Autobahn Kreuz von Oben

Wann sollen Christen ihre Meinung ändern?

Lesezeit: 9 Minuten
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by Paul Bruderer | 06. Sep. 2019 | 24 comments

Der gesellschaftliche Druck auf Chris­ten und die Kirche ist immens gewor­den, ihre Mei­n­ung in vie­len sex­u­alethis­chen Fra­gen zu ändern. Man hält uns vor, dass wir in der Ver­gan­gen­heit unsere Mei­n­ung schon oft geän­dert hät­ten in Fra­gen der Sklaverei und der Rolle von Frauen, und dass wir es kon­se­quenter­weise in Fra­gen der Homo­sex­u­al­ität auch machen soll­ten. Stimmt diese häu­fig gehörte Argumentation?

Ich erlaube mir, in diesem Artikel etwas mehr zu schreiben als son­st und muss per­sön­lich anfan­gen. Nach­dem mir in mein­er Gemeinde ein junger Mann eröffnete, dass er homo­ero­tisch empfind­et, fing eine län­gere und inten­sive Reise an. Auf dieser Reise bin ich in einen fre­und­schaftlichen Kon­takt gekom­men mit mehreren homo­sex­uellen Per­so­n­en. Unter anderem hat­te ich ein les­bisch leben­des Paar als Nach­barin­nen. Wir halfen einan­der aus in prak­tis­chen Nach­barschafts-Hil­fen. Als sie Beziehung­sprob­leme hat­ten und wussten, dass ich Pas­tor bin, bat­en sie um Hil­fe. Ich half ihnen seel­sorg­er­lich, wieder zu einan­der zu find­en. Inzwis­chen haben ich guten Kon­takt mit mehreren homo­ero­tisch empfind­en­den Per­so­n­en aus meinem Umfeld.

Auf ein­er Wegstrecke brachte mir ein geliebter Fre­und die oben genan­nte Argu­men­ta­tion vor. Ich merk­te, dass ich mir ehrlich dem Vor­wurf stellen musste: Wenn ich schon in Fra­gen der Sklaverei und der Rolle der Frau über das hin­aus­ge­he, was die Bibel expliz­it lehrt, dann muss ich doch auch in der Frage der Homo­sex­u­al­ität meine Mei­n­ung ändern.

Ich wollte den Vor­wurf nicht zu schnell auf die Seite schieben. Ich wollte her­aus­find­en, ob es vielle­icht tat­säch­lich richtig sein kön­nte, meine Mei­n­ung über Homo­sex­u­al­ität zu ändern. Ich brauchte mehrere Jahre, um Klarheit für mich zu bekom­men, was mich wirk­lich überzeugt und was nicht. In mein­er nach­fol­gend einge­bun­de­nen Predigt lege ich dar, weshalb die Argu­men­ta­tion meines Fre­un­des mein­er Mei­n­ung nach nicht stim­mig ist. In diesem Artikel möchte ich Ein­sicht­en beschreiben, die mir wichtig gewor­den sind.

Wir haben uns schuldig gemacht

Ich finde, dass wir tat­säch­lich unsere Mei­n­ung ändern soll­ten in Bezug auf unseren Umgang mit Homo­sex­u­al­ität! Kirchen und Chris­ten haben in der Ver­gan­gen­heit Homo­sex­uelle aus­gestossen und entwürdi­gend behan­delt. Nicht nur Chris­ten natür­lich, son­dern die ganze Gesellschaft! Aber eben auch Christen.

Eines der grössten Prob­leme ist dieses: Wir liessen damals unsere Mei­n­ung zu sehr vom gesellschaftlichen Kon­sens bes­tim­men. Der gesellschaftliche Kon­sens war damals, dass Homo­sex­u­al­ität unange­bracht sei. Wir hät­ten gegen diese herrschende Ein­stel­lung agieren müssen und Homo­sex­uelle in unseren Gemein­schaften willkom­men heis­sen sollen. Immer­hin fan­den sie zu bib­lis­chen Zeit­en Ein­gang in die Gemeinde. Die deut­lichen Worte von Paulus in 1Kor 6:11 “Auch ihr gehörtet zu denen” zeigen, dass es denkbar oder sog­ar wahrschein­lich ist, dass Homo­sex­uelle in der Gemeinde in Korinth waren.

Wir haben es also nötig, um Verge­bung zu bit­ten, denn wir haben uns als Chris­ten schuldig gemacht gegenüber Homo­sex­uellen, die Gott genau­so annimmt, wie er alle Men­schen annimmt. Wir haben uns schuldig gemacht gegenüber Gott, der sie in seinem Bild geschaf­fen hat. Und wir haben uns schuldig gemacht gegenüber der Gesellschaft, weil wir unsere gesellschaft­skri­tis­che Rolle nicht wahrnah­men und deshalb der Gesellschaft von damals keine Ori­en­tierung gaben, wie Gott sich den Umgang mit Homo­sex­u­al­ität vorstellt.

Diesen Fehler macht­en wir bei der Sklaven­frage übri­gens nicht. William Wilber­force beispiel­sweise hat in Eng­land entschei­dend zum Ver­bot der Sklaven­hal­tung und des Sklaven­han­dels beige­tra­gen. Er zeich­nete sich eben grad nicht dadurch aus, dass er auf einen schon vorhan­de­nen gesellschaftlichen Trend auf­sprang, son­dern den Kon­sens kri­tisch hin­ter­fragte und dafür sog­ar ins Gefäng­nis musste.

Machen sich Landes- und Freikirchen erneut schuldig?

