessen­dem Charak­ter. Der Verzicht auf the­ol­o­gis­che Klarheit wird von Poste­van­ge­likalen nicht als Man­gel emp­fun­den, son­dern als Zeichen geistlich­er Reife inter­pretiert. Glaube wird weniger als beken­nt­nis­ar­tiges Fes­thal­ten an tran­szen­den­ten Wahrheit­en ver­standen und mehr als Reise mit offen­em Ausgang.

INSPIRATION

Zur method­is­chen Her­leitung und the­ol­o­gis­chen Sicherung der Neukon­struk­tion des Glaubens beziehen Post-Evan­ge­likale wesentliche Inspi­ra­tion von der mod­er­nen Bibelwissenschaft.

Tom­lin­sons Schriftver­ständ­nis wider­spiegelt den poste­van­ge­likalen Ansatz gut. [18] Tom­lin­son geht davon aus, dass die Bibel Fehler, Irrtümer und Diskrepanzen aufweist und stellt die Frage, inwiefern sie unter diesen Voraus­set­zun­gen «Gottes Wort» sein könne. Die Lösung find­et Tom­lin­son in der Angle­ichung an die mod­erne Bibel­wis­senschaft mit ihrem kri­tis­chen Schriftzu­gang. Die Bibel «sei» nicht Offen­barung, son­dern «bezeuge» sie. Sie sei deshalb nicht an sich Gottes Wort, son­dern «werde» für den Gottes Wort, der sie im Glauben lese. Dieser Mit­tel­weg zwis­chen Kri­tik und tra­di­tioneller Ausle­gung eröffnet poste­van­ge­likale Spiel­räume. Unter der Voraus­set­zung, dass die bib­lis­chen Ver­fass­er keinen fehler­losen Text ver­fassten, son­dern unter Umstän­den ihre begren­zte Sichtweise wieder­gaben, kön­nen Fra­gen der Sex­ual­moral, die Bedeu­tung der nichtchristlichen Reli­gio­nen oder der Süh­ne­tod Jesu neu inter­pretiert werden.

Obwohl manche Posi­tio­nen von Post-Evan­ge­likalen dem Etikett «lib­er­al» zuge­ord­net wer­den kön­nen, ist das Ziel nicht Emanzi­pa­tion von der Schrift. Man will stattdessen dog­ma­tis­che Zugänge über­winden und einen ehrlichen, ergeb­nisof­fe­nen Umgang mit der Schrift fördern, der den Test des post­mod­er­nen Wirk­lichkeitsver­ständ­niss­es beste­ht. Ob das gelingt, werde ich in einem weit­eren Artikel mit dem Titel «Kein Platz für Wahrheit?» untersuchen.

Tom­lin­sons Schriftver­ständ­nis kor­re­liert in auf­fal­l­en­der Weise mit dem mod­er­at kri­tis­chen Ansatz von S. Zim­mer. Mit seinen Worthaus Refer­at­en über das fun­da­men­tal­is­tis­che Bibelver­ständ­nis und die mod­erne Bibel­wis­senschaft hat Zim­mer wesentlich zur Akzep­tanz der kri­tis­chen Schrif­tausle­gung unter Post-Evan­ge­likalen beige­tra­gen. [19]

DEKONVERSION

In poste­van­ge­likalen Auf­brüchen zeigen sich Merk­male dekon­ver­siv­er Prozesse. Dekon­ver­sion ist die grundle­gende Verän­derung der religiösen Iden­tität. Sie kann als Prozess beschrieben wer­den, in dem ein Indi­vidu­um seine religiöse Ori­en­tierung samt der Gemein­schaft, die diese ver­mit­telt, hin­ter sich lässt und sich weltan­schaulich und religiös neu orientiert.

In ihrer aufwändi­gen empirischen Studie beschreiben Streib et al.  dekon­ver­sive Prozesse in Deutsch­land und den Vere­inigten Staat­en. Sie unter­schei­den sechs ver­schiedene Ver­läufe von Ausstiegsprozessen aus religiösen Organ­i­sa­tio­nen und messen diese am Grad der Inte­gra­tion in die Gesellschaft: [20]

  • Beim Umstieg («reli­gious switch­ing») wech­selt jemand von ein­er Organ­i­sa­tion oder Gruppe zu ein­er Gruppe mit ähn­lichen Anschau­un­gen und Prak­tiken, ohne dass der Grad der Inte­gra­tion in die Gesellschaft verän­dert wird.
  • Beim inte­gri­eren­den Ausstieg («inte­grat­ing exit») ver­lässt jemand seine Organ­i­sa­tion, um sich ein­er neuen anzuschliessen, die sich von der alten dadurch unter­schei­det, dass sie stärk­er in die Gesellschaft inte­gri­ert ist.
  • Beim oppo­si­tionellen Ausstieg («oppo­si­tion­al exit») lässt jemand sein religiös­es Umfeld hin­ter sich, um sich ein­er Organ­i­sa­tion mit stark abwe­ichen­den Anschau­un­gen und Prak­tiken anzuschliessen, die nur mar­gin­al in die Gesellschaft inte­gri­ert ist.
  • Beim pri­vatisieren­den Ausstieg («pri­va­tiz­ing exit») gibt jemand die Zuge­hörigkeit zu ein­er Gruppe auf und prak­tiziert seinen Glauben nur noch im Bere­ich des Privaten.
  • Beim häretis­chen Ausstieg («hereti­cal exit») ver­lässt jemand seine Organ­i­sa­tion oder Gruppe und nimmt einen völ­lig neuen Glauben an und prak­tiziert diesen ohne for­male Bindung an eine Organisation.
  • Beim säku­laren Ausstieg («sec­u­lar­iz­ing exit») gibt jemand sowohl seinen Glauben als auch die Verbindung zu ein­er Organ­i­sa­tion oder Gruppe auf.

Überträgt man die Matrix von Streib auf die poste­van­ge­likale Szene, stellt man fest, dass the­ol­o­gisch inter­essierte Emi­granten in der Regel zu den «inte­grat­ing exits» oder den «sec­u­lar­iz­ing exits» gehören. Sie lassen religiöse Deu­tungssys­teme und Grup­pen, die sie als einen­gend empfind­en, hin­ter sich und find­en sich in Gemein­den oder Net­zw­erken ein, die stärk­er an das post­mod­erne Lebens­ge­fühl angeschlossen sind. Andere sagen sich von ihrem Glauben los und beze­ich­nen sich nicht mehr als Chris­ten. Neben ihnen gibt es eine wach­sende Zahl von Chris­ten aus evan­ge­likalen Gemein­den, die sich ohne ver­tiefte the­ol­o­gis­che Reflex­ion in den dig­i­tal­en Raum mit seinen bun­ten religiösen Ange­boten ver­ab­schieden und ihren Glauben pri­vat leben («pri­va­tiz­ing exits»).

Die Motive in diesen Ausstiegsprozessen und das indi­vidu­elle Erleben der Emi­granten weichen je nach Biografie und Kon­text stark voneinan­der ab. Trotz­dem wer­den wiederkehrende Merk­male erkennbar. P. Tod­jeras beschreibt in Anlehnung an Streib fünf Merk­male dekon­ver­siv­er Prozesse: [21]

ZWEIFEL

Die intellek­tuelle Diskrepanz zwis­chen dem, was Emi­granten in ihren Gemein­den ver­mit­telt wird, und dem, was sie selb­st für ihren Glauben als stim­mig eracht­en, führt zum Zweifel. Am häu­fig­sten wer­den die Diskrepanz zwis­chen The­olo­gie und Wis­senschaft sowie Glaube und Ver­nun­ft genan­nt. Für viele ergeben sich dadurch Schwierigkeit­en im Umgang mit der Bibel, deren Autorität sie in Frage stellen, mit dem Gottes­bild, das sie als unzeit­gemäss empfind­en, und mit Fra­gen zu Gericht und Hölle, die sie nicht mit einem Gott der Liebe zusam­men denken können.

