Hebräisches Manuscript mit Luppe

People of the Book — Der Schutzzaun der Masoreten

Lesezeit: 3 Minuten
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by Paul Bruderer | 14. Okt. 2019 | 4 comments

Die jüdis­chen Schreiber, die als ‘Masoreten’ beze­ich­net wer­den, entwick­el­ten im ersten Jahrtausend ein aus­gek­lügeltes Sys­tem von Markierun­gen, um den Text des Alten Tes­ta­mentes genau kopieren zu kön­nen. Sie zeigen damit eine Liebe zum Text der Bibel, die uns inspiriert!

Mein Brud­er und ich sind in Afri­ka aufgewach­sen, wo die Men­schen uns Chris­ten ‘Peo­ple of the Book’ nan­nten, also ‘Volk des Buch­es’ oder ‘Men­schen des Buch­es’. Sie iden­ti­fizierten uns über die Zuord­nung zu einem Buch, näm­lich der Bibel. Mir gefällt diese Beze­ich­nung, denn als Chris­ten ste­hen wir in ein­er lan­gen Tra­di­tion, die durch die Liebe zur Bibel und dessen Text gekennze­ich­net ist. In dieser Serie von kurzen Blogs mit dem Titel ‘Peo­ple of the Book’ wollen wir dieser Liebe zur Bibel Aus­druck verleihen.

Der Schutzzaun der Masoreten

Ab unge­fähr dem siebten Jahrhun­dert gab es die soge­nan­nten Masoreten, eine Klasse von jüdis­chen Schreibern, welche ein Sys­tem von Markierun­gen entwick­el­ten, um den Text des Alten Tes­ta­mentes sich­er kopieren zu kön­nen. Sie mussten die Manuskripte von Hand abschreiben, weil es noch keinen Buch­druck gab.

Der masoretis­che Text ist eine von drei Über­liefer­ungs-Tra­di­tio­nen des alttes­ta­mentlichen Textes. Die anderen bei­den sind in der Sep­tu­ag­in­ta und im Samar­i­tanis­che Pen­ta­teuch zu find­en. Der masoretis­che Text dient all­ge­mein als Grund­lage für unsere deutschen Über­set­zun­gen, wobei mod­erne Über­set­zun­gen auch Vari­anten der anderen bei­den Tra­di­tio­nen ein­fliessen lassen.

In seinem Artikel ‘Lerne die Geheimnisse des Leningrad Codex’ erk­lärt Dr. Kim Phillips:

Der Leningrad Codex enthält nicht weniger als 60’000 masoretis­che Markierun­gen, die eine Art Schutz­za­un um den Text bilden. Die damit ver­bun­dene immense Arbeit und Müh­sal war angetrieben von ein­er lei­den­schaftlichen Hingabe an den bib­lis­chen Text als das wirk­liche Wort Gottes. Wenn er gesprochen hat, dann ist jed­er Punkt und Titel kost­bar. Sog­ar das kle­in­ste Detail dient als Vehikel für etwas, das Gott mit­teilen möchte um Gemein­schaft mit seinem Volk und der Men­schheit zu haben. (eigene Übersetzung)

Auss­chnitt vom Leningrad Codex mit masoretis­chen Markierun­gen — By Shmuel ben Ya’akov, pub­lic Domain

Wir sind die ‘Menschen des Buches’

Als Chris­ten sind wir von der­sel­ben lei­den­schaftlichen Liebe zum Text der Bibel angetrieben wie die Masoreten.

Ich meine damit nicht, dass der Text sim­plis­tisch und ‘ein-dimen­sion­al’ aus­gelegt wer­den soll. Die Ausle­gung der Bibel muss zum Beispiel die lit­er­arischen Gat­tun­gen berück­sichti­gen (Weisheits-Lit­er­atur, poet­is­che Texte, Prophetie, Apoka­lyp­tik, his­torische Geschichte, etc) sowie Entwick­lun­gen in der Bibel (wie z.B. die Erübri­gung des Tier-Opfer-Sys­tems im Neuen Tes­ta­ment durch den Opfer-Tod Jesu am Kreuz).

Ich meine damit auch nicht, dass die ursprüngliche Inspi­ra­tion der Bibel ein einziges Ereig­nis war, in der Gott den Autoren in ein­er Art Trance die einzel­nen Worte diktierte.

Ich meine damit eben­falls nicht, dass wir zu ein­er falschen ‘Geistlichkeit des Buch­stabens’ zurück­kehren, welche die Autoren des Neuen Tes­ta­mentes ablehnen (siehe zum Beispiel Römer 7,6, 2. Korinther 3,6 oder Hebräer 12,18–24).

