Dieser Artikel ist Teil der 11-teiligen Serie «Die Zehn Gebote des progressiven Christentums — eine kritische Untersuchung von 10 gefährlich verlockenden Halbwahrheiten». Hier geht es zum Anfang der Serie.
Unterdrückt das Christentum freies Denken? Ist die Kirche nur daran interessiert, ihre eigene Autorität zu schützen?
In seinem sechsten Kapitel bejaht Gulley beide Fragen. Er beklagt die Tatsache, dass Christen so sehr darauf bedacht sind, die Kirche vor abweichenden Ansichten zu schützen, dass sie das freie Denken unterdrücken und sogar Menschen, die nicht konform sind, hinauswerfen. Das bringt uns zum sechsten progressiven «Gebot»: Die individuelle Suche zu fördern ist wichtiger, als die Gleichförmigkeit einer Gruppe zu wahren.
Um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, erzählt
Gulley Geschichten von Menschen, die er kennt und die wegen bestimmter Verhaltensweisen oder Überzeugungen von ihren Kirchen ausgeschlossen oder gemieden wurden. Sie versuchten nur, selbständig zu denken, obwohl die Kirche mehr an einer «Gruppeneinheitlichkeit» interessiert war. Uns wird gesagt, dass Jesus nie gewollt hätte, dass die Kirche solche Dinge tut. Stattdessen, so argumentiert Gulley, war Jesus für «geistliche Erkundung» und «hatte kein Problem mit unabhängigem Denken und Handeln».[1]
Gulley macht in seinem Kapitel einige gute Aussagen über die Art und Weise, wie manche Kirchen Gemeindeordnung praktizieren. Er hat Recht, wenn er vor der Praxis des «Meidens» warnt, die einige Gruppen praktizieren. Und er hat sicherlich Recht, wenn er feststellt, dass einige Kirchen (wie wir bereits festgestellt haben) nicht bereit sind, sich wohlwollend den schwierigen Fragen zu stellen, die einige Menschen haben. Aber die Gesamtaussage seines Kapitels ist zu simplistisch. Kirchen, die fest an bestimmten Wahrheiten festhalten, werden als bösartig und rachsüchtig dargestellt, und diejenigen, die diese Wahrheiten in Frage stellen, werden als heldenhafte Kämpfer gegen das System um des freien Denkens willen dargestellt. Und selbstverständlich würde Jesus – gemäss Gully – auf der Seite der letzteren Gruppe stehen.
Dieses ganze Narrativ mag dem progressiven Flügel des Christentums gut in den Kram passen, aber ich denke, dass es erhebliche Probleme hat.
Das Christentum ist nicht nur eine Reise
Progressive stellen die christliche Religion (und überhaupt alle Religionen) gerne als etwas dar, bei dem es im Wesentlichen darum geht, sich auf eine spirituelle «Reise» zu begeben. Bei der Religion gehe es in erster Linie darum, für uns selbst zu «erforschen», was wir über spirituelle Fragen denken.
Das Problem ist, dass sich hinter diesem Ansatz die gewichtige (und unausgesprochene) Annahme verbirgt, dass Gott sich nicht eindeutig genug offenbart hat. Gott hat auch keine klare Botschaft über die Erlösung offenbart. Die Annahme, die dieser ganzen progressiven Erzählung zugrunde liegt, ist, dass Religion die Suche der Menschen nach Gott ist, anstatt, dass Gott sich den Menschen offenbart hat.
Wenn jemand so denkt, kann man durchaus verstehen, warum diese Person vom biblischen Christentum irritiert ist. Nach Ansicht vieler Progressiven ist die Religion (per Definition!) immer im Fluss, verändert sich immer. Religion ist ihrer Ansicht nach ein Prozess der Suche nach Gott. Wie arrogant wäre es dann, zu behaupten, Gott sei gefunden worden! Im Gegensatz dazu vertritt das biblische Christentum die Auffassung, dass Gott in Jesus Christus eine klare Heilsbotschaft offenbart hat und dass alle Menschen überall dazu aufgerufen sind, an diese gute Nachricht zu glauben.
Die Kirche begrüsst die Fragesteller
Gulley fördert den Eindruck, dass die Kirchen es in der Regel nicht mögen, wenn Menschen Fragen stellen, weil Fragen als Bedrohung der kirchlichen Autorität angesehen werden. Nochmals: Es gibt sicherlich Kirchen, die so denken. Aber ich glaube nicht, dass dies für die Kirche als Ganzes zutrifft.
Im Gegenteil: Die meisten Kirchen sind sehr daran interessiert, dass die Menschen Fragen stellen. Sie wollen, dass die Menschen sich über den christlichen Glauben informieren und erfahren, was und warum Christen glauben. Es scheint mir, dass die Beschwerde der Progressiven über die Kirchen in Wirklichkeit etwas ganz anderes betrifft. Es geht nicht so sehr darum, dass die Kirchen keine Fragen zulassen (ich denke, die meisten heissen sie willkommen). Die wirkliche Anklage der Progressiven ist, dass die Kirche denkt, es gäbe wirkliche Antworten auf viele dieser Fragen!
Gulley’s Einwand ist also, dass Christen glauben, es gäbe klare, erkennbare Antworten auf die wichtigsten geistlichen Fragen des Lebens. Was er beanstandet, ist die christliche Überzeugung, dass es absolute Wahrheit gibt. Das ist der springende Punkt.
