“Die individuelle Suche zu fördern ist wichtiger, als die Gleichförmigkeit einer Gruppe zu wahren”

Lesezeit: 6 Minuten
Lesezeit: 6 Minuten

by Michael J. Kruger | 01. Mai. 2023 | 0 comments

Dieser Artikel ist Teil der 11-teili­gen Serie «Die Zehn Gebote des pro­gres­siv­en Chris­ten­tums — eine kri­tis­che Unter­suchung von 10 gefährlich ver­lock­enden Halb­wahrheit­en»Hier geht es zum Anfang der Serie.


Unter­drückt das Chris­ten­tum freies Denken? Ist die Kirche nur daran inter­essiert, ihre eigene Autorität zu schützen?

In seinem sech­sten Kapi­tel bejaht Gul­ley bei­de Fra­gen. Er beklagt die Tat­sache, dass Chris­ten so sehr darauf bedacht sind, die Kirche vor abwe­ichen­den Ansicht­en zu schützen, dass sie das freie Denken unter­drück­en und sog­ar Men­schen, die nicht kon­form sind, hin­auswer­fen. Das bringt uns zum sech­sten pro­gres­siv­en «Gebot»: Die indi­vidu­elle Suche zu fördern ist wichtiger, als die Gle­ich­för­migkeit ein­er Gruppe zu wahren.

Um seinen Stand­punkt zu verdeut­lichen, erzählt

Gul­ley Geschicht­en von Men­schen, die er ken­nt und die wegen bes­timmter Ver­hal­tensweisen oder Überzeu­gun­gen von ihren Kirchen aus­geschlossen oder gemieden wur­den. Sie ver­sucht­en nur, selb­ständig zu denken, obwohl die Kirche mehr an ein­er «Gruppen­einheitlichkeit» inter­essiert war. Uns wird gesagt, dass Jesus nie gewollt hätte, dass die Kirche solche Dinge tut. Stattdessen, so argu­men­tiert Gul­ley, war Jesus für «geistliche Erkun­dung» und «hat­te kein Prob­lem mit unab­hängigem Denken und Han­deln».[1]

Gul­ley macht in seinem Kapi­tel einige gute Aus­sagen über die Art und Weise, wie manche Kirchen Gemein­de­ord­nung prak­tizieren. Er hat Recht, wenn er vor der Prax­is des «Mei­dens» warnt, die einige Grup­pen prak­tizieren. Und er hat sicher­lich Recht, wenn er fest­stellt, dass einige Kirchen (wie wir bere­its fest­gestellt haben) nicht bere­it sind, sich wohlwol­lend den schwieri­gen Fra­gen zu stellen, die einige Men­schen haben. Aber die Gesam­taus­sage seines Kapi­tels ist zu sim­plis­tisch. Kirchen, die fest an bes­timmten Wahrheit­en fes­thal­ten, wer­den als bösar­tig und rach­süchtig dargestellt, und diejeni­gen, die diese Wahrheit­en in Frage stellen, wer­den als helden­hafte Kämpfer gegen das Sys­tem um des freien Denkens willen dargestellt. Und selb­stver­ständlich würde Jesus – gemäss Gul­ly – auf der Seite der let­zteren Gruppe stehen.

Dieses ganze Nar­ra­tiv mag dem pro­gres­siv­en Flügel des Chris­ten­tums gut in den Kram passen, aber ich denke, dass es erhe­bliche Prob­leme hat.

Das Christentum ist nicht nur eine Reise

Pro­gres­sive stellen die christliche Reli­gion (und über­haupt alle Reli­gio­nen) gerne als etwas dar, bei dem es im Wesentlichen darum geht, sich auf eine spir­ituelle «Reise» zu begeben. Bei der Reli­gion gehe es in erster Lin­ie darum, für uns selb­st zu «erforschen», was wir über spir­ituelle Fra­gen denken.

Das Prob­lem ist, dass sich hin­ter diesem Ansatz die gewichtige (und unaus­ge­sproch­ene) Annahme ver­birgt, dass Gott sich nicht ein­deutig genug offen­bart hat. Gott hat auch keine klare Botschaft über die Erlö­sung offen­bart. Die Annahme, die dieser ganzen pro­gres­siv­en Erzäh­lung zugrunde liegt, ist, dass Reli­gion die Suche der Men­schen nach Gott ist, anstatt, dass Gott sich den Men­schen offen­bart hat.

Wenn jemand so denkt, kann man dur­chaus ver­ste­hen, warum diese Per­son vom bib­lis­chen Chris­ten­tum irri­tiert ist. Nach Ansicht viel­er Pro­gres­siv­en ist die Reli­gion (per Def­i­n­i­tion!) immer im Fluss, verän­dert sich immer. Reli­gion ist ihrer Ansicht nach ein Prozess der Suche nach Gott. Wie arro­gant wäre es dann, zu behaupten, Gott sei gefun­den wor­den! Im Gegen­satz dazu ver­tritt das bib­lis­che Chris­ten­tum die Auf­fas­sung, dass Gott in Jesus Chris­tus eine klare Heils­botschaft offen­bart hat und dass alle Men­schen über­all dazu aufgerufen sind, an diese gute Nachricht zu glauben.

