Dieser Artikel ist Teil der 11-teiligen Serie «Die Zehn Gebote des progressiven Christentums — eine kritische Untersuchung von 10 gefährlich verlockenden Halbwahrheiten». Hier geht es zum Anfang der Serie.
Tauchen wir gleich ein mit dem ersten Gebot des progressiven Christentums: “Jesus ist mehr ein Vorbild fürs Leben als ein Objekt unserer Anbetung”.
In vielerlei Hinsicht ist dies ein passendes erstes Gebot für das progressive Christentum. Wenn man die Wahl hat zwischen der Anbetung Jesu (was voraussetzt, dass Jesus göttlich ist) und der bloßen Betrachtung von Jesus als gute moralische Leitfigur, haben Liberale immer das Letztere bevorzugt.
Natürlich könnte man einwenden, dass dieses erste Gebot die Göttlichkeit Jesu nicht wirklich ablehnt, wegen der Formulierung «mehr als». Könnte es sein, dass das progressive Christentum zwar die Göttlichkeit Jesu bejaht, aber vor allem dessen moralisches Beispiel in den Vordergrund stellt?
Laut Gulley’s Buch ist das nicht der Fall. Schlicht und unverblümt lehnt Gulley die Jungfrauengeburt, die Sündlosigkeit Jesu und die Wunder Jesu als Mythen ab, welche konstruiert wurden, um Jesus in einen «göttlichen Status» zu erheben. Gulley besteht sogar darauf, dass die «kirchliche Anbetung von Jesus etwas ist, das dieser nicht befürwortet hätte.»[1]
Es ist also klar, dass die Progressiven nicht einfach nur Jesus als moralisches Beispiel in den Vordergrund stellen, sondern sie lehnen den göttlichen Status von Jesus direkt ab. Dieser Schritt ist nichts Neues. Zu Machen’s Zeiten funktionierte das liberale Christentum gleich:
«Der Liberalismus sieht in Jesus ein Beispiel und einen Wegweiser, während dessen das Christentum ihn als einen Erlöser sieht: Der Liberalismus macht Jesus zu einem Vorbild für den Glauben und das Christentum zum eigentlichen Objekt des Glaubens.»[2]
An diesem Punkt müssen wir tiefer eintauchen. Funktioniert das Christentum eigentlich noch, wenn Jesus nur ein moralisches Beispiel ist? Hier ergeben sich mehrere Probleme:
Jesus selbst behauptete, mehr als ein moralisches Vorbild zu sein.
Zuerst müssen wir festhalten, dass Jesus selbstverständlich ein moralisches Vorbild war für seine Anhänger. In der Tat rief er seine Nachfolger oft dazu auf, das zu tun, was er getan hat (z.B. Joh 13:15). Aber ist Jesus nur ein moralisches Beispiel? Oder anders gefragt: Stellen die Evangelien Jesus nur als einen Weisen dar (wie z.B. Gandhi), der Tipps für das praktische Leben gibt?
Eine ehrliche Lektüre der Evangelien zeigt, dass die Antwort auf diese Frage ein klares «Nein» ist. Jesus wird in diesen Texten durchgehend nicht nur als guter Lehrer, sondern als göttlicher Herr des Himmels und der Erde dargestellt. Abgesehen von den offensichtlichen Stellen im Johannes-Evangelium, die dies zeigen (z.B. Joh 1:1; 1:18; 8:58; 10:30), haben Gelehrte argumentiert, dass Jesu Göttlichkeit auch in den synoptischen Evangelien von Matthäus, Markus und Lukas deutlich wird.