Es ist sich­er nicht im Sinne von Wilber­force, wenn wir als Chris­ten unsere Mei­n­ung in Fra­gen der Homo­sex­u­al­ität ein­fach nur deshalb ändern, weil der gesellschaftliche Trend es will. Tun wir das, ste­hen wir in der Gefahr, uns in der gle­ichen Weise wieder gegenüber der Gesellschaft schuldig zu machen wie früher — ein­fach mit umgekehrten Vorze­ichen! Diese Gefahr ist real, weil wir als Men­schen (The­olo­gen inklu­sive) unsere Mei­n­ung gerne durch Gewöh­nung verän­dern anstatt nach Reflex­ion. Steve Turn­er for­muliert es so:

“Die meis­ten Leute ändern ihre Mei­n­ung zu wichti­gen ethis­chen Fra­gen nicht wegen ein­er alles über­strahlen­den Offen­barung oder eines unan­fecht­baren Argu­ments, son­dern durch Akkli­ma­tisierung, und diese wird häu­fig durch die Medi­en orchestri­ert.” (Steve Turn­er, Cool, christlich, styl­ish: Mutig leben in der Pop­kul­tur, Kin­dle-Posi­tion 933)

Einige unser­er Lan­deskirchen haben sich nahezu unumkehrbar in diese Rich­tung entwick­elt. Sie lassen sich mein­er Mei­n­ung nach von der Gegen­wart­skul­tur assim­i­lieren. Die evan­ge­lis­chen Lan­deskirchen der Schweiz wollen im Novem­ber 2019 entschei­den, ob sie die ‘Ehe für alle’ befür­worten. Im Vor­feld gab Got­tfried Locher weg­weisend bekan­nt, dass Homo­sex­u­al­ität dem Schöp­fungswillen Gottes entspräche.

Diverse Freikirchen oder Kreise inner­halb der Freikirchen ziehen da mit.

Nicht-kirch­liche Beobachter kom­men­tieren diese Art von Entwick­lung mit fol­gen­den Worten:

«Ganz unschuldig ist die Kirche nicht daran, dass die Bänke leer bleiben. Die Reformierten prak­tizieren eine zwiespältige Poli­tik der Öff­nung“, sagt Sozi­ologe Stolz. «Eine Reli­gion, die zu lib­er­al wird, ver­schwindet früher oder später. Wenn eine Reli­gion zu tol­er­ant, zu offen wird, ver­schwim­men ihre Gren­zen zur Umwelt, und sie wird über­flüs­sig.» (Nicole Krät­tli und Susanne Loack­er, ‘Volk ohne Gott’, Beobachter Nr. 10, Mai 2016)

Ich wün­sche allen kirch­lichen Ver­bän­den, dass sich ihre Kirchen­bänke wieder füllen! Dazu müssten sie aber Gottes Beru­fung wieder ent­deck­en, eine dienende und kri­tis­che Posi­tion gegenüber gesellschaftlichen Trends einzunehmen, welche gegen Gottes Gedanken für seine Geschöpfe gehen.

Sklaven, Frauen und Homosexuelle?

Für uns als Chris­ten ist zen­tral, ob wir gemäss der Bibel unsere Mei­n­ung anpassen soll­ten. Führen also diesel­ben Prinzip­i­en der Bibel-Ausle­gung, die uns zu ein­er Mei­n­ungsän­derung in der Sklaven- und Frauen-Frage bracht­en, auch dazu, dass wir in der Homo­sex­u­al­itäts­frage unsere Mei­n­ung ändern soll­ten? Etwas the­ol­o­gis­ch­er aus­ge­drückt: Sind Sklaven, Frauen und Homo­sex­uelle im gle­ichen hermeneutis­chen Boot? Die Mei­n­un­gen in dieser Frage gehen weit auseinan­der. In mein­er Predigt erk­läre ich, warum ich denke, dass Sklaven, Frauen und Homo­sex­uelle nicht im sel­ben Boot sind.

Zusam­menge­fasst kann man sagen, dass die Bibel in der Sklaven- und Frauen-Ethik die dama­lige Gegen­wart­skul­tur immer in eine bes­timmte Rich­tung bewegte. Bei den Sklaven gab die Bibel immer mehr Schutz, als die umliegen­den Völk­er sie gab — aber ohne die Sklaverei abzuschaf­fen. Als durch Wilber­force und andere die Sklaverei ver­boten wurde, ver­voll­ständigten sie lediglich die Entwick­lung, welche die Bibel vorgegeben hat­te. Hier kann man sagen: Wilber­force war kon­sis­tent mit der von der Bibel vorgegebe­nen Rich­tung und deshalb war seine Ethik richtig.

In den Fra­gen der Rolle der Frau war die Bibel zwar nicht anti-patri­ar­chalisch, doch sie bewegte sich in Rich­tung Gle­ich­berech­ti­gung — aber ohne sie zu ver­voll­ständi­gen. Die Mei­n­un­gen gehen in der Chris­ten­heit auseinan­der in dieser Frage. Aus mein­er Sicht ist es stim­mig, dass wir heute eine Gle­ich­berech­ti­gung haben. Das ist die logis­che Ver­voll­ständi­gung dessen, was die Bibel als Entwick­lung ange­fan­gen aber nicht fer­tig gemacht hat.

Wir sehen an diesen Beispie­len: Die Bibel definiert etwas, was die Math­e­matik­er einen ‘Vek­tor’ nen­nen. Sie gibt eine Rich­tung vor, in der sich nach-bib­lis­che The­olo­gie und Ethik weit­er­en­twick­eln soll.

Das Neue Testament und Homosexualität

In welche Rich­tung zeigt der Vek­tor bei der Homosexualität?

John Boswell hat aus säku­lar­er Sicht einen Klas­sik­er über Homo­sex­u­al­ität in der antiken Welt der Bibel geschrieben. Darin zeigt er, dass es zur Zeit des Neuen Tes­ta­ments vier Arten aus­gelebter Homo­sex­u­al­ität gab, die gesellschaftlich völ­lig akzep­tiert waren.

  • Zwei Frauen oder zwei Män­ner hat­ten eine Liebes­beziehung ohne geset­zliche Bindung.
  • Sklaven, die manch­mal viel jünger waren als ihre Her­ren, wur­den von diesen benutzt oder missbraucht.
  • Weit­er kon­nte sich ein Ehe­mann neb­st sein­er Frau einen anderen Mann nehmen.
  • Schliesslich gab es die Ver­heiratung zweier Männer.

Die dama­lige Gesellschaft war in Sachen Homo­sex­u­al­ität zum Teil weit­er entwick­elt als unsere und gle­ichzeit­ig auch miss­bräuch­lich­er (Knaben­liebe — Päderastie). Man will uns heute manch­mal den Ein­druck ver­mit­teln, dass Homo­sex­u­al­ität damals fast nur neg­a­tiv und aus­beu­ter­isch aus­gelebt wurde. Dieses Bild stimmt nicht mit den uns bekan­nten Fak­ten überein.

