Kürzlich lasen wir eine Predigt von Lukas Zünd, momentan im Pfarramt der reformierten Kirche Wetzikon, Kanton Zürich. Er predigte am 9. Februar 2020 über einen Abschnitt beim Propheten Jeremia, wo Gott klagt, dass sein eigenes Volk Ihn selbst und seine Herrlichkeit ausgetauscht hat gegen nutzlose Götzen. Sofort dachten wir, dass diese Predigt in noch weiteren Kreisen gehört werden sollte. Hier geben wir mit Erlaubnis des Autors die (von ihm für die Lektüre leicht redigierte) Predigt wieder:
Jeremia 2, 11–19: Mich haben sie verlassen, die Quelle lebendigen Wassers!
Hat je eine Nation Götter eingetauscht? Und das sind nicht einmal Götter! Mein Volk aber hat seine Herrlichkeit eingetauscht gegen das, was nichts nützt. Entsetze dich, Himmel, darüber, und erschaudere über die Massen! Spruch des HERRN. Denn eine doppelte Bosheit hat mein Volk begangen: Mich haben sie verlassen, die Quelle lebendigen Wassers, um sich dann Brunnen auszuhauen, rissige Brunnen, die das Wasser nicht halten. Ist Israel ein Sklave oder ein unfrei Geborener? Warum ist er zur Beute geworden? Immerfort haben die Löwen gegen ihn gebrüllt, haben ihre Stimme erhoben und sein Land zur Wüste gemacht, seine Städte sind verbrannt, sind ohne Bewohner. Auch die Leute von Nof und Tachpanches [Orte in Ägypten] werden dir den Scheitel abweiden. Hast du dir dies nicht selbst angetan, da du den HERRN, deinen Gott, verlassen hast in der Zeit, als er dich leitete auf dem Weg? Und nun, was bringt dir der Weg nach Ägypten – um Wasser vom Nil zu trinken? Und was bringt dir der Weg nach Assyrien – um Wasser vom Euphrat zu trinken? Deine eigene Bosheit wird dich züchtigen, und deine Abtrünnigkeit wird dich strafen. Erkenne und sieh: Böse und bitter ist es, dass du den HERRN, deinen Gott, verlassen hast und dass du keine Furcht vor mir hast! Spruch des Herrn, des HERRN der Heerscharen.
Liebe Gemeinde unseres Herrn Jesus Christus,
sehr verbreitet in unserer Zeit ist die Meinung, die Kirche möge doch bitte schön zeigen, dass die Bibel relevant sei für die Menschen von heute. Haben sie das auch schon gehört? Wenn wir diese Worte des Propheten Jeremia hören, spüren wir hoffentlich alle, dass an dieser Forderung etwas nicht stimmt. Wer bin ich kleines Menschlein, dass ich diese mächtigen Worte schultern könnte? Wenn die Relevanz der Bibel von einem Pfarrer bewiesen werden muss, heisst das doch: Zuerst einmal hat die Bibel für mich gar keine Relevanz, aber jener Pfarrer oder jene Pfarrerin, jener Pastor oder Jugendarbeiter – dieser Mensch hat für mich Relevanz (muss aber auch ständig um meine Aufmerksamkeit buhlen), und weil er so authentisch ist oder so cool oder so unterhaltsam oder was auch immer, deshalb ist jetzt auch die Bibel für mich relevant. Mit anderen Worten: Der Schwanz wedelt mit dem Hund. Das Geschöpf ist Lehrmeister des Schöpfers. Der Schöpfer lässt sich vom Geschöpf die Werbung machen, weil er den Zeitgeist nicht mehr so gut versteht. Wie froh muss er doch sein, dass er in Gestalt seines Geschöpfs so einen guten Support hat!