Und deshalb werden Liberale niemals zufrieden sein, wenn Christen nur ihren Ton oder ihren Ansatz ändern. Sie werden erst dann zufrieden sein, wenn Christen ihre grundlegenden Wahrheitsansprüche vollständig aufgeben.[2]
Jesus glaubte an liebevolles Korrigieren in Gemeinden
Wie bereits erwähnt, denke ich, dass Gulley Recht hat, dass bestimmte Arten der Meidung in Kirchen problematisch sind. Aber er zitiert fälschlicherweise 1Kor 5:11 als Beweis dafür, dass der Apostel Paulus diese Praxis im weiteren Sinne befürwortet.
Was Paulus befürwortet, ist die Gemeindeordnung. Das ist ein Prozess, bei dem die Leiter einer Gemeinde Mitglieder, die sich in ernsthafte moralische oder lehrmäßige Irrungen verstricken, liebevoll korrigieren. Wie jede Korrektur sollte sie sanft und zum Wohl des Empfängers erfolgen. Und trotz Gulley’s Andeutung, dass Jesus gegen eine solche Praxis wäre, bekräftigt sie Jesus in Mat 18:15–20 eindeutig. In Vers 17 sagt er: «Und wenn er [der abtrünnige Bruder] sich weigert, auch nur auf die Gemeinde zu hören, so soll er für euch sein wie ein Heide und ein Zöllner». In 1Kor 5:11 bekräftigt Paulus also genau das, was Jesus hier sagt: Was manche als «meiden» bezeichnen, ist manchmal ein guter und notwendiger Bestandteil eines geordneten und erlösenden Prozesses in einer Gemeinde.
Denken Sie daran, dass diese Art von liebevoller Korrektur in einer Gemeinde ausschließlich für Glieder der Gemeinschaft gilt. Diese Bibelstellen verbieten Christen nicht, mit Nichtchristen oder Menschen, die anderer Meinung sind, zu verkehren. Im Gegenteil, wie bereits erwähnt, heißt die Kirche Nichtchristen willkommen, die kommen und etwas über Jesus lernen wollen.
Liebevolle Korrektur ist für bekennende Gläubige gedacht, die stark vom Weg abgekommen sind. Das soll ihnen helfen, ihre sündigen Praktiken einzusehen und zu bereuen, damit sie wiederhergestellt werden können. Diese Praxis dient dazu, den Frieden und die Reinheit der Gemeinde zu bewahren.
Die Botschaft verpassen
Ich glaube also, dass dieses sechste progressive ‘Gebot’ an einer Reihe von Annahmen oder Missverständnissen leidet. Es geht davon aus, dass es keine absolute Wahrheit gibt (ohne dies zu beweisen), dass die Kirche Fragen nicht willkommen heißt (obwohl sie das im Allgemeinen tut) und es missversteht das Wesen und den Zweck der Gemeindeordnung (die zum Wohl des Empfängers ist).
Noch grundlegender ist, dass die progressive Position die christliche Kernbotschaft verfehlt. Im Christentum geht es nicht um die nie endende «Reise» des Menschen zu Gott, sondern um Gottes vollendete Reise zu uns, um uns von unseren Sünden zu retten. Wie Johannes uns daran erinnert:
«Darin besteht die Liebe; nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und uns seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden gesandt hat» (1Joh 4:10).
Fragen zur Reflexion
Das sechste «Gebot» des progressiven Christentums lautet: «Die individuelle Suche zu fördern, ist wichtiger als die Gleichförmigkeit einer Gruppe zu wahren»
- Kruger bespricht in diesem Kapitel das Thema Gemeindeordnung. Er tut dies, weil Gulley in seinem Text darüber spricht. Es gibt leider immer wieder Menschen, welche schwierige Erfahrungen mit diesem Thema gemacht haben. Dies kann ein gutes Nachdenken über den Inhalt dieses Kapitels verhindern. Deshalb kann es Sinn machen, zuerst ganz offen über ungute aber auch über gute oder hilfreiche Erfahrungen in diesem Bereich auszutauschen. Deshalb: Was sind schwierige oder hilfreiche Erfahrungen mit Gemeindeordnung? Beantworte diese Frage nicht nur aus Sicht einer betroffenen Person, sondern auch aus Sicht einer Person, die durch solche Massnahmen Schutz erfahren hat.
- Welche Kernaussage in diesem Kapitel findest du besonders wichtig? Versuche deine Antwort zu begründen.
- Hast du erlebt, dass deine Gemeinde Fragen zugelassen hat oder nicht? Lässt du Fragen im Umfeld deiner Gemeinde zu oder nicht? Wie sollte man damit umgehen?
- Welches Hauptproblem identifiziert Kruger in diesem «Gebot» des progressiven Christentums? Siehst du das auch so oder hast du ein anderes Bild des Glaubens? Welche Bibelstellen kommen dir dazu in den Sinn?
- Gibt es Bibelstellen, die über die Gewissheit des Glaubens reden? Welche Gründe werden in diesen Bibelstellen genannt, dass wir Gewissheit haben oder finden können? (z.B. Heb 13:9; 1Pe 1:3 sowie auch 1Pe 1:8–9; 2Tim 1:12)
- Was nimmst du mit aus der Lektüre dieses Kapitels, das dir hilft, in den Inhalten von progressiver Literatur oder Podcasts besser unterscheiden zu können, was biblisch und was nicht biblisch ist?
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Fussnoten
[1] Philip Gulley, If the Church Were Christian: Rediscovering the Values of Jesus (San Francisco, CA: HarperOne, 2010), Seiten 116 und 188
[2] Christen glauben nicht, dass alles in der Bibel gleichermaßen klar ist — manche Dinge sind schwerer zu verstehen. Aber sie glauben, dass «die Dinge, die zum Heil notwendig sind» (WCF 1.7), klar sind.
Die Fragen zur Reflexion wurden durch Daniel Option zusammengestellt.
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