Dass man damals eine hoch entwick­elte Fähigkeit hat­te, pos­i­tiv und neg­a­tiv aus­gelebte Homo­sex­u­al­ität zu unter­schei­den und zudem von ‘fix­ierten’ sex­uellen Ori­en­tierun­gen aus­ging, zeigt sich bei Pla­to, einem der wichtig­sten Philosophen der Men­schheits­geschichte. Er lebte einige Jahrhun­derte vor der Zeit des Neuen Tes­ta­ments und lieferte eine Schöp­fungs-Philoso­phie, welche so aus­for­muliert war, dass sie den homo­sex­uellen Lebensstil rechtfertigte.

Platos Idee war, dass die ersten Men­schen ‚binär’ gewe­sen sein müssen, also immer zwei Teile hat­ten. In seinem ‘Sym­po­sium’ (ca. 416 vor Chris­tus) beschreibt er fol­gende drei Arten von Men­schen, die es am Anfang der Zeit gegeben haben soll (Ab Seite 41):

  • Mann-Mann
  • Frau-Frau
  • Mann-Frau

Zeus soll diese Men­schen in zwei Teile geschnit­ten haben. Die sex­uelle Ori­en­tierung dieser ‚Hälften’ war bes­timmt durch den anderen Teil, den sie qua­si ver­loren hat­ten. Man fühlte sich nach der Tren­nung ange­zo­gen von dem Teil, den man ver­loren hat­te. Män­ner, die vorher Mann-Mann waren, waren nach der Tren­nung grund­sät­zlich homo­sex­uell. Das­selbe galt bei den Frauen. Und wer früher Mann-Frau war, war anschliessend heterosexuell.

Im sel­ben Buch unter­schei­det Pla­to zwei Arten von Liebe (ab Seite 22 ganz unten): Die himm­lis­che und die kom­mune (all­ge­meine) Liebe. Män­ner, welche die kom­mune Liebe leben, ver­lieben sich in Frauen anstatt in Män­ner und wollen nur den Kör­p­er der Frau. Wenn hinge­gen ein Mann die himm­lis­che Liebe erlebt, ver­liebt er sich in Män­ner, weil diese mehr Ver­stand haben und die Liebe zu Män­nern eine höher­w­er­tige und stärkere Liebe ist. Pla­to kri­tisiert For­men von Päderastie, in denen es nur um das Kör­per­liche geht. Dementsprechend sollte ein Jüngling nicht zu schnell dem Sex nachgeben, nur weil er Geld oder Sta­tus will. Er sollte warten, bis wirk­liche Liebe entste­ht und er selb­st vom älteren Mann ler­nen kann.

Man hört heute oft, dass es früher kein Konzept von ’sex­ueller Ori­en­tierung’ gab. Am Beispiel von Pla­to sehen wir das Gegen­teil. Wir sehen auch, dass gebildete Men­schen der dama­li­gen Zeit eine hoch entwick­elte Unter­schei­dungs­fähigkeit besassen, pos­i­tive und neg­a­tive Arten von aus­gelebter Homo­sex­u­al­ität zu unterscheiden.

Paulus, der im Neuen Tes­ta­ment über Homo­sex­u­al­ität schreibt, war eben­falls ein gebilde­ter Mann. Es gibt keinen offen­sichtlichen Grund, warum aus­gerech­net er diese Unter­schei­dungs­fähigkeit nicht hätte haben sollen. Wenn Paulus z.B. in Römer Kapi­tel 1 nur die aus­beu­ter­ischen Vari­anten der Homo­sex­u­al­ität hätte neg­a­tiv bew­erten wollen, hätte er das tun kön­nen. Er tut es jedoch nicht, son­dern spricht von Homo­sex­u­al­ität all­ge­mein und damit von allen damals vorhan­den Varianten.

Angesichts dieser hohen gesellschaftlichen Akzep­tanz und Fähigkeit, zwis­chen ver­schiede­nen For­men zu dif­feren­zieren: In welche Rich­tung zeigt der ‘Vek­tor’ des Neuen Testaments?

Es sind nicht viele Stellen, die direkt über Homo­sex­u­al­ität reden, aber aus­nahm­s­los alle lehnen aus­gelebte Homo­sex­u­al­ität ab. Inter­es­sant ist: Wenn die bib­lis­chen Autoren über Homo­sex­u­al­ität rede­ten, pack­ten sie nicht die Gele­gen­heit, um die bre­it vorhan­dene kul­turelle Dif­feren­ziertheit zu reflek­tieren. Sie sagten nicht: “Leute, Päderastie ist nicht okay, aber die anderen For­men von Homo­sex­u­al­ität sind es”.

So hät­ten die Autoren von 1Kor 6:9 und 1Tim 1:10 das im dama­li­gen Griechisch ver­füg­bare Wort ‘paiderastes’ benutzen kön­nen, tat­en es aber nicht. Auch Paulus machte in Römer 1 keine Unter­schei­dung nach damals bekan­nten For­men von Homo­sex­u­al­ität. Auf diese Weise hätte er jene Vari­anten, die er als von Gott gewollt ansah, recht­fer­ti­gen und die miss­bräuch­lichen ablehnen kön­nen. Paulus machte aber nichts von all dem! Wenn wir annehmen, dass ihm wohl bekan­nt war, welche Arten von aus­gelebter Homo­sex­u­al­ität existierten, so hat er in Römer 1 alle Vari­anten gemein­sam als inakzept­abel für gottes­fürchtige Men­schen bezeichnet.

Der Vek­tor des Neuen Tes­ta­ments zeigt von der dama­li­gen Akzep­tanz von Homo­sex­u­al­ität weg in eine Rich­tung, die alle aus­gelebte Homo­sex­u­al­ität als nicht im Sinne Gottes betra­chtet. Der Grund für diese Hal­tung Gottes muss ander­swo behan­delt wer­den. Ob das bib­lis­che Gebot der Liebe diesen Befund aushe­belt, muss eben­so ander­swo disku­tiert wer­den. Was klar scheint ist dies: Dort, wo das Neue Tes­ta­ment sich aus­drück­lich der Frage der aus­gelebten Homo­sex­u­al­ität stellt, ist der Befund umfassend negativ.

Dies muss für viele Zeitgenossen völ­lig unver­ständlich und unnötig hart rüberkom­men. Es klingt in den Ohren der heuti­gen Men­schen als pure Intol­er­anz. Deshalb möchte ich diesen Artikel abschliessen mit eini­gen Sachen, die mir wichtig sind bezüglich der christlichen Gemeinde und Gemeinschaft.

