Vor einigen Monaten sorgte unser Artikel über gemeinsame Überzeugungen von Atheisten und ‘progressiven’ Christen für hitzige Diskussionen. Einige Leser empfanden den Ansatz der Autorin unfair gegenüber diesen Christen. Deshalb nehme ich mich heute selber in die Pflicht, denn auch ich habe einige gemeinsame Überzeugungen mit Atheisten. Here you go: Drei Dinge, die mich als überzeugter Christ mit Atheisten verbindet!
Ich steige ein bisschen philosophisch ein. Mich verbindet mit Atheisten ein ähnliches Verständnis von Realität und Rationalität. Atheisten und auch ich sind überzeugt, dass die Wirklichkeit ein zusammenhängendes und widerspruchfreies Ganzes ist, welches dem menschlichen Verstand und Geist zugänglich ist. Über den Grund warum dies der Fall ist, sind Atheisten und ich uns keinen Milimeter einig. Aber dass es so ist, davon sind wir gemeinsam überzeugt.
Mit diesem Verständnis stehen Atheisten und ich im Widerspruch zu postmodernen Überzeugungen, welche eine radikale Abkehr von der Rationalität der Moderne suchen. Die Postmoderne geht davon aus, dass die Wirklichkeit kein widerspruchsloses Ganzes ist, und dass der menschliche Verstand deshalb widersprüchliche Aussagen gleichzeitig für wahr halten kann.
Du magst beim Lesen solcher Aussagen den Kopf schütteln. “Was?” denkst du, “logischerweise ist die Wirklichkeit ein zusammenhängendes Ganzes, welches Sinn macht und welches wir mit unserem Verstand erkennen und erforschen können!” Wenn du so denkst, zeigst du damit nur, wie modern du tickst. Die Welt kennt Weltanschauungen, welche diesbezüglich völlig anders funktionieren. Östliche Religionen zum Beispiel, sehen die ‘Wirklichkeit’ oft als eine Art Traum des Göttlichen, welcher keine zusammenhängende Logik hat. Eine solche Weltanschauung sieht die ‘Wirklichkeit’ nicht als etwas, das wir in der Art, wie die westliche Wissenschaft es tut, erforschen können.
Auch wenn ich den Ton seiner Publikationen oft schwierig finde, so bin ich mit dieser Aussage vom aktuell wohl bekanntesten Atheisten Richard Dawkins einig:
Zeige mir einen kulturellen Relativist auf dreissigtausend Fuss Höhe und ich zeige dir einen Heuchler. Flugzeuge, die nach wissenschaftlichen Prinzipien gebaut sind, funktionieren. Sie bleiben stabil in der Luft und bringen dich an das Ziel deiner Wahl… Wenn du zu einem Kongress von Anthropologen oder Literaturkritikern fliegst, ist der Grund, warum du es vermutlich sicher an den Kongress schaffst — der Grund warum dein Flug nicht in einem Acker endet — dass viele Ingenieure der westlichen Welt ihre mathematischen Gleichungen richtig berechnet haben. Dawkins, River out of Eden, Kindle Position 435, eigene Übersetzung
Mit anderen Worten: Wissenschaft gibt uns Zugang zur Wirklichkeit, was uns wiederum ermöglicht, Dinge wie Flugzeuge, Mobiltelefone, Beatmungsgeräte und Kühlschränke zu bauen, die in dieser Wirklichkeit auch funktionieren. Ich könnte über viele Punkte reden, in denen ich als Christ völlig andere Überzeugungen habe als meine atheistischen Freunde. Aber hier gibt es eine klare geteilte Überzeugung: Die Wirklichkeit ist ein zusammenhängendes und widerspruchfreies Ganzes, und ist für uns Menschen mental zugänglich.