Unsere Liebe zur Bibel bedeutet nicht, dass wir zur Bibel beten, son­dern wir beten den einzig wahren, dreieini­gen Gott an, der sich uns durch die Bibel offenbart.

Was ich meine ist, dass wir wir sehen müssen, mit welch heiliger Sorgfalt der bib­lis­che Text über­liefert wurde. Wenn wir das erken­nen, dann näh­ern wir uns dem Text neu in Ehrfurcht, Dankbarkeit und Freude. Wir schenken ihm unser Ver­trauen. Wir lassen uns wieder von ein­er Liebe zum bib­lis­chen Text erfassen. Das bet­rifft den all­ge­meinen Inhalt des Textes, aber auch Einzel­heit­en, die wir darin finden. 

Wenn wir sehen, mit welch immenser Sorgfalt der bib­lis­che Text über­liefert wurde, lesen wir den Text nicht nur online im Inter­net in aufgelösten ‘Bits und Bytes’, son­dern haben ihn als Buch zur Hand. Ich frage mich, ob wir in unseren Gottes­di­en­sten wieder anfan­gen soll­ten, die Bibel als Buch in die Hand zu nehmen, anstatt die Texte auf dem Beam­er zu pro­jizieren. Wir soll­ten den Besuch­ern der Gottes­di­en­ste län­gere Lesun­gen zumuten, und uns dabei bemühen, die Lesung inter­es­sant zu gestalten.

Wir soll­ten aufhören, uns für die Bibel zu schä­men. In vie­len the­ol­o­gis­chen Abhand­lun­gen kommt es mir vor, als sei es den Schreibern let­ztlich pein­lich, an die Bibel glauben zu müssen. Aber weil man sich Christ nen­nt, muss man wohl dum­mer­weise auch irgend­wie mit diesem Buch zurecht kom­men — scheinen sie zu sagen. Schluss damit! Wir lieben dieses Buch auf lei­den­schaftliche Weise und deshalb ist uns kein Aufwand zu gross, uns dem Text in grossen Men­gen und in kle­in­sten Details zuzuwenden. 

Wir freuen uns, von Men­schen ander­er Reli­gio­nen als ‚Peo­ple of the Book‘ beze­ich­net zu werden

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Links zu den weit­eren Teilen in dieser Serie:

Peo­ple of the Book — Der Meisterkünstler

Über den Kanal

Paul Bruderer

Paul Bruderer, Jahrgang 1972, als Kind von Missionaren in Afrika aufgewachsen, 1998 Gründungsmitglied der erwecklichen ‹Godi›-Jugendarbeit in Frauenfeld. Seit 2001 Pastor in der Chrischona Gemeinde Frauenfeld. Paul lebt mit seiner Familie in Frauenfeld, Schweiz.

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Kommentare zu diesen Beitrag

4 Comments

  1. KS

    Sehr schön geschrieben, Paul 🙂
    Durch deinen Text merke ich, dass ich dif­feren­zieren möchte und sollte zwis­chen “Schä­men für die Bibel” und “Schä­men für das, was im Namen des Chris­ten­tums teils geschehen ist und teils gesprochen und getan wird”! (und schon merke ich mit Schmun­zeln, dass ich beim The­ma Scham bin 😉 )
    Let­ztere Scham ist mir sog­ar wichtig — drängt sie doch mein Gewis­sen, dass ich für solche Rechtsver­let­zun­gen ein­ste­hen möge 🙂
    Ratio­nal bedacht kommt mir die Dif­feren­zierung knif­flig vor, doch mein Glaube und die Rückbesin­nung auf Jesus als Per­son schenkt mir gutes Ver­trauen. Danke für den Text 😉
    Sehr froh bin ich, wie du so schön schreib­st, dass Gott sich uns durchs Wort offen­bart <3
    Liebe Grüsse

    Reply
    • Paul Bruderer

      Liebe KS, da wären wir wieder bei ‘unserem’ The­ma 🙂 Ich dachte kür­zlich, ob wir die Kapi­tel unseres gemein­samen Buch­es zuerst auf DanielOp­tion veröf­fentlichen kön­nten… Ich hoffe, ich bekomme die Zeit, das Buch zusam­men mit dir zu schreiben! Deine Unter­schei­dung ist eine wichtige. Danke für den super Hinweis!

      Reply
  2. Regula Lehmann

    Yes! Je tiefer wir in dieses Buch ein­tauchen, desto mehr ent­fal­tet es seine Schön­heit und Weisheit.
    Die Men­schen des Buch­es sind nicht “von gestern“, son­dern von morgen!

    Reply
    • Paul Bruderer

      Danke Reg­u­la — das erlebe ich auch genau so!

      Reply

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