Christliche Gemeinden sind ‘Räume der Gnade’

Der Befund, dass aus­gelebte Homo­sex­u­al­ität in kein­er Vari­ante dem Willen Gottes entspricht, führte nicht dazu, dass Homo­sex­uelle aus den Gemein­den aus­geschlossen waren!

Nach­dem er in 1Kor 6:9 Homo­sex­u­al­ität in der Sün­den-Liste auf­führte, sagte Paulus in 1Kor 6:11. “Auch ihr gehörtet zu denen”. Für mich ist klar, dass homo­ero­tisch empfind­ende Men­schen in den christlichen Gemein­den aufgenom­men wur­den. Sie wur­den dort auch nicht als ‘Chris­ten zweit­er Klasse’ gese­hen. Sie lern­ten jedoch, ihre Sex­u­al­ität in die Wege ihres Schöpfers zu führen — wie alle anderen auch, die zur Gemeinde stiessen.

Die Promiskuität unter het­ero­sex­uellen Män­nern war damals hor­rend. Auch sie haben unter der Gnade des Evan­geli­ums ihre Sex­u­al­ität in die Wege Christi zu führen gel­ernt. Dabei war nie­mand von ihnen vol­lkom­men — daran zwei­fle ich nicht. Es gab Rück­fälle. Es gab das, was die Englän­der ‘messi­ness’ nen­nen. Aber die Rich­tung war klar.

Het­ero­sex­uelle und Homo­sex­uelle erkan­nten gemein­sam, was die Werte ihres Glaubens an Jesus für den Umgang mit ihrer sex­uellen Ori­en­tierung bedeuten. Und sie merk­ten, dass ein Leben nach diesem Jesus-Weg sie als einzelne Per­son und als Gemein­schaft zum Auf­blühen bringt. Der Jesus-Weg wurde als heils­brin­gend verstanden!

Bei nie­mand anderem ist Ret­tung zu find­en; unter dem ganzen Him­mel ist uns Men­schen kein ander­er Name gegeben, durch den wir gerettet wer­den kön­nen. (Apg 4:12)

Die Bibel bringt Men­schen aller sex­uellen Ori­en­tierun­gen zusam­men unter die Gnade von Jesus Chris­tus. In ein­er Diskus­sion rund ums The­ma beschreibt Jens Kaldewey die christliche Gemeinde als ‘Raum der Gnade’. Das gefällt mir sehr gut! Christliche Gemein­den dür­fen ‘Räume der Gnade’ sein, wo jed­er Men­sch willkom­men ist, egal, was seine sex­uelle Ori­en­tierung oder sex­uelle Her­aus­forderung ist:

Das gilt ohne Unter­schied für Juden wie für alle anderen Men­schen. Alle haben densel­ben Her­rn, der seine Reichtümer großzügig allen schenkt, die ihn darum bit­ten. (Rom 10:12)

Das Wort ‘Gnade’ passt per­fekt, weil Gnade radikale Annahme aller Men­schen vorgibt, aber gle­ichzeit­ig nicht alles gutheisst, was der Men­sch leben möchte. Hier gibt es Raum, einen Weg der Verän­derung zu gehen, ohne dass er aufgezwun­gen wird. Hier gibt es Verge­bung, wenn Ver­sagen da ist. Hier gibt es Feste der Freude, die gefeiert wer­den, wenn man auf dem Jesus-Weg ins Heil einen Schritt weit­er gekom­men ist. Hier ler­nen alle Gläu­bi­gen zu ent­deck­en, was es heisst, wahrhaftig zu sein in der Liebe und zu wach­sen in allen Lebens­bere­ichen zu dem hin, der das Haupt ist, Chris­tus (Eph 4:15).

Es gibt diese Men­schen auch heute. Pas­tor Ed Shaw aus Bris­tol, Eng­land, ist ein homo­ero­tisch empfind­en­der Mann. Er schreibt in seinem Buch darüber, wie er lebt und wie seine Gemeinde ihn her­zlich aufn­immt — ihn, den Pas­tor, der ihnen dient! Shaw, der seine Homo­sex­u­al­ität nicht auslebt, obschon er so empfind­et, stellt auf ein­drück­liche Weise die Frage — grad auch an het­ero­sex­uelle Men­schen — ob der Glaube uns denn noch etwas kosten darf. Ich empfehle die Lek­türe dieses Buch­es wärmstens!

Es stimmt: Wir Chris­ten müssen um Verge­bung bit­ten für die Fehler, die wir in der Ver­gan­gen­heit gemacht haben gegenüber Homo­sex­uellen. Aber wir soll­ten unsere Mei­n­ung nicht ändern, ein­fach weil der Druck der Gegen­wart­skul­tur gross ist. Wir wür­den uns gle­ich nochmals an der Gesellschaft schuldig machen, die es nötig hat, vorgelebte Mod­elle der Wege Jesu zu sehen! Was es heute braucht, sind Chris­ten wie Ed Shaw, die zeigen, was das Evan­geli­um Jesu Christi für homo­ero­tis­che Men­schen bedeutet. Was es heute braucht, sind Gemein­den, die sich als Räume der Gnade ver­ste­hen und alle Men­schen willkom­men heis­sen, ohne dabei den Anspruch und die Schön­heit und den Preis der Nach­folge Jesu Christi zu kompromittieren!

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Unsere weit­eren Artikel zum Thema:

Die Ehe für alle und nicht-christliche Reli­gio­nen (2019)
Das Reformierte Glaubens­beken­nt­nis zur ‘Ehe für alle’ (2019)
Ehe für alle? (2021)

Über den Kanal

Paul Bruderer

Paul Bruderer, Jahrgang 1972, als Kind von Missionaren in Afrika aufgewachsen, 1998 Gründungsmitglied der erwecklichen ‹Godi›-Jugendarbeit in Frauenfeld. Seit 2001 Pastor in der Chrischona Gemeinde Frauenfeld. Paul lebt mit seiner Familie in Frauenfeld, Schweiz.

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Kommentare zu diesen Beitrag

24 Comments

  1. Markus F.v.G.

    Lieber Bruder(er) Paul,

    als ziem­lich ein­fach gestrick­ter Mann bin ich auf Klarheit angewiesen. Und da kommt mir GOTTes Wort sehr entgegen.