Liebe Gemeinde, so wäre die Reformation in der Schweiz vor 500 Jahren niemals entstanden! So würden auch unsere Schwestern und Brüder aus vielen Ländern nicht ins Gefängnis gehen für ihren Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes. In der Reformation drängte sich die Kraft und die Klarheit des Wortes Gottes aus der heiligen Schrift von selbst auf. Der Heilige Geist und das Wort schaffen die Gemeinde aller Zeiten. Der Prediger muss aus dem Wort Gottes weitergeben, was er selbst empfängt, nicht das, was er kreativ erfindet. Wir als Gemeinde müssen bereit sein, zu hören, was für uns zuerst schwierig ist, weil es uns anklagt. Dann aber, wenn wir hinhören, macht uns das Wort unseres Herrn Jesus Christus frei, und mehr noch: Es macht uns neu!
Marc Chagall, Jeremia bekommt die Gabe der Prophetie
Jeremia ist Prophet im Auftrag von Gott um 600 vor Christus. Er lebt in einer Zeit der Krise, was nicht heisst, dass auch seine Zeitgenossen die Krise bemerken. Er sieht die Krise kommen, als alle anderen noch keine Krise sehen. Er sieht die Krise hinter allem menschlichen Schein. Und danach, als die Krise sichtbar ausbricht, die Katastrophe, hält Jeremia weiterhin zu seinem Volk und trauert mit ihm. Jeremia steht einsam da unter seinen Zeitgenossen, einsam gegenüber den falschen Propheten, welche das Volk mit positiven Botschaften beruhigen. Israel hat seinen Gott vergessen, der Israel aus Ägypten herausgeführt hat, der es erlöst hat, der mit seinem Volk einen Bund geschlossen hat wie mit keinem anderen Volk und ihm eine Freiheit gegeben hat wie keinem anderen Volk. Das Volk hat sich den Naturgottheiten zugewendet, dem Götzen Baal und anderen, die vordergründig viel relevanter sind. Diese Natur- und Fruchtbarkeitsgottheiten funktionieren: Sie funktionieren wie eine Zisterne. Zisternen waren grosse Kammern, in die man das Regenwasser hineinleitete. Eine Quelle sprudelt ohne menschliche Arbeit, eine Zisterne gibt immer so viel her, wie man hineingibt, wie man hineininvestiert. Bei den Götzen ist es wie mit einer Zisterne. Der Mensch unterwirft sich, und der Götze liefert, schenkt zum Beispiel jedes Jahr wieder eine fruchtbare Ernte. (Nur wenn die Zisterne auch noch rissig ist, dann gibt sie nicht mehr her, was man sein ganzes Leben hineingegeben hat – am Ende schweigen die Götzen den enttäuschten Verehrer nur an.)
Vergessen ist die Heilsgeschichte. Vergessen – und verdrängt – ist Gott, der Abraham ruft und ihm eine Zukunft verspricht und ihn dann so viele Jahre warten lässt auf den Sohn. Vergessen und verdrängt ist Gott, der seinem Volk schrecklich zürnt und es dennoch nicht loslässt und sogar seine Gnade für eine ferne Zukunft verheisst. Was waren das doch für dunkle Zeiten! Die Baalsreligion ist da viel moderner. Man lebt jetzt im Einklang mit der Welt. Was Gott will und tut, ist das, was auch der Mensch will. Dieser Gott ist nützlich! Zufälligerweise will nämlich der neue Gott, der Götze, immer das, was auch der Mensch will. Der lebendige Gott Israels ist da komplizierter, ganz wie eine freie Person. Er handelt frei in Natur und Geschichte, und deshalb werden auch die Menschen im intensiven Umgang mit ihm zu freien Personen.
Vergessen und verdrängt ist dort, wo Jeremia wohnt, der wahre Gott, die Wahrheit. Und der Apostel Paulus schreibt uns jetzt – wir haben es vorhin in der Schriftlesung gehört (Röm 1, 16–25): Das ist der allgemeine Zustand der Menschen. Alle Menschen haben die lebendige Quelle vertauscht gegen eine schmutzige Zisterne. Anstelle von Quellwasser wollten wir lieber spärliche Tropfen aus einem rostigen Wasserhahn.