Mein­er Beobach­tung nach spie­len auch exis­ten­zielle Fra­gen eine wichtige Rolle, ins­beson­dere die Theodizee. Bei manchen poste­van­ge­likalen Exits scheint das Fehlen ein­er The­olo­gie des Lei­dens sie uner­wartet zu tre­f­fen. Wenn eigenes Leid über sie here­in­bricht oder sie sich mit frem­dem Leid beschäfti­gen, bricht ihr Glaubens­fun­da­ment weg, weil sie eine lei­dende Welt nicht zusam­men mit einem allmächti­gen und güti­gen Gott denken kön­nen. Wenn meine Ein­schätzung stimmt, ist für eine zunehmende Zahl der «offene The­is­mus» eine Möglichkeit, dieser Ago­nie zu entfliehen.

KRITIK

Dekon­ver­titen üben dezi­diert Kri­tik an ihrer alten Heimat. Spez­i­fis­che Vorschriften der Gemein­schaft wer­den als einen­gend emp­fun­den. Sie fühlen sich als religiös­es Indi­vidu­um nicht gewürdigt und weisen Vor­gaben der Gemein­schaft als unangemessen zurück. Häu­fig ist damit der Vor­wurf der Heuchelei ver­bun­den, weil die Gruppe dem Ide­al, das gepredigt wird, nicht gerecht wer­den kann.

LEIDERFAHRUNG

Kränkun­gen durch Ange­hörige der Kirche oder Organ­i­sa­tion wie Seel­sorg­er, Gemein­deglieder oder Pfar­rer führen zu Empörung und schaf­fen eine Dis­tanz zur Gemeinschaft.

ENTFREMDUNG

Intellek­tuelle Zweifel und emo­tionale Lei­der­fahrung führen zu einem Gefühl der Ent­frem­dung und schliesslich zum Ausstieg aus der Gemein­schaft. Der Ver­lust von sozialen Beziehun­gen wird als ein­schnei­dend emp­fun­den und kann zu sozialer Insta­bil­ität und gesund­heitlichen Prob­le­men führen.

VERLUST

Der Ver­lust der eige­nen religiösen Ges­timmtheit und der Bruch von sozialen Bindun­gen führt zu einem Ver­lust von religiös­er Erfahrung, so dem Ver­lust von Sin­nge­bung, Gotte­ser­fahrung oder Ver­trauen. Die vol­l­zo­gene Loslö­sung kann aber auch zu einem Gefühl des Befre­it­seins und der inneren Lebendigkeit führen. Die neg­a­tiv­en Dimen­sio­nen des Zweifels, der diese Loslö­sung angestossen hat, und die Gefahr eines Glaubensver­lusts spie­len in poste­van­ge­likalen Debat­ten und Biografien kaum eine Rolle. An den Biografien von promi­nen­ten poste­van­ge­likalen Exits zeigt sich, dass einige von ihnen sich schlussendlich ganz von christlichen Glaubensvorstel­lun­gen lösen und sich östlichen Reli­gio­nen zuwen­den oder als Athe­is­ten bezeichnen.

«A NEW KIND OF EVANGELICALISM»

Mit dem Umbruch von der Mod­erne zur Post­mod­erne entste­hen neue Deu­tungsmuster, Leben­szusam­men­hänge und Iden­titäten. Mit dem Phänomen des Post-Evan­ge­likalis­mus haben diese auch unsere Gemein­den erfasst. Web­ber spricht im Zusam­men­hang mit der Emerg­ing Church von einem «new kind of evan­gel­i­cal­ism». [22]

Ed Stet­zer hat in einem kurzen, aber stark beachteten Artikel drei Typen von emer­gen­ten Leit­ern und Pas­toren aus­gemacht: [23]

  • «Rel­e­vants» entwick­eln Gottes­di­en­st­for­men, die rel­e­vant für Kirchendis­tanzierte sind. Sie bemühen sich im Rah­men ein­er klas­sis­chen evan­ge­likalen The­olo­gie um ver­ständliche Verkündigung.
  • «Recon­struc­tion­ists» glauben, dass die Gemein­de­struk­turen der Evan­ge­likalen nicht hil­fre­ich sind und optieren für die «inkar­na­torische» Kirche, die zu den Men­schen geht, anstatt sie anzuziehen. Dieses Anliegen lebt in mis­sion­alen Gemein­dean­sätzen weiter.
  • «Revi­sion­ists» gehen einen Schritt weit­er und stellen die evan­ge­likale The­olo­gie und das Schriftver­ständ­nis in Frage oder lassen es hin­ter sich.

Diese Klas­si­fizierung lässt sich ohne weit­eres auf den Post-Evan­ge­likalis­mus anwen­den. Im geplanten Artikel «Kein Platz für Wahrheit?» beab­sichtige ich, Stet­zers Klas­si­fizierung auf die aktuelle Sit­u­a­tion anzuwen­den und zu zeigen, wohin die Reise der Poste­van­ge­likalen führt.

Ver­gle­icht man den Post-Evan­ge­likalis­mus mit anderen evan­ge­likalen Spielarten, wird deut­lich, dass der Post-Evan­ge­likalis­mus an entschei­den­den Stellen über die Gren­zen evan­ge­likalen Glaubens hin­aus­ge­ht, so dass sich die Land­schaft des erweck­lichen Protes­tantismus gegen­wär­tig stark verändert.

Im Anschluss an die emer­gen­ten Revi­sion­is­ten kann das qual­i­ta­tiv Neue am Post-Evan­ge­likalis­mus dreifach beschrieben werden:

Erstens kann eine radikale Bezo­gen­heit auf die Welt und in Teilen der Bewe­gung eine pos­i­tive Hal­tung zur Säku­lar­isierung kon­sta­tiert werden.

In poste­van­ge­likalen Debat­ten scheint die Welt der Kirche kon­se­quent vor­ge­ord­net zu sein. Die Kirche wird nicht als «insu­laren Rück­zugsraum» aus ein­er ver­dor­be­nen Welt ver­standen, son­dern als «sol­i­darisch auf die Welt bezo­gen». [24] Diese Stoss­rich­tung find­et sich auch in mis­sion­alen Ansätzen, allerd­ings mit ein­er mis­sion­ar­ischen Inten­tion ohne säku­lar­isierende Ten­den­zen. [25]

Wo liegen die Chan­cen dieser Entwick­lung? Wo die Gefahren?

Die Weltzuge­wandtheit der Post-Evan­ge­likalen bietet die Möglichkeit, die Weltvernei­n­ung zu über­winden, in der Teile des Evan­ge­likalis­mus immer noch ver­haftet sind. Gle­ichzeit­ig ist die radikale Bezo­gen­heit auf die Welt Anlass zur Besorg­nis. Wenn die grösste Not der Men­schen nicht ihre Ver­loren­heit ist, son­dern der Man­gel an Liebe und Gerechtigkeit in der Welt, und wenn Sünde ein Fehler oder eine Charak­ter­schwäche ist statt Rebel­lion gegen Gott, wird der Mis­sions­be­griff umgedeutet und das Evan­geli­um wesen­haft verändert.

Wenn poste­van­ge­likale Revi­sion­is­ten die eingeschla­gene Rich­tung weit­er­ver­fol­gen, wird es zur sel­ben human­is­tis­chen Ver­flachung kom­men, wie in der öku­menis­chen Mis­sion­s­the­olo­gie der 1960er und 70er Jahre. Damit wären wir wieder bei einem sta­tus con­fes­sio­n­is, der wesentlich zur Bil­dung der evan­ge­likalen Bewe­gung im deutschsprachi­gen Raum beige­tra­gen hat. [26] Die Folge wäre eine weit­ere Auf­s­plit­terung der religiösen Land­schaft, welche evan­ge­likal aus­gerichtete Gemein­den und Ver­bände exis­ten­ziell tre­f­fen würde. Hier ste­hen Gemein­den und Ver­bände vor der Frage, ob sie vom Gedanken der Ein­heit aus­ge­hend eine grösst­mögliche Vielfalt anstreben oder sich vom Wahrheits­be­griff her definieren und the­ol­o­gis­che Gren­zen markieren sollten.