    Ich glaube, dass es nicht nur Wahrheit­en enthält, son­dern DIE WAHRHEIT ist — für alle Zeit (auch für unsere) aus der Ewigkeit und in Ewigkeit. Wir hal­ten heute in den 66 Büch­ern der Heili­gen Schrift die Vollof­fen­barung GOTTes in der Hand!
    Das ein­mal als Grundlage.

    Als ehe­ma­liger Kom­mu­nist und DDR-sozial­isiert­er „Staats­gläu­biger“ glaube ich, seit mir Jesus Chris­tus begeg­nete — wie Paulus auch bekan­nte — allem, was geschrieben ste­ht. Und dazu gehört, dass
    1. aus­gelebte Homo­sex­u­al­ität Sünde ist
    2. Homo­sex­u­al­ität vom Reich der Him­mel in Ewigkeit auss­chliesst und
    3. in die ewige Ver­damm­nis führt
    4. Jesus Chris­tus zur Busse und Umkehr aufruft
    5. Gnade zur Verge­bung durch SEINEN Tod am Kreuz und durch SEIN Blut erwirkt hat
    6. diese Gnade jedem gewährt, der zu IHM kommt und
    7. durch SEINE Aufer­ste­hung zu einem immer­währen­den Neuan­fang zum Leben inner­halb SEINER Gebote und Ord­nun­gen aufruft und die Kraft dazu dem gibt, der IHN darum bittet.

    Wir „Chris­ten“ haben uns schuldig gemacht — das stimmt!
    Unsere Schuld lag darin, dass wir Men­schen dazu gezwun­gen haben, die Geset­ze des Reich­es Christi zu leben, auch wenn sie das gar nicht woll­ten! Denn im Him­mel sind nur Frei­willige — und in der Hölle ebenfalls.

    Und wir machen uns wieder schuldig — das stimmt!
    Doch unsere Schuld liegt darin, dass wir Sünde und Schuld nicht mehr beim Namen nen­nen, dass wir die leben­sz­er­störende Wirkung der Sünde klein- und sog­ar schönre­den, dass wir eine bil­lige Gnade verkündi­gen, dass wir mit dieser bil­li­gen Gnade das „Recht zum Sündi­gen“ propagieren, dass wir den Men­schen vor­gaukeln, dass, wer zu Chris­tus kommt und sich zu IHM beken­nt, so bleiben kann, wie er ist…

    Wir machen uns damit schuldig gegenüber dem lebendi­gen GOTT und Jesus Chris­tus, der SEIN Leben auf grausam­ste Weise an unser­er Stelle geben musste, um uns zu erlösen, gegenüber den Men­schen, denen wir nicht mehr offen und ehrlich gegenübertreten und gegenüber uns selb­st, die wir dadurch sel­ber in Lauheit und Schlaf verfallen.
    Denn
    1. „bil­lige Gnade“ ist eine Lüge und
    2. „teure Gnade“ gibt’s nur für den, der auch die Kon­se­quen­zen der Nach­folge tra­gen will. Und dazu gehört eben auch das „Beken­nen und Lassen der Sünde“ als Folge der „Erneuerung der Gesinnung“.

    Wem es nicht ein­fällt, sich von der Sünde abzuwen­den oder wenig­stens mit ihr zu brechen und es ablehnt, heil zu wer­den, weil er es nicht will oder weil nie­mand es ihm sagt oder sagen will, der ist und bleibt in der Welt und geht mit ihr ver­loren, denn GOTT sagt es so.
    Und wenn unser eigenes Leben im Geist Jesu Christi und 

    Und das auszus­prechen, ist wed­er lieb­los, noch rich­t­end, noch unbarmherzig — son­dern war­nend, zu Jesus Chris­tus rufend und SEINE Gnade (und damit SEIN Evan­geli­um) anbietend.

    Unser mod­ernes Ver­ständ­nis von „Liebe“ kommt uns da wohl allen mehr oder weniger in die Quere…

    Her­zliche Grüsse
    F.v.G.

    Reply
    • Paul Bruderer

      Danke Markus für die Rück­mel­dung und Gottes Segen beim studieren der Bibel 🙏 Paul Bruderer

      Reply
  2. Esther

    Hal­lo Paul
    Danke für deine fre­undliche und zeit­na­he Antwort. Das Ange­bot einen Kaffe mit dir zu trinken, nehme ich gerne an. Siehe Mail.

    Reply
  3. Esther

    Guten Tag Herr Bruderer
    Ich war an ihrem Vor­trag in Aarau am 9. Dezem­ber. Es hat mich sehr fasziniert. Als ich aus dem Raum lief, dachte ich, es fühlt sich wahr an, ich spürte eine Übere­in­stim­mung mit dem Geist. Für mich und mein Set­ting stimmt das auch pri­ma. Glück­lich ver­heiratet, Mut­ter von drei Kindern. Gross­mut­ter von drei Enkeln. Bloss, was sage ich meinen les­bis­chen, homo­sex­uellen und Trans­fre­un­den? Darüber wurde ich sehr trau­rig. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass Gott dienen höher ist als men­schlich­es Glück. Doch welche Kirche kann ich meinen Fre­un­den empfehlen? (Nach mein­er Auf­fas­sung ist die sex­uelle Ori­en­tierung nicht Heilsentschei­dend). Deshalb habe ich gestern mal die regen­bo­genkirche der emk gegoogelt und bin dort auf einen Vor­trag gestossen. (Barthel, Jörg, Am andern Ufer? Bibel und Homo­sex­u­al­ität, The­olo­gie für die Prax­is 31
    (2005) 99–113 (Barthel) Es ist ein pdf zum run­ter­laden https://regenbogenkirche.ch/wer-wir-sind/ Unsere Überzeugung.)

    Darauf hat­te ich eine schlaflose Nacht. 

    Ich bin eine Jesus Nach­fol­gerin, keine The­olo­gin. Als Frau (mit ein­er Gabe in Leitung) in ein­er Freikirche aufgewach­sen. Zu ein­er Zeit, als die The­olo­gen sehr überzeugt wussten wo eine Frau hinge­hört. Ich habe erlebt, wie es sich anfühlt durch reine Exis­tenz ein Prob­lem zu sein. Zum Glück ist Jesus nicht so! Das ist die grosse Befreiung durch das Evan­geli­um. Meine Angst ist, dass ich diese Men­schen nicht wie Jesus es tun würde behan­dle. Dass plöt­zlich ich zur “Täterin” zur Schrift­gelehrten und Phar­isäerin werde. Dass ich mich schuldig mache an meinen Fre­un­den. Was denken sie darüber?