Interessanterweise führte genau diese gemeinsame Überzeugung dazu, dass einer der prominentesten atheistischen Philosophen der letzten Jahrzehnte, Antony Flew, gegen Ende seines Lebens vom Atheist zum Theist wurde. Mit anderen Worten glaubte er vorher nicht an die Existenz Gottes, nachher schon:
Mein Abschied vom Atheismus wurde nicht von neuen Phänomenen oder Argumenten ausgelöst.… (sondern war) die Auswirkung meiner fortlaufenden Analyse der Beweise in der Natur. Als ich schlussendlich die Existenz Gottes erkannt habe, war es nicht ein Wechsel von einem Paradigma in ein anderes, weil mein Paradigma dasselbe bleibt…: “Wir müssen den Beweisen dorthin folgen, wohin sie führen” There is a God, Seite 89, eigene Übersetzung
Spannend! Für Flew bedeutet der Wechsel von Atheismus zu Theismus keinen Paradigmenwechsel! Der Grund liegt in der Überzeugung, die ich hier als gemeinsame Überzeugung darstelle, nämlich: Die Wirklichkeit liefert Hinweise oder Beweise, weil sie ein zusammenhängendes und widerspruchfreies Ganzes ist, welches dem menschlichen Verstand und Geist zugänglich ist. Wir können also den Beweisen folgen, wohin sie führen, vielleicht sogar in den Glauben an die Existenz Gottes.
Für mich als Christ ist klar, dass es hier nicht nur um ‚kalte‘ Rationalität geht, in der wir bloss eine intellektuelle Erkenntnis der Existenz Gottes finden. Die Beweise führen zur Überzeugung, dass Gott existiert als eine Person, der unser Herz mit seiner Liebe entfachen will und sich unglaublicherweise nach Beziehung mit uns sehnt! (Römer 5:5; Lukas 24:32) Doch damit wir uns dieser zutiefst faszinierenden Einsicht und ergreifenden Erfahrung mit Zuversicht hingeben können, brauchen wir Vertrauen, dass unser Verstand Zugang hat zur Wirklichkeit. Atheisten und ich teilen diesbezüglich eine gemeinsame Grundhaltung, welche zu drei Überzeugungen führt, die ich mit Atheisten gemeinsam habe.
Überzeugung 1: Wir dürfen mutige Fragen stellen und zufriedenstellende Antworten erwarten
Atheisten glauben die Antwort auf eine der grössten Fragen der Menschheit zu kennen: Gibt es einen personalen Schöpfer-Gott? Atheisten sind sich sicher dass er nicht existiert. Es braucht heute Mut, solche Fragen zu stellen, geschweige denn es zu wagen, sie zu beantworten. Auch wenn ich mit der Antwort der Atheisten nicht einverstanden bin, teile ich ihre Meinung, dass wir den Mut haben dürfen, die grossen Fragen über die Wirklichkeit zu stellen und Antworten zu finden, die zufriedenstellend genug sind, dass wir Frieden oder sogar Gewissheit in unserem Denken finden können.
Albert Mohler weist auf diese gemeinsame Überzeugung von Atheisten und Christen wie mir hin:
Der Neue Atheismus ist fest verbunden mit dessen eigenem Konzept von wissenschaftlicher Erkenntnis. Es ist gewissermassen ein Gegenentwurf zum postmodernen Geist. Die Neuen Atheisten sind keine Relativisten. Sie glauben nicht, dass alle Wahrheit nur das Produkt sozialer Konstruktion ist. Im Gegenteil würdigen die Neuen Atheisten die Frage nach der Wahrheit, auch wenn sie der Wahrheit widersprechen, die am zentralsten zum Christentum gehört: Die Existenz des selbstoffenbarenden Gottes. Mohler, Atheism Remix, Seite 87, eigene Übersetzung
Das progressive Lager der Christenheit, welches eher von postmodernen Denkvoraussetzungen geprägt ist, teilt diese Zuversicht nicht. Aus meiner Sicht: Leider! Kürzlich trank ich mit einem meiner progressiven Freunde ein Bier. Ich fragte ihn, ob wir seiner Meinung nach wissen können, ob Gott existiert oder nicht. Er musste nicht lange nachdenken, sondern antwortete sofort und mit klarer Überzeugung: “Nein! Metaphysische Fragen können wir nicht beantworten! Wenn es um das Wesen der Welt und um Gott geht, müssen wir agnostisch ungewiss bleiben”. Seine Gewissheit ist, dass wir über derart grundlegende Fragen keine Gewissheit haben können. Ich kann mich spontan an mehrere online-Diskussionen der letzten Monate erinnern, in denen Christen eine ähnliche Haltung zum Ausdruck brachten. Sie sehen das Christentum — um es in den Worten eines anderen Freundes zu sagen — höchstens als eine Ahnung von dem, was es nicht gibt.