Aus der radikalen Bezo­gen­heit auf die Welt entste­ht zweit­ens im Rah­men des Frei­heits­gedankens eine plu­rale Sex­u­alethik, die sich markant von tra­di­tionellen Stand­punk­ten unterscheidet.

Die Offen­heit gegenüber unter­schiedlich­sten Lebensen­twür­fen nährt sich ähn­lich wie in pro­gres­siv­en Ansätzen am Gedanken der Liebe Gottes. Die Liebe dient als Metakri­teri­um, die ein Übergewicht gegenüber restrik­tiv­en Aus­sagen der Bibel zu Fra­gen der Sex­u­alethik erhält. Die Weigerung, Nor­men und Lebens­for­men aus der Bibel abzuleit­en, die über den Gedanken der Liebe und der Ein­vernehm­lichkeit hin­aus­ge­hen, trägt deut­liche Spuren eines plu­ral­is­tis­chen Wahrheitsverständnisses.

Geis­tes­geschichtlich gese­hen ist die poste­van­ge­likale Sex­u­alethik eine christliche Aus­for­mung des säku­lar­isierten Frei­heits­gedankens, der seinen Aus­gang in der Aufk­lärung nahm. Die Aufk­lär­er lösten den Frei­heits­gedanken aus sein­er Bezo­gen­heit auf den christlichen Gott her­aus und rück­ten das kri­tis­che Indi­vidu­um ins Zen­trum. Die Aus­d­if­feren­zierung der west­lichen Gesellschaft in unter­schiedliche sex­uelle Iden­titäten ist die kon­se­quente Weit­er­führung und Über­bi­etung des mod­er­nen Frei­heits­gedankens, der sich sein­er christlichen Wurzeln entledigt hat.

Das kri­tis­che Schriftver­ständ­nis der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft bietet drit­tens den hermeneutis­chen Unter­bau zur poste­van­ge­likalen Neuorientierung.

In poste­van­ge­likalen Debat­ten spielt «das zunehmende Beja­hen ein­er his­torisch-kri­tis­chen Per­spek­tive» eine zen­trale Rolle. [27] Die wach­senden Dif­feren­zen zwis­chen dem evan­ge­likalen Main­stream und dem Post-Evan­ge­likalis­mus in ethis­chen und weltan­schaulichen Fra­gen ist mein­er Ein­schätzung nach den Unter­schieden im Schriftver­ständ­nis geschuldet.

Im klas­sis­chen Evan­ge­likalis­mus ist Bibel das von Men­schen ver­fasste und von Gottes Geist inspiri­erte Wort, das sich dem Glauben erschliesst und unfehlbar mit dem Willen Gottes bekan­nt­macht. Im Post-Evan­ge­likalis­mus ist die Bibel men­schlich­es Zeug­nis über Gott, das geistliche Ori­en­tierungskraft besitzt, aber in den Bere­ich des Men­schlichen mit sein­er Irrtums­fähigkeit gehört und deshalb zeit­ge­bun­dene Aus­sagen enthält, wie etwa Siegfried Zim­mer argu­men­tiert. [28]

Poste­van­ge­likale Revi­sion­is­ten tra­gen das evan­ge­likale Inspi­ra­tionsver­ständ­nis nicht mit und gehen wie in kri­tis­chen Ansätzen stärk­er von der men­schlichen Seite der Bibel mit ihren span­nungsvollen Aus­sagen aus. Das ermöglicht es ihnen, Kri­tik an bib­lis­chen Tex­ten zu üben und sie im Rah­men eines post­mod­er­nen Wahrheitsver­ständ­niss­es anders zu inter­pretieren. Kri­tik an der Bibel ist aus ihrer Sicht sachgemäss und nicht mit Kri­tik an Gott gle­ichzuset­zen, weil zwis­chen Gott und der Bibel eine Wirkung­sein­heit, aber keine Wesen­sein­heit angenom­men wird.

Der Blick auf das Schriftver­ständ­nis recht­fer­tigt meines Eracht­ens die Rede von einem «new kind of evan­gel­i­cal­ism». Während prak­tisch alle evan­ge­likalen Spielarten wie Allianze­van­ge­likale, Beken­nt­ni­se­van­ge­likale und Migrantenge­mein­den ein klas­sis­ches Schriftver­ständ­nis vertreten, schliessen sich Poste­van­ge­likale kri­tis­chen Zugän­gen an. Gin­gen die hermeneutis­chen Bruch­lin­ien früher zwis­chen evan­ge­likal und lib­er­al hin­durch, gehen sie heute mit­ten durch die evan­ge­likale Bewegung.

KRISENPHÄNOME VERSTEHEN

Par­a­dig­ma­tis­che Umbrüche lösen in unregelmäs­si­gen Abstän­den Krisen aus. Es kann kein Zweifel daran beste­hen, dass wir uns gesellschaftlich und the­ol­o­gisch mit­ten in tek­tonis­chen Ver­schiebun­gen befind­en. Ein­er­seits stellen diese den Grundbe­stand des Glaubens in Frage, ander­seits bieten sie die Möglichkeit, den Anschluss an die post­mod­erne Lebenswelt zu find­en. Fol­gende Dimen­sio­nen treten in den Vordergrund:

  • Hermeneutisch geht es um die Frage, ob wir von der Bibel noch uneingeschränkt als Gotteswort sprechen kön­nen oder ob es als Men­schen­wort kri­tisch rel­a­tiviert wer­den muss. The­olo­giegeschichtlich gesprochen befind­et sich die Dauerkrise des protes­tantis­chen Schrift­prinzips in ein­er neuen und entschei­den­den Phase. [29]
  • Ethisch sind wir vor die Entschei­dung gestellt, ob die bib­lis­che Sex­u­alethik verbindlich bleibt oder ob es sich bei den entsprechen­den bib­lis­chen Tex­ten um Kon­text bed­ingte Aus­sagen han­delt, die keine Gültigkeit über ihre eigene Zeit hin­aus beanspruchen. Hier ist sich der hermeneutis­chen Weichen­stel­lun­gen in ethis­chen Fra­gen bewusst zu sein.
  • Sote­ri­ol­o­gisch wird die Frage disku­tiert, ob Jesus ein «sac­ri­fice» zur Süh­nung unsere Sün­den ist oder ob er als «vic­tim» ein­er ungerecht­en Gesellschaft starb. Hier geht es um die Frage, ob für die evan­ge­likale Mitte weit­er­hin die sote­ri­ol­o­gis­che Deu­tung des Kreuzes­geschehens im Vorder­grund ste­ht, oder ob das Kreuz ethisiert wird.
  • Gesellschaftlich stellt sich die Frage, wie weit die Evan­ge­likalen auf ein­er Skala von dezi­diert­er Weltvernei­n­ung (wie sie in Teilen des Fun­da­men­tal­is­mus zu find­en ist) zu aktiv­er Welt­gestal­tung (wie sie in mis­sion­alen Ansätzen und poste­van­ge­likalen Entwür­fen vor­ge­tra­gen wird) gehen kön­nen und wollen.

Die gesellschaftliche Dimen­sion des gegen­wär­ti­gen Umbruchs dient als Reminder, dass mit dem Über­gang zur Post­mod­erne nicht nur die Gefahr eines Glaubensver­lusts beste­ht, son­dern dass sich der evan­ge­likalen Bewe­gung auch die Möglichkeit bietet, zu mehr Gesellschaft­srel­e­vanz aufzubrechen.

Um diese Möglichkeit zu nutzen, muss man Krisen­phänomene ver­ste­hen, weil man nur durch ein entsprechen­des Ver­ste­hen richtig auf Umbrüche reagieren kann. Um was es geht, zeigt sich am besten, wenn man mit dem Fun­da­men­tal­is­mus und dem pro­gres­siv­en Chris­ten­tum die Pole der religiösen Land­schaft in den Blick nimmt.