    Reply
    • Paul Bruderer

      Vie­len Dank Esther (ich erlaube mir, dich zu dutzen) dass du deine Gedanken offen schreib­st. Kein­er von uns sollte sich schuldig machen an seinen Fre­un­den — und auch nicht anderen Men­schen gegenüber. Du stellst gute Fra­gen! Du tauchst mit diesen Fra­gen voll ein in eine der heiss­es­ten Debat­ten unser­er Zeit. Am Besten ist wohl ein Tre­f­fen, wo wir über das Ganze reden kön­nen. Darf ich dich zu einem Kaf­fee in Frauen­feld ein­laden? mlg Paul

      Reply
  4. Tim H.

    Lieber Paul Bruderer,

    Vie­len Dank für diesen Artikel. Ich habe vor kurzem mein The­olo­gi­es­tudi­um been­det und arbeite jet­zt als Vakanzvertre­tung in Nieder­sach­sen in ein­er Gemeinde. Und ver­suche mich jet­zt ger­ade in den zurzeit sehr kon­tro­ver­sen Diskus­sio­nen zurecht zu find­en. U.a. im The­ma zur Homosexualität.
    Der kleine Neben­satz, dass Sie mehrere Jahre gebraucht haben, um sich eine Mei­n­ung über dieses The­ma zu bilden macht mir sehr viel Mut, weil ich mir dadurch auch diese Frei­heit einzuräu­men geste­he, ohne dem gesellschaftlichen Druck nachgeben zu müssen. Ihre Aus­führun­gen weit­er machen sehr viel Sinn und tre­f­fen sich mit meinen bish­eri­gen bib­lis­chen und the­ol­o­gis­chen Erkenntnissen.
    Danke also noch ein­mal für diesen Artikel und die Ermu­ti­gung, die Kirche als “Räume der Gnade” zu betrachten.

    Mit fre­undlichen Grüßen

    Reply
    • Paul Bruderer

      Lieber Tim (ich hoffe uns zu dutzen ist okay) ich freue mich, dass der Artikel dir eine Hil­fe war! Sei geseg­net in deinem noch jun­gen Dienst und meld’ dich wieder mal. Soll­test du in der Gegend von Kon­stanz sein, komm’ doch auf einen Kafi oder auf ein feines Bierchen. Lieber Gruss Paul

      Reply
      • Tim Hottinger

        Lieber Paul,

        vie­len Dank für die fre­undliche Antwort. Ich habe gestern erfahren, dass wir bei­de Chrischonabrüder sind. Die Stu­di­en­gangsleitung The­olo­gie und Musik (S.Hagen) hat mich darauf hingewiesen, dass du mich ver­mut­lich auch schon am tsc erlebt hat. Vie­len Dank daher für die Ein­ladung! Ver­mute, dass wir in der näch­sten Zeit nicht im Umkreis von Kon­stanz sein wer­den, aber wenn du mir deine adresse nochmal auf meine email versend­est, weiß ich wenig­stens, wohin wir kom­men müssen, wenn es mal soweit sein sollte.

        Lieben Gruß in den Süden
        Tim

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        • Paul Bruderer

          Lieber Tim
          Susanne Hagen hat da ver­mut­lich recht 🙂 Ich selb­st habe zwar nicht am TSC studiert son­dern ANCC in Lon­don. Aber ich bin seit Jahren an den Kon­feren­zen am TSC. Meine Adresse — soll­test du mal in der Nähe sein: Ringstrasse 2, 8500 Frauen­feld, Schweiz

          Reply
  5. JS

    Moin,
    und danke für die prompte und sehr aus­führliche Antwort.

    Daraus müsste man ja Schlussfol­gern, dass die Dinge, zu denen Jesus Stel­lung bezo­gen hat, nicht! im jüdis­chen Kon­text gek­lärt sind.

    Doch m.E. ist dem wohl eher nicht so…

    Denn das Gebot der Liebe ist ja usus…

    Warum also darüber reden?
    Doch Jesus tat es.

    Und: Ich halte es für AUSGESCHLOSSEN, dass es in der jüdis­chen Gemeinde…also im ganzen Volk… keine homo­ero­tis­che Sex­u­al­ität (in welch­er Form auch immer) gab (und gibt).

    Und: Man kann davon aus­ge­hen, das auch und ger­ade jüdis­che Mächtige — aber auch Men­schen aller Coleur in dieser “Sache” aktiv waren.
    Alles andere wäre Augen­wis­cherei und Glo­ri­fizierung eines (banal men­schlichen) auser­wählten Volkes. 

    Soweit.

    Her­zliche Grüße

    Jörg Stahn

    Reply
  6. Jörg Stahn

    Lieber Herr Bruderer,

    vie­len Dank für Ihre Ausführungen.
    Jedoch gibt es m.E. eine (die!) entschei­dende Kom­po­nente, die nicht berück­sichigt wurde: wwJd?
    Oder bess­er: Wieso wurde uns kein Jesus-Zitat über­liefert, wenn es doch ein so ele­man­tar!!! wichtiges Detail des Glaubens, der Gottes­liebe und ‑treue(und des Zuam­men­lebens) ist?
    Meine Ver­mu­tung: Weil Jesus wusste, dass wir als eine Jün­gerin­nen und Jünger…ganz andere Prob­leme des Miteinan­ders zu stem­men haben: Liebe, Ehrlichkeit, Fre­undlichkeit, Demut…
    HG J.Stahn

    Reply
    • Paul Bruderer

      Lieber Jörg, aus­geze­ich­nete Frage! Ich denke Jesus hat sich nicht zur Homo­sex­u­al­ität geäussert, weil das im Juden­tum abso­lut gek­lärt war. Und ich meine mit dem Wort ‘abso­lut’ genau das: abso­lut. Die jüdis­che Weltan­schau­ung hat wirk­lich keinen Platz für irgen­deine Vari­ante aus­gelebter Homo­sex­u­al­ität. Dies sieht man bei diversen jüdis­chen Autoren der Zeit, z.B. bei Phi­lo, Jose­phus und anderen. Es gab keine Homo­sex­u­al­itäts­frage, deshalb sagte Jesus auch nichts dazu.