Die Kirche begrüsst die Fragesteller

Gul­ley fördert den Ein­druck, dass die Kirchen es in der Regel nicht mögen, wenn Men­schen Fra­gen stellen, weil Fra­gen als Bedro­hung der kirch­lichen Autorität ange­se­hen wer­den. Nochmals: Es gibt sicher­lich Kirchen, die so denken. Aber ich glaube nicht, dass dies für die Kirche als Ganzes zutrifft.

Im Gegen­teil: Die meis­ten Kirchen sind sehr daran inter­essiert, dass die Men­schen Fra­gen stellen. Sie wollen, dass die Men­schen sich über den christlichen Glauben informieren und erfahren, was und warum Chris­ten glauben. Es scheint mir, dass die Beschw­erde der Pro­gres­siv­en über die Kirchen in Wirk­lichkeit etwas ganz anderes bet­rifft. Es geht nicht so sehr darum, dass die Kirchen keine Fra­gen zulassen (ich denke, die meis­ten heis­sen sie willkom­men). Die wirk­liche Anklage der Pro­gres­siv­en ist, dass die Kirche denkt, es gäbe wirk­liche Antworten auf viele dieser Fra­gen!

Gulley’s Ein­wand ist also, dass Chris­ten glauben, es gäbe klare, erkennbare Antworten auf die wichtig­sten geistlichen Fra­gen des Lebens. Was er bean­standet, ist die christliche Überzeu­gung, dass es absolute Wahr­heit gibt. Das ist der sprin­gende Punkt.

Und deshalb wer­den Lib­erale niemals zufrieden sein, wenn Chris­ten nur ihren Ton oder ihren Ansatz ändern. Sie wer­den erst dann zufrieden sein, wenn Chris­ten ihre grundle­gen­den Wahrheit­sansprüche voll­ständig aufgeben.[2]

Jesus glaubte an liebevolles Korrigieren in Gemeinden

Wie bere­its erwäh­nt, denke ich, dass Gul­ley Recht hat, dass bes­timmte Arten der Mei­dung in Kirchen prob­lema­tisch sind. Aber er zitiert fälschlicher­weise 1Kor 5:11 als Beweis dafür, dass der Apos­tel Paulus diese Prax­is im weit­eren Sinne befürwortet.

Was Paulus befür­wortet, ist die Gemein­de­ord­nung. Das ist ein Prozess, bei dem die Leit­er ein­er Gemeinde Mit­glieder, die sich in ern­sthafte moralis­che oder lehrmäßige Irrun­gen ver­strick­en, liebevoll kor­rigieren. Wie jede Kor­rek­tur sollte sie san­ft und zum Wohl des Empfängers erfol­gen. Und trotz Gulley’s Andeu­tung, dass Jesus gegen eine solche Prax­is wäre, bekräftigt sie Jesus in Mat 18:15–20 ein­deutig. In Vers 17 sagt er: «Und wenn er [der abtrün­nige Brud­er] sich weigert, auch nur auf die Gemeinde zu hören, so soll er für euch sein wie ein Hei­de und ein Zöll­ner». In 1Kor 5:11 bekräftigt Paulus also genau das, was Jesus hier sagt: Was manche als «mei­den» beze­ich­nen, ist manch­mal ein guter und notwendi­ger Bestandteil eines geord­neten und erlösenden Prozess­es in ein­er Gemeinde.

Denken Sie daran, dass diese Art von liebevoller Kor­rek­tur in ein­er Gemeinde auss­chließlich für Glieder der Gemein­schaft gilt. Diese Bibel­stellen ver­bi­eten Chris­ten nicht, mit Nichtchris­ten oder Men­schen, die ander­er Mei­n­ung sind, zu verkehren. Im Gegen­teil, wie bere­its erwäh­nt, heißt die Kirche Nichtchris­ten willkom­men, die kom­men und etwas über Jesus ler­nen wollen.

Liebevolle Kor­rek­tur ist für beken­nende Gläu­bige gedacht, die stark vom Weg abgekom­men sind. Das soll ihnen helfen, ihre sündi­gen Prak­tiken einzuse­hen und zu bereuen, damit sie wieder­hergestellt wer­den kön­nen. Diese Prax­is dient dazu, den Frieden und die Rein­heit der Gemeinde zu bewahren.

Die Botschaft verpassen

Ich glaube also, dass dieses sech­ste pro­gres­sive ‘Gebot’ an ein­er Rei­he von Annah­men oder Miss­verständnissen lei­det. Es geht davon aus, dass es keine absolute Wahrheit gibt (ohne dies zu beweisen), dass die Kirche Fra­gen nicht willkom­men heißt (obwohl sie das im All­ge­meinen tut) und es missver­ste­ht das Wesen und den Zweck der Gemein­de­ord­nung (die zum Wohl des Empfängers ist).