Aber ich höre noch etwas anderes, liebe Gemeinde: Der Prophet Jeremia spricht das Wort Gottes auch in unsere Zeit. Auch wir leben in einer Zeit der Krise, auch wenn viele Menschen diese Krise nicht sehen können oder wollen.
Vergessen ist Gott, der uns frei macht im Evangelium, damit wir ihm gehorsam werden.
Vergessen ist der Herr der Kirche, der zum ersten Vorsteher der Kirche sagt: «Als du jünger warst, hast du dich selber gegürtet und bist gegangen, wohin du wolltest. Wenn du aber älter wirst, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst» (Joh 21, 18).
Vergessen ist Gott, der klagt: «Verlassen haben sie mich, die Quelle des lebendigen Wassers!». Wie könnte Gott auch über uns zu klagen haben? Ist er nicht vielmehr stolz auf uns, wie ein Grossvater stolz ist auf seine Enkelkinder?
Vergessen ist Gott, der uns mit seiner Barmherzigkeit beisteht in einem Jammertal – denn er ist ja heilfroh, dass wir die Welt einigermassen in Ordnung gebracht haben, so dass sie gar kein Jammertal mehr ist. Er gibt seine Likes aus dem Himmel und drückt uns die Daumen. Er glaubt an uns, dass wir seine Schöpfung noch zu einem richtig guten und gerechten Ort machen für alle.
Seltsamerweise will dieser Gott in der letzten Zeit immer dasselbe, was der moderne Mensch auch will.
Seltsamerweise will er aber nicht mehr das, was er einmal gewollt hat. Was er früher nicht gewollt hat, will er jetzt. Na ja, wieso sollte sich nicht auch Gott weiterentwickeln?
Seltsamerweise vertritt Gott in der letzten Zeit laut der Kirche immer häufiger die gleichen Werte, welche auch unsere Mitmenschen vertreten, welchen dieser Gott furzegal ist. Trotzdem geht es aber nicht aufwärts mit der Kirche, sondern abwärts.
Seltsamerweise segnet dieser Gott immer das, was wir wollen. Er ist ja auch froh, dass wir ihn zwischendurch für eine Dienstleistung in Anspruch nehmen, dass er noch ein bisschen im Gespräch bleiben kann.
Wir sind in einer tiefen geistlichen Krise, liebe Gemeinde. Wir haben aus dem lebendigen Gott einen Götzen gemacht. Wir haben Ihn, die lebendige Quelle, verlassen. Ja, ich weiss es – und habe es vorhin schon gesagt: Alle Menschen haben das getan, zu jeder Zeit. Deshalb kam das Evangelium. Durch den Glauben an Jesus Christus sind wir versöhnt mit Gott. Die Quelle ist wieder da! Jesus Christus ist die Quelle, die in uns, wenn wir aus ihr trinken, ins ewige Leben quillt. Aber wir sind gewissermassen ein zweites Mal von ihm abgefallen: Im Gegenüber zu dem freien Gott der Bibel haben wir auf unserem Kontinent gelernt, was es heisst, eine menschliche Person zu sein, um dann die Freiheit von ihm zu suchen. Und dann haben wir jede Orientierung verloren. Jetzt gehen wir einmal nach Ägypten, um dort Wasser aus dem Nil zu trinken, und ein anderes Mal nach Assyrien, um Wasser aus dem Euphrat zu trinken (vgl. V. 18). Wir meinen, das Christentum neu beleben zu müssen mit dem Geist des Fortschritts, mit den Kräften des Volks und der Massen, mit der Hilfe der Psychologie, mit der Inspiration aus der Kunst usw… – mit der Anpassung an die Politik zur Rechten oder Linken.