Sowohl der Fun­da­men­tal­is­mus als auch das pro­gres­sive Chris­ten­tum sind Krisenphänomene:

Der Fun­da­men­tal­is­mus ist nach Jörg Lauster ein «Krisen­phänomen der Mod­erne». [30] Durch die Aufk­lärung kam es zu einem Rück­bau des religiösen Welt­ge­bäudes auf seinen vernün­ftig gesicherten Grundbe­stand. Tran­szen­dente Wahrheit­en wur­den nur noch wider­willig aus der Schrift abgleit­et oder durch einen method­is­chen Athe­is­mus im the­ol­o­gis­chen Wis­senschafts­be­trieb ausgeschlossen.

Der Fun­da­men­tal­is­mus reagierte auf diese Entwick­lung «durch eine brachiale Set­zung von Ein­deutigkeit in der Diag­nose und in den Ther­a­pievorschlä­gen für die Krise». [31] Die Fun­da­men­tal­is­ten zeigten sich resistent gegen den Zeit­geist und vertei­digten die Grund­wahrheit­en des Glaubens. Sie entwick­el­ten einen aus­ge­sproch­enen Kul­turpes­simis­mus und zogen sich von weltlichen Angele­gen­heit­en zurück. Es spricht für den Fun­da­men­tal­is­mus, dass trotz der Überzeu­gung, die Welt sei unre­formier­bar, sich mis­sion­ar­ische Bemühun­gen auch mit sozialem Engage­ment verbanden.

Pro­gres­sive For­men des Chris­ten­tums sind ein Krisen­phänomen der Post­mod­erne. Nach­dem sich das mod­erne Ver­sprechen auf eine all­ge­me­ingültige Ver­nun­ft­wahrheit nicht eingestellt hat, ist alles rel­a­tiv. Reli­gion ist nach post­mod­ern­er Welt­sicht ein hil­flos­er und vor­mod­ern­er Ver­such, die Wahrheit zu fassen. Ethis­che Wert­set­zun­gen sind in diesem Welt­bild blosse men­schliche Angele­gen­heit­en und kön­nen nicht verbindlich sein. Jeglich­er Wahrheit­sanspruch muss in eine Krise ger­at­en, weil die Post­mod­erne axioma­tisch auf die Rede von Wahrheit verzichtet. Pro­gres­sive For­men des Glaubens sind Aus­druck davon, dass der weltan­schauliche Rel­a­tivis­mus im Grund­satz akzep­tiert wor­den ist. Rel­a­tivis­mus wird nicht als Kol­lat­er­alschaden wahrgenom­men, der für den Anschluss an die post­mod­erne Lebenswelt in Kauf genom­men wer­den muss, son­dern gilt als intellek­tuell redlich und alternativlos.

Fun­da­men­tal­is­tis­che und pro­gres­sive Ansätze sind attrak­tiv, weil sie ver­meintliche Sicher­heit­en bieten:

Der Fun­da­men­tal­is­mus bietet Sicher­heit vor ein­er gefährlichen und bösen Welt. Kon­ser­v­a­tiv eingestellte Men­schen sind nicht sel­ten von der anziehen­den Kraft ein­seit­iger Ansicht­en fasziniert und anfäl­lig für Ver­schwörungs­the­o­rien. Iden­tität wird mass­ge­blich durch Ablehnung definiert. Während in den Anfän­gen der evan­ge­likalen Bewe­gung Grup­pen mit fun­da­men­tal­is­tis­ch­er Grun­daus­rich­tung wie etwa die Heil­sarmee, sich gesellschaftlich engagierten, drück­en sich heute viele Fun­da­men­tal­is­ten vor der Weltver­ant­wor­tung und ziehen sich in die pri­vate Tugend­haftigkeit zurück. Sie sind aufrichtig in ihrem Glauben, aber sie tra­gen kaum etwas zu ein­er besseren Welt bei. Sie bewirtschaften Prob­leme, aber helfen sel­ten, sie zu lösen.

Das pro­gres­sive Chris­ten­tum dage­gen bietet Sicher­heit vor dem Zeit­geist. Pro­gres­sive Ansicht­en sind poli­tisch kor­rekt, weil sie mit dem Gedanken der Tol­er­anz kon­gru­ent sind. Wer pro­gres­siv denkt, muss sich nicht für die Torheit des Kreuzes schä­men und wird wegen seinen ethis­chen Überzeu­gun­gen nicht kri­tisiert. Lib­eralen Grup­pierun­gen ist der Applaus der Medi­en sich­er, wenn sie Homo­sex­u­al­ität zur Schöp­fungsvari­ante erk­lären. Bloss: Wer der Wirk­lichkeit die Schleppe nachträgt, muss sich fra­gen, was das spez­i­fisch Christliche an seinen Ansicht­en ist.

Der Evan­ge­likalis­mus hat bed­ingt durch seine Geschichte die Ten­denz, Iden­tität durch Abgren­zung zu definieren. Die fun­da­men­tal­is­tis­chen Rän­der haben bere­its mit mas­siv­er Kri­tik reagiert. Ich fürchte, dass Teile der Bewe­gung sich zu sehr darauf ver­legen, Boll­w­erke gegen pro­gres­sive Ansicht­en zu erricht­en, so dass die berechtigten Anfra­gen nicht gehört wer­den. Damit wäre eine his­torische Chance vertan.

Ich bin überzeugt:

Krisen wer­den nicht über­wun­den, indem man Boll­w­erke errichtet, son­dern durch das demütige Hören auf die Kri­tik­er, durch eine wis­senschaftlich ver­ant­wort­bare Reflex­ion im Ein­vernehmen mit der Schrift und die Bere­itschaft zur Verän­derung. Eine solche Reflex­ion möchte ich im abschliessenden Teil bieten.

DIE AUFGABE VOR UNS

Aus­ge­hend von der Aus­gangs­frage, wie unsere Gemein­den anschlussfähig an die Post­mod­erne wer­den kön­nen, ohne den Grundbe­stand des Glaubens und unsere ethis­chen Wert­set­zun­gen preiszugeben, möchte ich von ein­er dop­pel­ten Auf­gabe sprechen, die vor uns liegt. [32]

EINE GESUNDE AMBIGUITÄTSTOLERANZ ANSTREBEN

Die Post­mod­erne ist durch die Gle­ichzeit­igkeit des Ungle­ichzeit­i­gen geprägt, um einen Aus­druck von Jörg Lauster zu ver­wen­den. [33] Unter­schiedliche Ansicht­en prallen aufeinan­der oder existieren nebeneinan­der. Men­schen, Ansicht­en und Iden­titäten sind ständig in Bewe­gung. Die flu­ide Gesellschaft ist eine Real­ität. Sie wird in den kom­menden Jahren unseren Lebensstil, unser Denken und Han­deln zutief­st prä­gen. Die Kirche kann sich dieser Lebenswelt nicht entziehen, son­dern muss sich in dieser Wirk­lichkeit bewähren.

Wir gehen in eine neue Nor­mal­ität über, in der sich die sich ständig wan­del­nde Gesellschaft in unseren Gemein­den in ein­er the­ol­o­gis­chen Bin­nen­plu­ral­isierung sowie ethis­chen Wertev­er­schiebun­gen widerspiegelt.

Um dieser Her­aus­forderung zu begeg­nen, müssen wir eine gesunde Ambi­gu­i­tät­stol­er­anz anstreben. Es geht um die Fähigkeit, mit Mehrdeutigkeit (Ambi­gu­i­tät) kon­struk­tiv umzugehen.

Hier sind vor allem die fun­da­men­tal­is­tis­chen Rän­der unser­er Gemein­den gefordert. Mei­n­ungsver­schieden­heit­en wer­den im fun­da­men­tal­is­tis­chen Milieu als Gefahr emp­fun­den und abwe­ichende Ansicht­en bekämpft, so dass ein Kli­ma der Been­gung entste­ht. Die Sehn­sucht nach Ein­deutigkeit führt zu engen Gren­zen und fördert Abset­zbe­we­gun­gen aus unseren Gemeinden.