Noch grundle­gen­der ist, dass die pro­gres­sive Posi­tion die christliche Kern­botschaft ver­fehlt. Im Chris­ten­tum geht es nicht um die nie endende «Reise» des Men­schen zu Gott, son­dern um Gottes vol­len­dete Reise zu uns, um uns von unseren Sün­den zu ret­ten. Wie Johannes uns daran erinnert:

«Darin beste­ht die Liebe; nicht dass wir Gott geliebt haben, son­dern dass er uns geliebt hat und uns seinen Sohn zur Ver­söh­nung für unsre Sün­den gesandt hat» (1Joh 4:10).

Fragen zur Reflexion

Das sech­ste «Gebot» des pro­gres­siv­en Chris­ten­tums lautet: «Die indi­vidu­elle Suche zu fördern, ist wichtiger als die Gle­ich­för­migkeit ein­er Gruppe zu wahren»

  1. Kruger bespricht in diesem Kapi­tel das The­ma Gemein­de­ord­nung. Er tut dies, weil Gul­ley in seinem Text darüber spricht. Es gibt lei­der immer wieder Men­schen, welche schwierige Erfahrun­gen mit diesem The­ma gemacht haben. Dies kann ein gutes Nach­denken über den Inhalt dieses Kapi­tels ver­hin­dern. Deshalb kann es Sinn machen, zuerst ganz offen über ungute aber auch über gute oder hil­fre­iche Erfahrun­gen in diesem Bere­ich auszu­tauschen. Deshalb: Was sind schwierige oder hil­fre­iche Erfahrun­gen mit Gemein­de­ord­nung? Beant­worte diese Frage nicht nur aus Sicht ein­er betrof­fe­nen Per­son, son­dern auch aus Sicht ein­er Per­son, die durch solche Mass­nah­men Schutz erfahren hat.
  2. Welche Ker­naus­sage in diesem Kapi­tel find­est du beson­ders wichtig? Ver­suche deine Antwort zu begründen.
  3. Hast du erlebt, dass deine Gemeinde Fra­gen zuge­lassen hat oder nicht? Lässt du Fra­gen im Umfeld dein­er Gemeinde zu oder nicht? Wie sollte man damit umgehen?
  4. Welch­es Haupt­prob­lem iden­ti­fiziert Kruger in diesem «Gebot» des pro­gres­siv­en Chris­ten­tums? Siehst du das auch so oder hast du ein anderes Bild des Glaubens? Welche Bibel­stellen kom­men dir dazu in den Sinn?
  5. Gibt es Bibel­stellen, die über die Gewis­sheit des Glaubens reden? Welche Gründe wer­den in diesen Bibel­stellen genan­nt, dass wir Gewis­sheit haben oder find­en kön­nen? (z.B. Heb 13:9; 1Pe 1:3 sowie auch 1Pe 1:8–9; 2Tim 1:12)
  6. Was nimmst du mit aus der Lek­türe dieses Kapi­tels, das dir hil­ft, in den Inhal­ten von pro­gres­siv­er Lit­er­atur oder Pod­casts bess­er unter­schei­den zu kön­nen, was bib­lisch und was nicht bib­lisch ist?

» Hier geht es zum siebten Gebot
» Hier geht es zum Anfang der Serie

Fussnoten

[1] Philip Gul­ley, If the Church Were Chris­t­ian: Redis­cov­er­ing the Val­ues of Jesus (San Fran­cis­co, CA: Harper­One, 2010), Seit­en 116 und 188

[2] Chris­ten glauben nicht, dass alles in der Bibel gle­icher­maßen klar ist — manche Dinge sind schw­er­er zu ver­ste­hen. Aber sie glauben, dass «die Dinge, die zum Heil notwendig sind» (WCF 1.7), klar sind.

Die Fra­gen zur Reflex­ion wur­den durch Daniel Option zusammengestellt.

Über den Kanal

Michael J. Kruger

Werde Teil der Diskussion

Kommentare zu diesen Beitrag

0 Comments

Submit a Comment

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Jetzt weiterstöbern

Mehr Blogposts entdecken

Fundiert unfundamentalistisch

Fundiert unfundamentalistisch

Die evangelische Weite zwischen fundamentalistischer Engführung und progressiver Auflösung des Glaubensbestands erkunden Theologie ist immer auch Biografie. Damit du meine Art, mit der Bibel zu arbeiten nachvollziehen kannst, ist hier meine Geschichte: Ich bin in...

Die 10 Gebote des progressiven Christentums

Die 10 Gebote des progressiven Christentums

Vorwort der Herausgeber: Als wir 2019 bei Daniel Option anfingen zu bloggen, war das «progressive Christentum» im deutschsprachigen Raum noch nicht so bekannt. Inzwischen wird das Thema in den Chef-Etagen von Gemeinden, Verbänden und übergemeindlichen Werken offen...

Kritisiert Jesus das Alte Testament?

Kritisiert Jesus das Alte Testament?

Martin Benz argumentiert in seinem Buch «Wenn der Glaube nicht mehr passt», dass man das Alte Testament von Jesus her (und mit Jesus) kritisieren soll. Dieser Beitrag ist eine Auseinandersetzung mit konkreten Beispielen, mit denen er diese These begründet. Unter dem...