So hat zum Beispiel Michael Bird in seinem kürzlich erschienenen Buch «Jesus the Eternal Son»[3] argumentiert, dass sogar Markus – das Evangelium, von dem man oft annimmt, dass es den «menschlichsten» Jesus präsentiert – eine ausgesprochen hohe Christologie hat. Jesus ist der «Herr», Jahwe, der sein Volk besucht und Sünden vergibt, der Herrscher über Wind und Wellen und der Richter über das ganze Universum. Es sind diese Fakten, die C.S. Lewis zu seinem bekannten Zitat über Jesus veranlasste:
«Ich versuche hier, jedermann vor dem groben Unfug zu bewahren, der oft über Jesus geäußert wird: «Für mich ist Jesus zweifellos ein großer Morallehrer, aber seinen Anspruch, Gott zu sein, kann ich nicht akzeptieren.» Gerade das können wir nämlich nicht sagen. Ein Mensch, der bloß ein Mensch wäre und solche Dinge von sich gäbe wie Jesus, wäre kein großer Morallehrer. Er wäre entweder ein Irrer – auf derselben Ebene wie einer, der sich für ein pochiertes Ei hält –, oder aber er wäre der Teufel in Person. Sie müssen sich entscheiden.»[4]
Die Nachfolger von Jesus beteten ihn an als Herrn.
Wenn das erste Gebot des progressiven Christentums in Bezug auf die Anbetung Jesu recht zögerlich erscheint, so ist dies in keiner Weise, wie die ersten Christen es empfanden. Da sie Jesus als ihren Herrn betrachteten, widmeten sie sich vorbehaltlos seiner Anbetung.
Und jetzt kommt der Clou: Die ersten Christen taten dies, während sie sich gleichzeitig voll und ganz dem Monotheismus verpflichtet fühlten. Sogar als Juden beteten sie Jesus an, denn sie glaubten, dass er der einzig wahre Gott Israels war.
Wir sollten auch beachten, dass Jesus diese Anbetung nie abgelehnt hat. Er wurde deswegen auch nicht verlegen, unbehaglich oder zögerlich. Er begrüsste die Anbetung ohne Vorbehalte. Ein paar Beispiele:
- Die Heiligen Drei Könige beten Jesus an (Mt 2:11).
- Die Jünger beten Jesus im Boot an (Mt 14:33).
- Die Jünger beten Jesus nach seiner Auferstehung an (Mt 28:9; Lk 24:52).
- Der blind geborene Mann betet Jesus an (Joh 9:38).
- Jedes Knie wird sich vor dem Herrn Jesus beugen (Phil 2:10).
- Die Engel beten Jesus an (Hebr 1:6).
- Praktisch das gesamte Buch der Offenbarung handelt von der Anbetung Jesu.
Diese kurze Auswahl berücksichtigt noch nicht einmal die zahlreichen doxologischen Aussagen über Jesus, noch berücksichtigt sie die Anbetungspraktiken der ersten Christen, die eine Art der Hingabe an Christus zeigen, die allein Gott vorbehalten ist.[5]
Das moralische Beispiel von Jesus ist nur dann verbindlich, wenn er Herr ist.
Während liberale Christen viel von Jesu moralischem Beispiel reden, fehlt in ihrem System seltsamerweise die Frage, warum sich überhaupt jemand dafür interessieren sollte. Denn wenn Jesus nur ein gewöhnlicher Mensch war, warum sollten wir dann glauben, dass sein Moralkodex besser ist als derjenige eines anderen Menschen? Warum ist Jesu moralischer Code überhaupt von Bedeutung?
Ist es nicht gerade das progressive christliche System, das sich ständig gegen Menschen wehrt, die absolute moralische Ansprüche erheben? Die Moral ist relativ – wird uns gesagt. Die Moral ist ständig im Wandel und kulturell bedingt. Es gibt nicht die eine wahre Moral, also sollte sie auch niemandem aufgezwungen werden.
Warum wird diese Art von Kritik nicht auf Jesus angewendet, wenn er doch nur ein Mensch ist? Nun, ich kann mir vorstellen, dass man argumentieren könnte, dass Jesus moralische Autorität hat, nicht weil er göttlich ist, sondern weil er ein Prophet Gottes ist. Aber wie würden wir wissen können, dass er ein Prophet Gottes ist? Die Heilige Schrift ist die einzige Möglichkeit, genug über Jesus zu wissen, um eine solche Schlussfolgerung zu ziehen.