Mir ist klar, dass unser menschlicher Verstand keine absolute Erkenntnis haben kann. Den Grund dafür sehe ich in unserem Geschöpf-Sein und in der Auswirkung des Sündenfalls auf unser Denken. Allein der Schöpfer hat absolutes Wissen. Diese Tatsache bedeutet aber nicht, dass wir nur unsicheres Wissen haben können, denn unser Schöpfer hat uns echten mentalen Zugang zur Wirklichkeit gegeben. Darum freue ich mich, zusammen mit meinen atheistischen Freunden, mutig die Fragen nach der letzten Wirklichkeit zu stellen und Antworten zu erwarten.
Überzeugung 2: Halbherzige Softreligion lässt uns im Stich
Der inzwischen verstorbene aber sehr bekannte Atheist Christopher Hitchens zeigt uns seine Aversion gegen Religion, die nur noch beansprucht, therapeutisch zu sein und den Bezug zur Wirklichkeit schon gar nicht mehr herzustellen versucht:
Der Schulmeister, der die täglichen Andachten und Gebete leitete und die Bibel in der Hand hielt… gab uns eines Abends ein ernstes Referat: “Ihr mögt zu diesem Zeitpunkt eures Lebens keinen Sinn in diesem Glauben sehen. Aber eines Tages, wenn ihr geliebte Menschen verliert, werdet ihr es”. Wieder fuhr ein Stich der Empörung und des Unglaubens durch mich. Warum? Weil er mehr oder weniger deutlich gesagt hat: Es ist nicht nötig, dass die Religion wahr ist, solange sie uns tröstet wenn wir es nötig haben. Hitchens, God is Not Great, Seite 6, eigene Übersetzung
Auch wenn Hitchens seinen Schulmeister vielleicht falsch verstanden haben könnte, so sehen wir an seiner Aussage dennoch seine Abscheu vor einer Religion, die keinen Anspruch auf Wahrheit erhebt. Sein Beispiel zeigt uns, was die Auswirkungen sein können, wenn jemand so etwas als Christentum verkauft. Zuhörer die (verständlicherweise!) Interesse an der Wirklichkeit haben, wenden sich ab.
Christlicher Glaube der sich fast nur noch über Ungewissheiten definiert, ist vielen Menschen suspekt. Es gibt Zeiten des Fragens, Phasen der Zweifel. Ich kenne sie nur zu gut aus eigener Erfahrung. Doch die Lösung ist nicht, dass wir den Anspruch aufgeben, Antworten finden zu können. Einem ehrlichen Zweifler gibt es Hoffnung zu hören, dass es vielleicht Licht am Ende des Tunnels gibt. Jeder Zweifler muss seinen eigenen Weg finden und wir können ihn auf diesem Weg begleiten. Aber dem Zweifler suggerieren, auf ihn würden letztlich nur Aussagen warten die keinen Bezug zur Wirklichkeit haben, empfinde ich als brutal.
Ich mag den Ton von Hitchens so wenig wie den von Dawkins. Doch ich empfehle, seine Verachtung von Softreligion ernst zu nehmen. Ich bin mit ihm einig: Religion, die sich nicht durch ein klares Bekenntnis zur Wirklichkeit verletzlich macht, ist eine therapeutische Softreligion, die uns im entscheidenden Moment im Stich lässt. Sie lässt im Stich eben gerade weil sie keinen Wirklichkeits-Bezug schafft. Aufgrund meiner seelsorgerischen Erfahrung denke ich: Wenn es hart auf hart geht, wollen die Menschen hören und wissen, was Wirklichkeit ist. Deshalb meine ich, dass manche christliche Bewegungen, die fast nur noch Fragen stellen ohne Antworten geben zu wollen, ihre zuhörenden Menschen im entscheidenden Moment im Stich lassen.