Marc Chagall, Einnahme von Jerusalem durch Nebukadnezar nach der Prophetie von Jeremia
Was wird mit uns passieren? Die Krise ist im Kommen, auch wenn viele sie noch nicht sehen. Wir werden die Freiheit, welche Gott uns gegeben hat, wieder verlieren. «Ist Israel ein Sklave oder ein unfrei Geborener?» (V. 14). Nein, Israel hatte eine Freiheit wie kein anderes Volk. Aber es hat die Freiheit wieder verloren. Noch zu Lebzeiten von Jeremia wurde Jerusalem den Babyloniern untertan, der Staat und der Tempel zerstört, die Städte verbrannt (V. 15), viele Israeliten verschleppt ins Exil – eine totale Katastrophe. So werden auch wir die Freiheit wieder verlieren, wenn wir nicht gottesfürchtig werden. Das muss nicht ein neues Babylonierheer sein, das uns unterwirft, das können auch andere, modernere Formen der Unfreiheit sein.
Wird uns als Kirche eine Umkehr geschenkt werden? Machen wir es uns nicht zu leicht: Der Himmel, das Universum entsetzt und erschaudert über die Auflehnung der Menschen gegen Gott (vgl. V. 12), aber kaum je erschaudert deshalb ein menschliches Herz. Und dennoch gilt: Wir leben im zweitausendundzwanzigsten Jahr der Gnade! Deshalb ist auch heute gültig: Gott ist gnädig und will seiner Kirche Umkehr schenken, wenn wir ihn fürchten, wenn wir ihm mehr gehorchen als den Menschen.
Beten wir, dass uns – mir und dir und allen – einen Geist der Umkehr geschenkt wird. Dass Gott seine Kirche erneuert.
Lernen wir den alten Gott der Bibel neu kennen. Er will nicht unser «nützlicher» Götze sein, der dann dennoch «nichts nützt». Er führt die Menschen, die ihm nachfolgen, nicht auf dem einfachsten Weg, aber Er verherrlicht sie und überschüttet sie mit seiner Liebe.
Ein solcher Mensch, ein solcher Zeuge des lebendigen Gottes ist Blaise Pascal (1623–1662). Mit dem Zeugnis seiner Umkehr möchte ich diese Predigt beschliessen. Als der geniale Mathematiker und Philosoph in noch jungem Alter starb, fand man eingenäht in seinen Mantel einen Pergamentstreifen.
Man nennt diesen Pergamentstreifen «Mémorial», also Erinnerung. Blaise Pascal wollte sich mit diesem Blatt immer erinnern an einen Tag oder, besser gesagt, an eine Nacht, die sein Leben veränderte. Damit möchte ich nicht sagen, dass die Umkehr bei allen Menschen wie bei Blaise Pascal sein muss. Es geht um den lebendigen Gott, den Pascal bezeugt. Jede Umkehr ist eine andere Geschichte, denn Gott führt jeden Menschen, der ihm nachfolgen möchte, auf einem anderen Weg. Blaise Pascal erlebte folgendes – und ich lese sein (leicht gekürztes) «Mémorial» vor. Sie werden darin ein Echo des heutigen Predigttexts hören:
Jahr der Gnade 1654
Montag, den 23. November […]
Seit ungefähr abends zehneinhalb bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht
Feuer
Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten.
Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede. Der Gott Jesu Christi.
[…]
Er ist allein auf den Wegen zu finden, die das Evangelium lehrt.
[…]
Freude, Freude, Freude, Freudentränen. Ich habe mich von ihm getrennt.
Mich haben sie verlassen, die Quelle lebendigen Wassers [Jer 2, 13 auf Latein].
Mein Gott, wirst du mich verlassen? [Vgl. Mk 15, 34]
Möge ich nicht auf ewig von ihm getrennt sein.
Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen [Joh 17, 3].
Jesus Christus!
Jesus Christus!
Ich habe mich von ihm getrennt, ich habe mich ihm entzogen, habe ihn geleugnet und gekreuzigt.
Möge ich niemals von ihm getrennt sein.
Er ist allein auf den Wegen zu bewahren, die im Evangelium gelehrt werden.
Vollkommene Unterwerfung unter Jesus Christus und meinen geistlichen Führer.
Ewige Freude für einen Tag der Mühe auf Erden.
Dein Wort vergesse ich nicht [Ps 119, 6 auf Latein].
Amen.
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