      Ich ziehe eine Par­al­lele zur Frage der Wieder­heirat. Viele fra­gen: Warum sagt die Bibel nir­gends direkt etwas zur Wieder­heirat nach ein­er Schei­dung? Einige schliessen von diesem Schweigen, dass Wieder­heirat nicht erlaubt ist. Ich denke es läuft anders. Wieder­heirat war in den jüdis­chen Schei­dungs­briefen gek­lärt. Die Schei­dungs­briefe hat­ten Raum für gewisse Vari­a­tio­nen, aber fol­gen­der Satz war gemäss den Rabi’s zwin­gend in jed­er Schei­dung­surkunde drin. Das klang beispiel­sweise so: “Siehe du bist frei für jeden Mann… Und dies soll von mir zu dir sein eine Urkunde der Schei­dung und ein Freilas­sungs­brief und eine Bestä­ti­gung der Ent­las­sung, dass du ver­heiratet sein darf zu jedem Mann dein­er Wahl” (Mis­chna m.Git.9.3 in Neusner, The Mis­chna 1988, eigene Über­set­zung). Wir sehen hier: War jemand mal geschieden, war son­nen­klar, dass mit der Schei­dung die Erlaub­nis ein­er Wieder­heirat mit inbe­grif­f­en war. Die Juden debat­tierten nicht die Wieder­heirat son­dern für sie war die Frage: Wann ist eine Schei­dung berechtigt und wann nicht? DAZU äussert sich Jesus. Ich deute das so: Wenn eine Schei­dung aus Sicht von Jesus berechtigter­weise geschieden wurde, dann ist aus Sicht von Jesus auch eine Wieder­heirat möglich. SONST hätte er dazu etwas gesagt. Er hat dazu aber nichts gesagt — folgedessen ist er in Bezug auf die Wieder­heirat nach ein­er Schei­dung mit dem jüdis­chen Kon­sens einverstanden.

      Bei der Homo­sex­u­al­ität sehe ich es gle­ich. Ger­ade die Tat­sache, dass Jesus zur Homo­sex­u­al­ität nichts sagt, zeigt, dass er mit dem klaren jüdis­chen Kon­sens einig war. SONST hätte er BESTIMMT etwas gesagt. Wenn Jesus wirk­lich für das Ausleben bes­timmter Vari­anten der Homo­sex­u­al­ität ist, hätte er mit Bes­timmtheit etwas gesagt und den jüdis­chen Kon­sens her­aus­ge­fordert oder kon­fron­tiert. Dies tut er näm­lich bei der Schei­dungs­frage und auch bei anderen Fra­gen der Sex­u­alethik. Jesus kon­fron­tiert zum Beispiel den jüdis­chen Kon­sens, dass eine Per­son ver­heiratet sein muss, als er in Matthäus 19,12 drei Kat­e­gorien von Sin­gles auflis­tet. Eine davon ist das frei­willige unver­heiratet bleiben. Diese Idee von frei­willi­gen unver­heiratet bleiben war im Juden­tum undenkbar. Jesus kor­rigiert hier sehr klar den jüdis­chen Kon­sens und sagt: es ist okay, frei­willig unver­heiratet zu bleiben.

      Ich denke: hätte Jesus eine pos­i­tive Sicht aus­gelebter Homo­sex­u­al­ität, hätte er dazu etwas gesagt. Wenn das so stimmt, muss das Schweigen von Jesus zur Homo­sex­u­al­ität als ein äusserst deut­lich­es Zeichen gew­ertet wer­den, dass Jesus keine Vari­ante aus­gelebter Homo­sex­u­al­ität gutheisst. Was das bedeutet für die Men­schen unter uns, die homo­ero­tisch empfind­en, ist eine sehr wichtige Frage auf die man auch einge­hen muss. Doch was Jesu’ Hal­tung bet­rifft, dünkt mich, dass oben beschriebene Sachen eine deut­liche Sprache sprechen.

      Reply
    • Paul Bruderer

      Gerne!

      Ich denke wie auch, dass da und dort was homo­sex­uelles gelaufen ist — auch im Juden­tum. Mein Punkt war nicht, was gelaufen ist, son­dern wie es ethisch beurteilt wurde. Und dies­bezüglich herrschte Klarheit.

      Reply
      • Jörg Stahn

        Das habe ich verstanden.
        Jedoch wäre dann der Umkehrschluss, dass Jesus sich nur zu den The­men geäußert hat, bei denen Unklarheit bestand — oder?
        Und das hielte ich für eine “steile” These.
        Und ich bin überzeugt: Wenn wir als Chris­ten mit halb soviel Engage­ment, wie beim The­ma Homo­sex­u­al­ität, die The­men Näch­sten­liebe, Demut, Achtung, Miss­brauch (auch theol./seelsorgerl.), Mis­sion, Gemein­de­bau, Verge­bung etc. beack­ern würden…
        Wow…Wachsende Gemein­den, mehr Frieden in der Welt (und in den Gemeinden..;-) )
        Und weil Jesus uns so genau kennt…hat er das zum The­ma gemacht, was ex. wichtig ist.

        Noch eine­mal: Die Fest­stel­lung, dass Jesus nur über die Sachen sprach, die unklar waren…ist doch etwas weit hergeholt.
        Den­noch akzep­tiere ich natür­lich Ihre Sichtweise. Sie hil­ft m.E. jedoch nicht weiter.
        HG JS

        Reply
        • Paul Bruderer

          Thx Han­sjörg,
          ich würde die steile Vari­ante auch nicht gut heis­sen. Mit gross­er Sicher­heit hat Jesus auch über Dinge gesprochen, die im Juden­tum klar waren und hat diese bestätigt.

          Reply
          • Jörg Stahn

            Bestätigt. Ja.
            Und erweitert!
            Und: Eine neue/andere Sichweise/Blick auf den Vater/Gott und die Dinge (des Lebens)!
            HG JS

  7. Alexander Bischoff

    Sehr ehrlich­es auseinan­der set­zen mit einem The­ma das uns durch entsprechende Lob­by Arbeit, aber auch durch eigene Fehler auf die Agen­da geschrieben wurde. Meine Anerken­nung dazu
    alexbischoff@me.com

    Reply
    • Paul Bruderer

      Vie­len Dank Alexander

      Reply
    • Paul Bruderer

      Danke Jens! Freue mich darauf, deine Inputs anzuschauen. Grüsse aus der Schweiz! Paul

      Reply
  8. Reinhold Scharnowski

    Paul, sehr coole und dif­feren­zierte Darstel­lung. So vieles, was uns im Moment verkauft wird, radikalisiert ein­fach. Du machst es vor: mehr forschen und tiefer denken.
    Sehr hil­fre­ich. Danke 🙂

    Reply
    • Paul Bruderer

      Vie­len Dank Reinhold!