Thorsten Dietz stellt in sein­er Ver­mes­sung der evan­ge­likalen Land­schaft die Frage, ob die Evan­ge­likalen ler­nen, ihre geschichtlich gewach­sene Vielfalt in the­ol­o­gis­chen Ansätzen zu akzep­tieren oder ob sich die neuere Sehn­sucht nach Ein­deutigkeit und Klarheit des gemein­samen Beken­nens in möglichst vie­len Fra­gen durch­set­zen wird. Nach Dietz stünde es den Evan­ge­likalen gut an, der Ver­suchung nach Ein­deutigkeit nicht nachzugeben und Vielfalt zu akzep­tieren. [34]

Dietz Charme­of­fen­sive wirft rich­tung­weisende Fra­gen auf:

Ist das Bedürf­nis nach Ein­deutigkeit in the­ol­o­gis­chen Fra­gen als Ver­suchung zu sehen? Oder geht es um einen Auf­trag? Wie gehen wir mit der the­ol­o­gis­chen Bin­nen­plu­ral­isierung im Evan­ge­likalis­mus um? Wie gelingt es uns, Vielfalt und Klarheit in ein angemessenes Ver­hält­nis zu bringen?

Im Anschluss an Paul Brud­er­er in seinen Artikeln auf Daniel Option über das pro­gres­sive Chris­ten­tum sehe ich fol­gende Möglichkeit­en: [35]

In Fra­gen, die den christlichen Glauben nicht zen­tral betr­e­f­fen, brauchen wir eine grosse Ambi­gu­i­tät­stol­er­anz und soll­ten grösst­mögliche Vielfalt anstreben.

Dazu gehört bere­its die Fähigkeit, zen­trale Fra­gen von nicht zen­tralen zu unter­schei­den. Ich schlage vor, den nicht zen­tralen Fra­gen The­men wie die Rolle der Frau in der Kirche, Schei­dung und Wiederver­heiratung, die Taufe, Gottes­di­en­st­for­men, The­o­rien der Dreieinigkeit und die meis­ten escha­tol­o­gis­chen Diskus­sio­nen zuzuschla­gen. Wer diese The­men den nicht zen­tralen Fra­gen zuschlägt, will nicht ihre Bedeu­tung kleinre­den. Er anerken­nt, dass sie nicht kon­sti­tu­tiv für den Glauben sind und dass im Laufe der Zeit unter­schiedlich­ste Lösungsvorschläge einge­bracht wur­den, die nicht alle miteinan­der ver­söh­nt wer­den kön­nen. Hier sind wir aufge­fordert, einan­der mit Respekt und Tol­er­anz zu begeg­nen und nicht zu richt­en (Mt 7,1 ff).

Bei den zen­tralen Glaubensin­hal­ten entschei­den wir uns für eine begren­zte Ambi­gu­i­tät­stol­er­anz und benen­nen ein­deutig, was zum christlichen Glauben gehört und was nicht.

Der Glaube an den tran­szen­den­ten Schöpfer­gott, an Jesus Chris­tus als inkarniert­er und aufer­standen­er Erlös­er, die Recht­fer­ti­gung aus Glauben, das Wirken des Heili­gen Geistes, die Parusie Christi, den Jüng­sten Tag, ewiges Leben und ewige Ver­loren­heit und die Neuschöp­fung sind kon­sti­tu­tiv für den christlichen Glauben. Hier gilt es nach neutes­ta­mentlichem Vor­bild, beken­nt­nis­ar­tig an den Grund­wahrheit­en des Evan­geli­ums festzuhal­ten (Kol 2,8; 1 Joh 4,1 ff).

Das Schriftver­ständ­nis gehört meines Eracht­ens in den Bere­ich der begren­zten Tol­er­anz, weil die Schrift nor­ma nor­mans unseres Glaubens ist.

Der Grundbe­stand des Glaubens und unsere ethis­chen Wert­set­zun­gen ergeben sich direkt aus unserem Schriftver­ständ­nis. Hier muss uns die Angle­ichung an die mod­erne Bibel­wis­senschaft in poste­van­ge­likalen Diskursen Sorge bere­it­en. Das gle­iche gilt meines Eracht­ens für den Ver­such von Dietz, den Anschluss der evan­ge­likalen The­olo­gie an das plu­ral­is­tis­che Wahrheitsver­ständ­nis der Post­mod­erne (Dietz spricht von der Mod­erne) ohne Bruch zu vol­lziehen. Dietz sucht in seinen Veröf­fentlichun­gen zwis­chen der gegen­wär­ti­gen Kul­tur und der christlichen Offen­barung zu ver­mit­teln, so dass möglichst kein Kon­flikt entste­ht. Er weiss sich ein­er­seits christlichen Wahrheit­en verpflichtet, zeigt aber eine ide­ol­o­gis­che Nähe zur mod­er­nen Ver­nun­f­tau­tonomie, wie sie seit der Aufk­lärung im lib­eralen Chris­ten­tum üblich ist. Den Anschluss kann Dietz nur vol­lziehen, wenn er die Autorität der Schrift rel­a­tiviert. Rolf Hille ist zuzus­tim­men, wenn er fest­stellt, dass Dietz mit seinem The­olo­giev­er­ständ­nis die Gren­ze des Evan­ge­likalis­mus über­schre­it­et und ein Bruch im Sinne des Post-Evan­ge­likalis­mus vol­lzieht. [36]

Wir brauchen einen Mit­tel­weg zwis­chen fun­da­men­tal­is­tis­ch­er Engführung und kri­tis­chen Bibelzugän­gen. Wir soll­ten ganz unfun­da­men­tal­is­tisch eingeste­hen, dass es eine Dif­ferenz zwis­chen unser­er Ansicht und der Wahrheit des Evan­geli­ums gibt. Die gemein­same Suche nach Wahrheit sollte uns mehr verbinden als unsere unter­schiedlichen Posi­tio­nen uns tren­nen. Gle­ichzeit­ig soll­ten wir uns nicht scheuen, gemein­sam mit der christlichen Welt­ge­mein­schaft, die über Jahrhun­derte beken­nt­nis­ar­tig an den zen­tralen Stück­en des Evan­geli­ums fest­ge­hal­ten hat, von unwan­del­baren christlichen Wahrheit­en zu sprechen.

Die Dif­ferenz zwis­chen Offen­barung und Ver­nun­ft kann nie völ­lig über­brückt wer­den. Der bruchlose Anschluss an den post­mod­er­nen Wahrheit­splu­ral­is­mus ist evan­ge­likalen The­olo­gen darum nicht möglich.

Der weltan­schauliche Graben zwis­chen Offen­barung und Ver­nun­ft und damit zwis­chen evan­ge­likaler und lib­eraler The­olo­gie darf nicht klein­gere­det wer­den, son­dern sollte als solch­er benan­nt wer­den. Der Ver­suchung, die Suche nach Wahrheit oder nach ein­deuti­gen Stand­punk­ten agnos­tisch aufzugeben, ist zu wider­ste­hen. Von ein­er Bibelkri­tik, die mit den weltan­schaulichen Engführun­gen der Aufk­lärung belastet ist, soll­ten wir uns dis­tanzieren und dafür plädieren, die Schrift mit einem Grund­ver­trauen zu lesen. [37] Wenn wir diese Schlacht ver­lieren, ver­lieren wir den Kampf.

EINE PHILOSOPHIE DER LIEBE FÜR DIE POSTMODERNE ENTWICKELN

Die fun­da­men­tal­is­tis­che Weltvernei­n­ung trägt ein gerüt­teltes Mass Schuld an der gegen­wär­ti­gen Sit­u­a­tion. Exits aus fun­da­men­tal­is­tis­chen Gemein­schaften wur­den gelehrt, dass die Liebe zu Chris­tus sich mit der Liebe zur Welt nicht verträgt. Sie lern­ten, sich um geistliche Angele­gen­heit­en zu küm­mern und der Welt ihren Lauf zu lassen. Der Ein­satz für eine bessere Welt sei Zeitver­schwen­dung. Er lenke von der wichtig­sten Auf­gabe der Kirche ab, See­len aus dem Wrack zu ret­ten, wie es D.L. Moody vor über hun­dert Jahren aus­drück­te. Dieses unbib­lis­che Nar­ra­tiv muss über­wun­den werden.