Das wirft natürlich die Frage auf, was Progressive über die Heilige Schrift denken. Viele Progressive halten die Heilige Schrift nicht für zuverlässig und lehnen ihre Inspiration offen ab. Doch wenn die Schrift unzuverlässig und uninspiriert ist, wie können sie dann wissen, dass Jesus ein Prophet ist?
Andere Progressive wollen vielleicht behaupten, dass sie die Inspiration der Schrift anerkennen. Aber wenn sie das tun, warum akzeptieren sie dann nicht die klare Lehre der Heiligen Schrift, dass Jesus nicht nur ein Prophet ist, sondern mehr? Warum akzeptieren sie die obigen Passagen nicht, die Jesus als das würdige Objekt unserer Anbetung zeigen?
Der progressive Ansatz des Jesus-ist-nur-ein-guter-Moral-Lehrer funktioniert einfach nicht.
Hinzu kommt, dass man verständlicherweise verwirrt sein könnte, wenn sich Progressive auf Jesus als moralische Richtschnur berufen, obwohl viele Progressive die moralischen Lehren Jesu gar nicht befolgen wollen! So sind viele Progressive zum Beispiel nicht bereit, zu Jesu klarer Lehre zu stehen, dass die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau besteht (z.B. Mt 19:5–6) oder dass er der einzige Weg zur Erlösung ist (Joh 14:6). Woher dann der Eifer, sich auf ihn als Morallehrer zu berufen?
Im Christentum geht es nicht um Moralismus.
An diesem Punkt kommen wir zum grössten und grundlegendsten Problem mit dem ersten der zehn Gebote des progressiven Christentums: Indem Jesus als würdiges Objekt unserer Anbetung aus der Gleichung entfernt wird, wird das Christentum zu einer Religion des Moralismus reduziert. Was am meisten zählt, so sagt man uns, ist nicht die Lehre oder Theologie, sondern das Verhalten. Taten anstatt Glaubensbekenntnisse.
Dies steht im absoluten Gegensatz zum historischen Christentum, welches eine Religion der Gnade und nicht eine Religion des Verdienstes ist. Hier geht es nicht in erster Linie darum, was wir tun, sondern was Gott in Christus getan hat. Oder mit den Worten des Johannes:
«Darin besteht die Liebe, nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat zur Versöhnung für unsere Sünden» (1Joh 4:10)
Gresham Machen hat es gut auf den Punkt gebracht:
«Hier findet sich der grundlegendste Unterschied zwischen Liberalismus und Christentum — der Liberalismus steht durchweg im Imperativ, während das Christentum mit einem triumphierenden Indikativ beginnt; der Liberalismus appelliert an den Willen des Menschen, während das Christentum allem voran ein gnädiges Handeln Gottes ankündigt.»[6]
Was Gott zusammengefügt hat…
Dieses erste Gebot des progressiven Christentums spiegelt genau das wider, was in der westlichen Welt seit mehr als einem Jahrhundert geschieht. Es ist ein weiterer, vergeblicher Versuch, die Moral von Jesus zu bewahren und gleichzeitig seine göttliche Identität über Bord zu werfen.
Letzten Endes funktioniert das einfach nicht. Die moralische Lehre Jesu funktioniert nur, wenn wir seine Identität als Herr beibehalten. Diese beiden sollten nicht und können nicht voneinander getrennt werden.
«Was nun Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen» (Mt 19:6).
Fragen zur Reflexion
Das erste Gebot des progressiven Christentums lautet «Jesus ist mehr ein Vorbild fürs Leben als ein Objekt unserer Anbetung»
- Inwiefern ist dieses Gebot eine Halbwahrheit?
- Wie könnte dieses erste «Gebot» umformuliert werden, damit es dem entspricht, wie die Bibel Jesus beschreibt?
- Sind dir in letzter Zeit in sozialen Medien, Büchern, Blogs, Artikeln oder Gesprächen Aussagen begegnet, wo dieses erste progressive Gebot vertreten wurde?