Überzeugung 3: Religion braucht Kritik
Die Kritik der Atheismus-Protagonisten an der Religion ist unerbittlich, unnachgiebig und geht bis in die Grundfesten der kritisierten Religionen. Für Dawkins ist zum Beispiel klar, dass der Gott der Bibel ein ‘psychotischer Übeltäter’ ist (Der Gotteswahn, Seite 55). Dieser Ansatz ist fester Bestandteil seines Denkens und wird in seinen Veröffentlichungen mantramässig wiederholt.
Atheisten wissen, dass Religion kritisiert werden muss. Ich bin mit ihnen einverstanden. Inwiefern sie dies in Bezug auf ihre eigene Religion tun, muss ich nicht wissen. Die Frage, die ich mir stellen muss, ist, ob ich Kritik an meiner eigenen Glaubenslehre und Praxis zulasse. Der christliche Glaube baut auf dem jüdischen Glauben auf, der fest eingebaute Selbstkritik-Mechanismen hatte: Die Propheten. Die alttestamentlichen Propheten übten mitunter derart scharfe Kritik an der Glaubenslehre und Praxis im eigenen Volk, dass die Herren Dawkins und Hitchens daneben verblassen.
Warum ist diese Kritik nötig? Aus christlicher Sicht liegt das Hauptproblem im Wesen des Menschen, welches der Tendenz unterworfen ist, sich selbst zum Gott zu machen. Wir sehen den mysteriösen aber realen Anfang dieser Tendenz in der Bibel in Genesis 3. Damit ist die ständige Versuchung aller Menschen vorgegeben, Gott für die eigenen Zwecke missbrauchen zu wollen. Dies kann im persönlichen Leben stattfinden, in kirchlichen Strukturen, wie auch in politischer Tyrannei. Das Problem der Religion liegt also im Wesen des Menschen selbst. Hempelmann bringt es auf den Punkt:
Das tiefste Problem besteht… nicht darin, dass es Religion gibt, sondern dass es den Machtmenschen gibt, der sich ständig religiös verhält. Hempelmann, Der Neue Atheismus, Seite 83
Jeder ist ein Stück Machtmensch. Wir müssen deshalb Kritik von Aussen an unserem persönlichen Denken und Handeln zulassen. Aber wir müssen auch Kritik an der eigenen Glaubensgemeinschaft annehmen und üben. Damit folgen wir lediglich dem Vorbild der ersten Christen und dem Auftrag, den Christus uns gegeben hat, wie der Artikel von Jürgen Neidhart aufzeigt, und Johannes Hartl wie auch Markus Till beispielhaft vormachen.
Wie geht es weiter?
Alister MacGrath denkt, dass der Atheismus es nicht geschafft hat, die Imagination und das Herz der heutigen Menschen zu erobern. Er schreibt:
Die Sonne hat angefangen, sich über einem weiteren Imperium zu neigen (dem Atheismus, meine Anmerkung). Es ist im Moment völlig unklar, was die Zukunft des Atheismus ist und was den Atheismus ersetzen wird. MacGrath, The Twilight of Atheismus, Kindle Position 99
Der Atheismus kämpft bezüglich Popularität mit ähnlichen Problemen, wie das klassische Christentum, weil beide bestimmte Ansätze vertreten, die jenen der Postmoderne diametral entgegengesetzt sind. Einige davon erwähne ich in diesem Artikel. Rationalität wird als kalt, unmenschlich und (man staune über diese Aussage) irreführend empfunden.
Wir haben als Christen Hausaufgaben: Wie stellen wir einen guten Bezug zu postmodern geprägten Menschen her? Was ist nötig? Was ist wahr und langfristig hilfreich? Aus meiner Sicht sollten die vorgeschlagenen Lösungen nicht der insgeheime Kniefall vor den relativistischen Lösungsvorschlägen der Postmoderne sein, weil diese letztlich alles unterwandern was uns zu Menschen macht. Die Postmoderne hat richtigerweise das Problem von Macht und dessen Missbrauch aufgezeigt, doch die vorgeschlagenen Lösungen bringen uns meiner Meinung nach nicht weiter. In den Artikeln, die wir in den nächsten Wochen veröffentlichen, möchten wir einige Ansätze vorstellen, die hoffnungsvoller scheinen.
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