In Teilen des Fun­da­men­tal­is­mus gibt es eine fatale Gle­ich­set­zung von Weltvernei­n­ung und Recht­gläu­bigkeit. Diese Gle­ich­set­zung führt bei Exits aus fun­da­men­tal­is­tis­chen Gemein­schaften dazu, sich pro­gres­siv­en For­men des Glaubens zuzuwen­den. Sie möcht­en Nach­folge mit Welt­gestal­tung verbinden und das bewusst als Teil ihrer christlichen Leben­se­in­stel­lung tun. Für andere bricht aus Ent­täuschung über die fun­da­men­tal­is­tis­che Welt­fremd­heit das Glaubens­fun­da­ment weg. Sie lassen das Evan­geli­um hin­ter sich, das für sie zu einem Syn­onym für Weltvernei­n­ung und Indif­ferenz in sozialen Fra­gen gewor­den ist und wer­den zu Agnostikern.

Wenn wir Evan­ge­likalen wollen, dass an den Rän­dern unser­er Bewe­gung das fun­da­men­tal­is­tis­che Ver­hält­nis zur Welt heilt, müssen wir eine Philoso­phie der Liebe für die Post­mod­erne entwick­eln, die feste bib­lis­che Wurzeln hat und Inspi­ra­tio­nen aus der Geschichte aufnimmt.

Hier kön­nen uns die Human­is­ten der Renais­sance Denkanstösse geben. Die ital­ienis­chen Human­is­ten waren die ersten, welche die Würde des Men­schen in den Mit­telpunkt stell­ten, ohne Gott aus dem Zen­trum des Uni­ver­sums zu vertreiben, wie es später die Aufk­lär­er tat­en. Ihr Ver­such, Welt­gestal­tung im Rah­men ein­er christlichen Weltan­schau­ung zu betreiben, wirkt inspiri­erend, ohne dass man ihr human­is­tis­ches Pro­gramm übernehmen muss.

Der ital­ienis­che Renais­sancedichter Francesco Petrar­ca (1304–1374) war der erste, der von der Idee der Gotte­seben­bildlichkeit aus die Würde des Men­schen zu einem Pro­gramm des Human­is­mus machte. [38] Der Flo­ren­tin­er Mar­silio Fici­no (1433–1499) entwick­elte eine Philoso­phie der Liebe. In ihr legte er dar, dass die Schön­heit der Welt, aber auch die Schön­heit von Men­schen, Spuren Gottes sind. Schön­heit war für Fici­no der Köder, den der Schöpfer auslegt, um die Men­schen zu sich emporzuheben. Den Auf­bruch des Human­is­mus ver­stand er nicht als Gefährdung, son­dern als Chance für das Chris­ten­tum: «Er verknüpfte die Impulse sein­er Zeit mit der christlichen Tra­di­tion und formte daraus das Ide­al eines weltof­fe­nen, geistre­ichen und intellek­tuell neugieri­gen Chris­ten­tums.» [39]

Der christliche Fun­da­men­tal­is­mus ist wed­er weltof­fen noch geistre­ich noch neugierig. Er ist aufrichtig, aber er ist ver­schlossen und intellek­tuell ein­sil­big. Was wir in der Post­mod­erne brauchen, ist ein christlich­er Human­is­mus im besten Sinn des Wortes mit starken bib­lis­chen Wurzeln, der weltof­fen und intellek­tuell ern­stzunehmend ist.

Als Evan­ge­likale kön­nen wir Inspi­ra­tion aus unser­er eige­nen Geschichte aufnehmen. Die ein­drück­liche abo­li­tion­is­tis­che Kam­pagne zur Abschaf­fung der Sklaverei im Eng­land des 18. Jahrhun­derts, an der britis­che Evan­ge­likale mass­gebend beteiligt waren und der Ein­satz der Evan­ge­lis­chen Allianz für Reli­gions­frei­heit kön­nen als Inspi­ra­tion dienen, um zu unseren ganzheitlichen Wurzeln zurückzufinden.

Wenn der evan­ge­likale Glaube in der Post­mod­erne Rel­e­vanz erzie­len will, muss er sich aus der fun­da­men­tal­is­tis­chen Verk­lam­merung lösen. Wir brauchen einen «christlichen Human­is­mus» für unsere Zeit. Er hat die Auf­gabe, eine Philoso­phie der Liebe für die Post­mod­erne zu entwick­eln, die resistent gegen Welt­fremd­heit, aber auch resilient gegen ausufer­nde Tol­er­anz ist.

Natür­lich müssen wir das bib­lisch begrün­den. Ohne bib­lis­che Ver­ankerung führt jede The­olo­gie der Zuwen­dung zur Welt in die human­is­tis­che Ver­flachung. In meinen Pub­lika­tio­nen habe ich ver­sucht, erste Para­me­ter im Rah­men ein­er evan­ge­likalen The­olo­gie zu set­zen. [40] Ich kann hier nur skizzieren, in welchen Bere­ichen Grund­la­ge­nar­beit nötig ist, damit ein frucht­bares gesellschaftlich­es Engage­ment the­ol­o­gisch auch durchge­hal­ten wer­den kann:

Als Aus­gangspunkt kann uns eine The­olo­gie der Schöp­fung dienen. Wir Evan­ge­likale haben eine starke The­olo­gie der Erlö­sung, aber eine schwache The­olo­gie der Schöp­fung. Dass die Schöp­fung gut ist (Gen 1,31), dass wir über sie herrschen und sie bebauen und bewahren sollen (Gen 2,15), dass Gott den Kos­mos lei­den­schaftlich liebt (Joh 3,16) und die Schöp­fung ihrer Befreiung ent­ge­gen­sieht (Röm 8,18 ff), bietet genug Inspi­ra­tion, um eine bib­lisch ver­ant­wort­bare The­olo­gie der Weltzuge­wandtheit zu entwickeln.

Nach­haltig gesun­den kann das fun­da­men­tal­is­tis­che Ver­hält­nis zur Welt nur, wenn wir den Blick auf Chris­tus richt­en und eine ganzheitliche Chris­tolo­gie entwick­eln. Jesu Inkar­na­tion ist Gottes gross­es Ja zur Schöp­fung und zur Leib­lichkeit. Jesus war Gottes Sohn und gle­ichzeit­ig wun­der­bar men­schlich. Er begab sich auf Augen­höhe mit den Aus­gestosse­nen, er berührte Kranke, heilte Zer­broch­ene, liess sich von Pros­ti­tu­ierten anfassen und feierte mit Zöll­nern und Sün­dern Feste (Lk 4,18 ff; Lk 7,36 ff; Lk 19,1 ff).

Das Kreuz ist der grosse Flucht­punkt seines aussergewöhn­lichen Lebens und ste­ht im Zen­trum der Evan­gelien. Am Kreuz süh­nte Jesus für unsere Sün­den und ver­söh­nte uns mit Gott. Im Glauben an ihn wer­den wir gerecht­fer­tigt und treten in den Raum der Gnade ein (Röm 5,1; Hebr 4,16). Die Urkirche hat sich geweigert, diese anstös­si­gen Ele­mente aus ihrer Verkündi­gung zu stre­ichen und uns damit den Weg gewiesen, den wir zu gehen haben.

Das Chris­ten­tum wird in Zukun­ft wed­er in pro­gres­siv­en noch in fun­da­men­tal­is­tis­chen For­men eine nen­nenswerte Rolle spie­len. Das pro­gres­sive Chris­ten­tum hat wenig spez­i­fisch Christlich­es zu sagen und wird zum Salz, das nicht mehr salzt. Fun­da­men­tal­is­tis­che For­men des Glaubens ver­lieren den Anschluss an die heutige Lebenswelt vol­lends und wer­den sprach­los. Rel­e­vant kann das Chris­ten­tum nur sein, wenn es sich kon­se­quent an Chris­tus orientiert.