      Reply
  9. Wolfgang Ackerknecht

    Vie­len Dank für eure Gedanken (auch von Ste­fan). Ja wir Chris­ten müssen uns immer mehr recht­fer­ti­gen und entschuldigen… So fehlt oft Raum und Zeit für die The­men, die unser Leben reich machen. — Es macht auch keine Freude, ständig an einem abbruchreifen Haus herumzubasteln. Es müsste abgeris­sen wer­den, damit das Neue gebaut wer­den kann und Freude bereitet.

    Reply
  10. Stefan

    Hal­lo Schreiber­linge von DanielOption
    Danke für diesen Beitrag. Es sind sehr inter­es­sante und über­legenswerte Gedanken. Ich mache mir in let­zter Zeit einige Gedanken über das The­ma «Homo­sex­u­al­ität» und werde ab und zu davon über­rascht. Um es vor­weg zu nehmen: Ich bin het­ero­sex­uell, glück­lich ver­heiratet und Christ.
    Am let­zten Don­ner­stag, 05.09.19, wurde in der Tagess­chau fol­gen­der Beitrag zu einem beantragten Kon­ver­sionsver­bot von Homo­sex­uellen, das der Bun­desrat ablehnt, ausgestrahlt:
    https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/das-ladensterben—es-braucht-neue-ideen?id=7291f3ce-e334-4682–920c-cdacf29ae367
    Darin fordert Nation­al­rätin Ros­marie Quad­ran­ti ein Ver­bot von Kon­ver­sionsver­suchen an Homo­sex­uellen seit­ens Freikirchen, Psy­chother­a­peuten und anderen inter­essierten Grup­pen. Frau Quad­ran­ti betont, dass sie über­rascht, bzw. trau­rig ist, dass im 21. Jahrhun­dert eine so ablehnende Hal­tung gegenüber ihrem Anliegen zum Aus­druck kommt.
    Ich denke, dass der christlichen Gemeinde, bzw. jedem einzel­nen Chris­ten, die Wis­senschafts- und Weit­er­en­twick­lungs­gläu­bigkeit der Men­schheit im Weg ste­ht. Wis­senschaftlich erken­nt man immer mehr Zusam­men­hänge, stösst immer tiefer in Unerk­lär­bares vor und will das Unerk­lär­bare auch noch klären kön­nen. Wie haben es die Amerikan­er immer wieder als frei­heit­sliebende Men­schen betont: “Für uns ist nur der Him­mel die Gren­ze!” Nun — es scheint mir, dass dies nicht nur im tech­nis­chen Fortschritt der Fall ist, son­dern auch in gesellschaft­srel­e­van­ten The­men. Und ver­mut­lich akzep­tiert man dort die Gren­ze «Him­mel» nicht mehr.
    Die gesellschaft­srel­e­van­ten The­men wer­den heute vielfach von den Medi­en aufge­bauscht und sind darum von Men­schen­mei­n­ung abhängig. Aber ist das das Mass aller Dinge. Ich glaube nicht… und doch erscheint es so schwierig.
    Es wird von Säuglingssterblichkeit berichtet, wenn diese, wie im let­zten Jahr, zu den Vor­jahren ansteigt (Wieso kon­nte man das nicht unterbinden? Was ist das Prob­lem? Wo man­gelt es an wis­senschaftlichen Erken­nt­nis­sen, um erwün­scht­es Leben am Leben zu erhal­ten?). Doch wenn die Abtrei­bungsrate steigt, wird es nicht erwäh­nt oder dann vielle­icht als pos­i­tiv gew­ertet, da uner­wün­scht­es Leben beste­hen­des Leben nicht mehr in sein­er Exis­tenz bedro­ht. Aber wer definiert in diesem Fall erwün­scht­es Leben? Der Men­sch. Und nicht Gott. Und es scheint bre­it akzep­tiert zu sein. Erwün­scht oder nicht erwün­scht definiert der Men­sch in seinem Entwick­lungs- und Selbstfindungswahn.
    Die Def­i­n­i­tion, was gut oder schlecht ist, ist je länger, umso mehr, vom Men­schen­ver­stand abhängig. Und diese Seuche greift langsam in christlichen Kreisen um sich. Darum haben die Gedanken Gottes aus Jesa­ja 55,8+9 immer weniger Wirkung und Ein­fluss auf das Denken viel­er Christen:
    Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR; son­dern so viel der Him­mel höher ist denn die Erde, so sind auch meine Wege höher denn eure Wege und meine Gedanken denn eure Gedanken.
    Wenn Gottes Gedanken nicht meine Gedanken sind MUSS und KANN ich nicht alle Weisun­gen von ihm ver­ste­hen. Ich muss sie ein­fach annehmen. So wie ein 5‑jähriges Kind seinem Vater blind ver­traut, dass er für ihn das Beste will, so muss ich Gott ver­trauen, dass er weiss, was er sagt, wenn er Homo­sex­u­al­ität (und nicht die Homo­sex­uellen per se!) verurteilt. Seine Gedanken sind höher. Ich ver­traue ihm in dieser Frage und stelle SEINE Mei­n­ung darum nicht in Frage.
    Was mir allerd­ings ein biss­chen Bauch­weh macht: Wie lange darf ich in unserem Land diese Mei­n­ung noch öffentlich vertreten? Ohne Sank­tio­nen oder Benachteili­gun­gen zu erleben? Man kann ja sagen: Darauf musst du nicht acht­en, solange du nach Gottes Willen han­delst. Das stimmt zwar, aber viele Gläu­bige (und ich zäh­le mich auch dazu) wollen doch von Nicht­gläu­bi­gen geachtet sein. Wir sollen gute Beispiele sein für diese Welt. Sind wir aber das, wenn wir uns gegen die öffentliche Mei­n­ung stellen? Jesus tat es. Darum darf ich das auch, wenn ich der Überzeu­gung bin, dass dies recht­ens ist, ohne eine betrof­fene Per­son zu dif­famieren. Muss aber mit den Kon­se­quenten rechnen.
    Sind wir Chris­ten dazu bereit?

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