- Warum ist die Idee, dass Jesus zwar ein Vorbild sei, aber keine göttliche Autorität hat, möglicherweise so attraktiv? Folgende Bibelstellen könnten dir Hinweise geben: Mt 16:27, 2Kor 5:10, Offb 22:12–13, Apg 10:42
- Formuliere mit eigenen Worten, warum Jesus jede Autorität als Vorbild verliert, wenn er nicht auch göttlich ist.
- Kommen dir Bibelstellen oder Begebenheiten im Leben von Jesus in den Sinn, die eine direkte Verbindung geben zwischen seiner göttlichen Autorität und daraus fliessenden Anforderung an Christen, ein dem entsprechendes Leben zu führen? Folgende Bibelstellen könnten dir Hinweise geben: Lk 6:35–36, Joh 13:10–19, Eph 4:32, Kol 3:1–11, 1Petr 1:14–16
- Was nimmst du mit aus der Lektüre dieses Kapitels, das dir hilft, in den Inhalten von progressiver Literatur oder Podcasts besser unterscheiden zu können, was biblisch und was nicht biblisch ist?
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Fussnoten:
[1] Philip Gulley, If the Church Were Christian: Rediscovering the Values of Jesus (San Francisco, CA: HarperOne, 2010), Seite 16–17
[2] J. Gresham Machen, Christianity and Liberalism (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2009), Seite 96
[3] Michael F. Bird, Jesus the Eternal Son: Answering Adoptionist Christology (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2017)
[4] C.S. Lewis Pardon, ich bin Christ (Fontis 2014) Kindle Position 971
[5] Für mehr dazu, siehe Larry Hurtado, One God One Lord: Early Christian Devotion and Ancient Christian Monotheism (London: T&T Clark, 2000)
[6] Machen, 47
Die Fragen zur Reflexion wurden durch Daniel Option zusammengestellt.
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Coole Informationen!
Ich bin theologisch vollkommen einverstanden, dass es im Christentum zuerst um den Indikativ geht: Was hat Gott für den Menschen gemacht? (Gerechtigkeit Gottes, Römerbrief, Indikativ (Kapitel 1–11) vor Imperativ (Kapitel 12–16). Dass nicht an erster Stelle das moralische Handeln des Menschen steht.
Jedoch frage ich mich, ob diese Betonung des Moralischen nicht ebenso gross ist beim konservativen (Begriff als Abgrenzung zum Liberalismus) Christentum? Wird Kinder und Jugendlichen wirklich in erster Linie der Indikativ gelernt und vorgelebt oder nicht doch auch sehr stark mitschwingend ein Imperativ? Das, das und jenes solltest du lassen, wenn du Christ*in bist.
Ich komme zu diesem Ergebnis, da ich einerseits meine eigene Prägung reflektiere und auch diejenige von verschiedenen ähnlich Alten (Jugendliche & Junge Erwachsene) beobachte: In der Jugendgruppe begegnen mir überwiegend Aussagen wie: “Ich muss mehr Bibellesen” / “Jesus wünscht sich mehr Beziehung” / “Ich muss mein Leben besser leben, damit ich in der Lehre auch einen Unterschied machen kann”, etc…
Ich glaube durchaus, dass der Indikativ von der Annahme Gottes auf eine gute Art und Weise gepredigt und vermittelt wird in der Erziehung (Bedingungslose Grundannahme) oder der Gemeinde. Aber beim Imperativ wird möglicherweise etwas vorgelebt und manchmal auch unbewusst vermittelt, dass halt doch stark Druck auslöst und immer wieder die Frage aufwirft, ob es wirklich reicht “dabeizusein”!
Was denken andere darüber? Wie erleben das andere, die in christlichen Kreisen ausserhalb vom Liberalismus unterwegs sind? (und ich glaube, die meisten, die dies lesen grenzen sich eher vom Liberalismus ab, aber nur eine Vermutung)