Wir beken­nen Jesus als göt­tlichen Erlös­er von Schuld und Sünde und fol­gen einem wun­der­bar men­schlichen Jesus, der uns so sendet, wie der Vater ihn gesandt hat (Joh 20,21). Die kon­se­quente Aus­rich­tung auf Chris­tus ermöglicht es uns, eine Philoso­phie der Liebe für die Post­mod­erne zu entwick­eln und so das Nar­ra­tiv vom sink­enden Schiff hin­ter uns zu lassen. Wir ret­ten nicht See­len aus einem Wrack, son­dern sind Teil­haber an der Mis­sio Dei, um der Welt mit dem Evan­geli­um in Wort und Tat zu dienen. Um in der Post­mod­erne Rel­e­vanz zu erzie­len, brauchen wir nicht weniger Chris­ten­tum, son­dern mehr Chris­tus! Diesem Nar­ra­tiv kön­nen sich die meis­ten Post-Evan­ge­likalen anschliessen.

Es ist davon auszuge­hen, dass der Poste­van­ge­likalis­mus ein Über­gangsphänomen ist. Möglicher­weise wird der Begriff ver­schwinden, sobald die gegen­wär­tige Protest­phase abgeschlossen ist. Vielle­icht wird sich in ein­er Kon­so­li­dierungsphase der Post-Evan­ge­likalis­mus in einen mod­er­at­en und einen revi­sion­is­tis­chen Flügel weit­er aus­d­if­feren­zieren. Der revi­sion­is­tis­che Flügel wird die Gren­zen der evan­ge­likalen Land­karte ver­lassen und sich dem lib­eralen Chris­ten­tum anschliessen oder in den Athe­is­mus führen. Der mod­er­ate Flügel wird als Teil der vielfälti­gen evan­ge­likalen Bewe­gung weit­erex­istieren und ihn bere­ich­ern. Wenn es dem evan­ge­likalen Main­stream gelingt, die mod­er­at­en Kräfte zu inte­gri­eren, kön­nen kon­struk­tive Impulse aus den poste­van­ge­likalen Debat­ten aufgenom­men wer­den und der Evan­ge­likalis­mus zu mehr Gesellschaft­srel­e­vanz aufbrechen.

ABSCHLUSS

Heute, fast 4 Jahre nach dem Refer­at, sehe ich meine Prog­nose bestätigt: Der revi­sion­is­tis­che Flügel des Poste­van­ge­likalis­mus ver­lässt die Gren­zen der evan­ge­likalen Land­karte und schliesst sich dem lib­eralen Chris­ten­tum an. Ins­beson­dere was die Sex­u­alethik bet­rifft, trägt der Poste­van­ge­likalis­mus dem Zeit­geist unter­dessen brav die Schleppe nach statt die Fack­el voran. Weshalb die Ero­sion zen­traler Glaubenswahrheit­en der­art schnell voran­schre­it­et, werde ich im kom­menden Artikel «Kein Platz für Wahrheit?» mit Blick auf das Schriftver­ständ­nis deut­lich machen.



[1] Dietz, Thorsten 2022. Men­schen mit Mis­sion. Eine Land­karte der evan­ge­likalen Welt. Holzger­lin­gen: SCM Brockhaus.

[2] Hard­meier, Roland 2022. Kirche im postkon­fes­sionellen Umfeld. Fachrefer­at an der Tagung der Bun­desleitun­gen der Freien Evan­ge­lis­chen Gemein­den von Deutsch­land, Schweiz, Öster­re­ich und Ital­ien vom 22.6.2022.

[3] Lauster, Jörg 2021. Der Heilige Geist. München: C.H. Beck, 155.

[4] Schnädel­bach, Her­bert 2000. Der Fluch des Chris­ten­tums. Die sieben Geburts­fehler ein­er alt gewor­de­nen Wel­tre­li­gion. Eine kul­turelle Bilanz nach zweitausend Jahren. Die Zeit Nr. 20, Mai 2000.

[5] Welsch, Wolf­gang 1999. Mod­erne und Post­mod­erne, in Pech­mann, Ralph und Mar­tin Rep­pen­ga­gen (Hg.), Mis­sion im Wider­spruch. Reli­gion­s­geschichtliche Fra­gen heute und Mis­sion mor­gen. Neukirchen-Vluyn: Aus­saat / Neukirch­en­er, 40.

[6] Tom­lin­son, Dave 1995. The post evan­gel­i­cal. Lon­don: SPCK, 6.

[7] Hard­meier, Roland 2020. Die Stadt des Königs. Eine bib­lis­che The­olo­gie der Hoff­nung. Stu­di­en­rei­he IGW. München: GRIN, 33ff.

[8] Näheres bei Hard­meier, Roland 2009. Kirche ist Mis­sion. Auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Mis­sionsver­ständ­nis. Stu­di­en­rei­he IGW. Schwarzen­feld: Neufeld, 19ff; ders. 2015, Mis­sion­ale The­olo­gie. Evan­ge­likale auf dem Weg zur Weltver­ant­wor­tung. Stu­di­en­rei­he IGW. Schwarzen­feld: Neufeld, 63ff.

[9] Bauer, Gisa 2012. Evan­ge­likale Bewe­gung und evan­ge­lis­che Kirche in der Bun­desre­pub­lik Deutsch­land (Dis­ser­ta­tion). Göt­tin­gen: Van­den­hoeck und Ruprecht, 639.

[10] Web­ber, Robert E. 2002. The Younger Evan­gel­i­cals. Fac­ing the Chal­lenges of the New World. Grand Rapids: Baker.

[11] Faix, Kün­kler und Bach­mann, Emerg­ing Church ver­ste­hen. Eine Ein­ladung zum Dia­log. Mar­burg: Francke.

[12] Till, Markus 2019. Zeit des Umbruchs. Wenn Chris­ten ihre evan­ge­likale Heimat ver­lassen. Holzger­lin­gen: SCM Brockhaus.

[13] Tod­jeras, Patrick 2021. «Post-Evan­ge­likal» — eine Ver­ständi­gung, in Pas­toralthe­olo­gie 2021/3, 66.

[14] Lukas Amstutz lenkt in seinem Bienen­berg Beitrag (Bienen­berg Mag­a­zin 2020, 11) den Blick auf die tiefer­liegen­den Anliegen der Bewe­gung. Über die «tiefe Unruhe» über tra­di­tionelle Glaubensin­halte und For­men hin­aus benen­nt Amstutz die fol­gen­den pos­i­tiv­en Anliegen des Post-Evan­ge­likalis­mus: «Die Bibel und ihre Ausle­gung: Post-Evan­ge­likale beschäftigt die Unter­schiedlichkeit bib­lis­ch­er Texte mit ihren teils span­nungsvollen Aus­sagen. Ein­sicht­en der Bibel­wis­senschaften helfen ihnen, die Texte in ihrem Kon­text zu lesen und ihre Weisheit in mod­erne Lebenswel­ten zu über­set­zen. Ganzheitlich­es Evan­geli­um:  Post-Evan­ge­likale sor­gen sich nicht primär um das ‘See­len­heil’, son­dern erwarten, dass die gute Nachricht vom Reich Gottes bere­its heute zu einem christlichen Lebensstil ans­tiftet, der auch soziale und ökol­o­gis­che Gerechtigkeit umfasst. Das Ver­hält­nis zur ‘Welt’: Post-Evan­ge­likale erleben, dass auch ausser­halb der Kirche viel Gutes geschieht. Sie erken­nen darin das Wirken Gottes und sind bere­it, Wege des Miteinan­ders zu suchen, die ein friedlich­es Zusam­men­leben fördern. Gemein­schaft vor Struk­turen: Post-Evan­ge­likale pfle­gen neue For­men von Gemein­schaften, die Grup­pen­zuge­hörigkeit mit Flex­i­bil­ität, Authen­tiz­ität, Respekt vor der per­sön­lichen Indi­vid­u­al­ität und Platz für Scheit­ern zu verbinden suchen. Glaub­würdi­ges Christ­sein: Post-Evan­ge­likale scheuen sich nicht, Fra­gen und Zweifel offen zu for­mulieren. Schnellen und ein­fachen Antworten mis­strauen sie. Sie ziehen es vor, mit gewis­sen Span­nun­gen und Brüchen zu leben, anstatt eine christliche Dop­pel­moral zu leben. Die Liebe Gottes als Haup­tantrieb: Post-Evan­ge­likale lassen sich von der Liebe Gottes motivieren, ihren Glauben mit anderen zu teilen. In dieser Liebe sehen sie auch ihre Offen­heit gegenüber anderen Lebensen­twür­fen und ‑for­men begrün­det.» Der Schweiz­er Pas­tor und Blog­ger Dave Jäg­gi stimmt in seinem Blog «Sola Gra­tia» diesen The­sen zu und ergänzt sie mit ein­er siebten, um das Bild des Post-Evan­ge­likalis­mus abzu­run­den: «Post-Evan­ge­likale sind auf der Suche nach neuen Fröm­migkeits­for­men. Sie ent­deck­en die ural­ten Schätze christlich­er Spir­i­tu­al­ität und monas­tis­ch­er Tra­di­tio­nen neu. Im Wis­sen um ihre Ver­bun­den­heit mit der Erzählge­mein­schaft des Chris­ten­tums und Fam­i­lie Men­sch, scheuen sie nicht die Auseinan­der­set­zung mit Schätzen aus der Spir­i­tu­al­ität ander­er Reli­gio­nen. Daraus wollen sie in küh­n­er Demut ler­nen, um die eigene Fröm­migkeit­sprax­is frucht­brin­gend zu erweit­ern und auf die Sehn­süchte der Men­schen des 21. Jh. zu reagieren.».

[15] Aus­druck dafür ist Dietz, Thorsten und Tobias Faix 2025. Wege zur Liebe. Eine Sex­u­al­ität zum Sel­ber­denken. Neukirchen-Vlyun: Neukirch­en­er Verlagsgesellschaft.

[16] Hard­meier, Roland 2015. Mis­sion­ale The­olo­gie. Evan­ge­likale auf dem Weg zur Weltver­ant­wor­tung. Schwarzen­feld: Neufeld, 31ff.

[17] Tod­jeras, «Post-Evan­ge­likal», 72.

[18] Tom­lin­son, The post evan­gel­i­cal, 85ff.

[19] Zim­mer, Siegfried 2015. Ein Beispiel zur Arbeitsweise der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft. Refer­at vom 31.7.2015. Vgl. auch sein Worthaus Refer­at Warum das fun­da­men­tal­is­tis­che Bibelver­ständ­nis nicht überzeu­gen kann.

[20] Streib, Heinz, Ralph W. Hood Jr., Bar­bara Keller, Rosi­na-Martha Csöff und Christo­pher F. Sil­ver 2009. Decon­ver­sion. Qual­i­ta­tive und Quan­ti­ta­tive Results from Cross-Cul­tur­al Research in Ger­many and the Unit­ed States of Amer­i­ca, 26ff.

[21] Tod­jeras, «Post-Evan­ge­likal», 74; ders 2019. «Emerg­ing Church» — ein dekon­ver­siv­er Kon­ver­sa­tion­sraum. Eine prak­tisch-the­ol­o­gis­che Unter­suchung über ein anglo-amerikanis­ches Phänomen gelebter Reli­giosität (Dis­ser­ta­tion).

[22] Web­ber, The Younger Evan­gel­i­cals, 16.

[23] Stet­zer, Ed 2006. Under­stand­ing the Emerg­ing Church. www.crosswalk.com vom 18.6.2022.

[24] Bach­mann, Arne-Flo­ri­an 2017. Postkon­fes­sionelle Iden­titäten? Eine Bege­hung der Post-Evan­ge­likalen Land­schaft. www.cursor.pubpub.org vom 31.10.2017, 7.

[25] Reimer, Johannes 2009. Die Welt umar­men. The­olo­gie des gesellschaft­srel­e­van­ten Gemein­de­baus. Mar­burg: Francke.

[26] Zur Nachze­ich­nung der dama­li­gen Sit­u­a­tion siehe für eine Aussen­per­spek­tive Bauer, Evan­ge­likale Bewe­gung, 259ff, sowie Wro­ge­mann, Hen­ning 2013. Mis­sion­s­the­olo­gien der Gegen­wart. Glob­ale Entwick­lun­gen, kon­textuelle Pro­file und öku­menis­che Her­aus­forderun­gen. Güter­sloh: Güter­slo­her Ver­lagshaus, 119ff; für eine Innen­per­spek­tive Bre­itschw­erdt, Jörg 2019. The­ol­o­gisch kon­ser­v­a­tiv. Stu­di­en zur Genese und Anliegen der evan­ge­likalen Bewe­gung in Deutsch­land (Dis­ser­ta­tion). Göt­tin­gen: Van­den­hoeck und Ruprecht, 355ff.

[27] Schmied­ing Christoph 2019. www.eulemagazin.de vom 25.9.2019.

[28] Zim­mer, Siegfried 2012. Schadet die Bibel­wis­senschaft dem Glauben? Klärung eines Kon­flik­ts. Göt­tin­gen: Van­den­hoeck und Ruprecht.

[29] Zum protes­tantis­chen Schrift­prinzip: Lauster, Jörg. 2004. Prinzip und Meth­ode. Die Trans­for­ma­tion des protes­tantis­chen Schrift­prinzips durch die his­torische Kri­tik von Schleier­ma­ch­er bis zur Gegen­wart. Tübin­gen: Mohr Siebeck.

[30] Lauster, Jörg 2015. Die Verza­uberung der Welt. Eine Kul­turgeschichte des Chris­ten­tums. München: C.H. Beck, 508.

[31] Lauster, Die Verza­uberung der Welt, 508.

[32] Aus­führlich­er in Hard­meier, Roland 2024. Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evan­ge­likale zwis­chen fun­da­men­tal­is­tisch und poste­van­ge­likal. Giessen: Brunnen.

[33] Lauster, Die Verza­uberung der Welt, 401.

[34] Dietz, Men­schen mit Mis­sion, 189.

[35] Brud­er­er, Paul 2020. Die dritte Option. www.danieloption.ch vom 8.3.2020.

[36] Hille, Rolf 2022. Hat das poste­van­ge­likale Brück­en­bauen Gren­zen? www.idea.de vom 18.5.2022.

[37] Vgl. Bre­itschw­erdt, The­ol­o­gisch kon­ser­v­a­tiv, 81ff. Bre­itschw­erdt zeich­net die Auseinan­der­set­zung zwis­chen dem kon­ser­v­a­tiv­en Chris­ten­tum und der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft im deutschsprachi­gen Raum im 19. und 20. Jahrhun­dert akribisch nach. Die Par­al­le­len zum gegen­wär­ti­gen Stre­it um das Schriftver­ständ­nis sind offen­sichtlich. Schon damals ging es darum, das protes­tantis­che Schrift­prinzip gegen die Ver­nun­ft zu vertei­di­gen und an einem Grundbe­stand des Glaubens beken­nt­nis­ar­tig festzuhal­ten. Siehe auch meine sech­steilige Serie «Holy Bible» (www.danieloption.ch), in der ich den Kon­flikt im Schriftver­ständ­nis zwis­chen den Evan­ge­likalen und der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft auf die wesentlichen Fra­gen reduziere und ihn his­torisch und the­ol­o­gisch einordne.

[38] Lauster, Die Verza­uberung der Welt, 246ff.

[39] Lauster, Der Heilige Geist, 149–150.

[40] Hard­meier, Roland 2009. Kirche ist Mis­sion. Auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Mis­sionsver­ständ­nis. Schwarzen­feld: Neufeld; ders. 2012. Geliebte Welt. Auf dem Weg zu einem neuen mis­sion­ar­ischen Par­a­dig­ma. Schwarzen­feld: Neufeld; ders. 2015. Mis­sion­ale The­olo­gie. Evan­ge­likale auf dem Weg zur Weltver­ant­wor­tung. Schwarzen­feld: Neufeld.


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Roland Hardmeier

Dr. theol. Roland Hardmeier wohnt und arbeitet in Riedikon bei Uster. Er war 15 Jahre lang Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz. Heute ist er als selbständiger Dozent, Referent und Autor tätig. Einblicke in seine Tätigkeit gibt seine Website www.roland-hardmeier.ch

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