Die herkömmlichen Strategien der Evangelisation greifen nur noch begrenzt, weil wir in einer nach-christlichen Kultur leben. Worauf müssen wir achten, wenn wir unsere Gesellschaft neu mit der Liebe von Jesus und seiner guten Nachricht (dem Evangelium) erreichen wollen?
Christliche Pastoren, Studenten, Strategen und Influencer müssen möglicherweise an einigen wichtigen Punkten umdenken, um ihr Umfeld mit dem Glauben an Jesus bekannt zu machen. Alles fängt mit einer guten Analyse an, welche Tim Keller meiner Meinung nach äusserst treffend macht:
„Wir treten in eine neue Ära ein, in der man als Christ nicht nur keine sozialen Vorteile mehr hat, sondern effektiv einen Preis dafür bezahlt … Die heutige (westliche) Kultur prägt die Menschen so, dass sie das Christentum nicht nur anstössig, sondern unverständlich finden … Die Leiter der Kirchen müssen neue Wege finden, um Menschen zu erreichen, denen es nicht im Entferntesten in den Sinn käme, in die Kirche zu kommen oder auch nur an die grundlegendsten christlichen Grundlagen zu glauben.“ – Zitat Timothy Keller, eigene Übersetzung
Angesichts der neuen gesellschaftlichen Realitäten ist es für Keller aber keine Frage, ob man zugunsten dieser die theologischen Grundlagen opfern müsste:
Oft wird ja bezweifelt, dass es möglich ist, an einer soliden protestantischen Theologie festzuhalten und dennoch in Kontexten, in denen Christsein scheinbar komplett abgelehnt wird, ganzheitlich und fruchtbar Gemeinde zu bauen. Doch es ist möglich – nicht trotz einer klassischen konservativen Theologie, sondern gerade auf dieser Grundlage. – Timothy Keller, Center Church (deutsche Ausgabe) S. 352f
In der Folge nennt Timothy Keller in Anlehnung an Larry Hurtado fünf Grundelemente, um den post-christlichen Westen mit dem Evangelium zu erreichen. Die Mehrheit des nachfolgenden Textes ist mehr oder weniger direkt aus Kellers Artikel übersetzt:
Resia See mit Kirchenturm, Trentino, Italien, Bild: iStock
1. Die Kultur anhand des Evangeliums erklären
Bevor wir einer Kultur das Evangelium erklären können, müssen wir die Kultur ANHAND des Evangeliums erklären.
Es genügt nicht zu beweisen, dass der christliche Glaube aktuell ist und mit unserer modernen Kultur mithalten kann, indem wir z.B. historische Beweise für die Auferstehung von Jesus oder der Echtheit der Bibel aufführen. Es braucht mehr als das.
Der bekannte Kirchenvater Augustinus übte beispielsweise mit seiner Schrift ‘Von der Bürgerschaft Gottes’ radikale Kritik an der vorherrschenden heidnischen Kultur und zeigte auf, wie diese heidnische Kultur an ihren eigenen Standards scheitert. Erst durch diese direkte Konfrontation bekam das Evangelium eine ernstzunehmende Relevanz, weil es einen besseren Weg aufzeigte.
In dem Sinne kommen wir auch heute nicht darum herum, die vorherrschende säkulare Kultur des Westens und ihren Anspruch auf Neutralität, Objektivität und Universalität anhand des Evangeliums zu hinterfragen. Insbesondere sollte ein solches Vorgehen aufzeigen, dass das moderne säkulare Bezugssystem im Bestreben, das individuelle Selbst vollständig von allen Ansprüchen der Tradition, Religion, Familie und Gemeinschaft zu befreien, zu unseren modernen Verhältnissen geführt hat, in denen
- alle Werte relativ
- alle Beziehungen ein Tauschhandel
- alle Identitäten hochgradig zerbrechlich
- alle (angeblichen) Quellen der Erfüllung enttäuschend sind.
Das Narrativ der Spätmoderne lautet: „Frei sein ist der Sinn des Lebens“. Es gilt, diese herrschende Definition von Freiheit anhand des Evangeliums zu beleuchten und zu hinterfragen und die Freiheit durch Christus in Relation zu stellen, wie dies im nächsten Punkt beschrieben wird.
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2. Eine Evangeliums-Dynamik, die dem Nach-Christentum gerecht wird
Niemand kann ohne Sinn, Zufriedenheit, Freiheit, Identität, Vergebung und Hoffnung leben. Es gilt also, die gängigen Antworten der Menschen auf die grossen Fragen des Lebens respektvoll zu hinterfragen und zur gegebenen Zeit in Relation zur unübertroffenen Erfüllung zu stellen, die das Evangelium bereithält:
- Einen Sinn im Leben, der nicht durch Leid genommen werden kann (gegebenenfalls sogar vertieft werden kann)
- Eine Zufriedenheit, die nicht auf Umständen basiert
- Eine Freiheit, die Gemeinschaft und Liebesbeziehungen nicht zu einem Tauschhandel degradiert
- Eine Identität, die nicht zerbrechlich ist und nicht auf Leistung oder Abgrenzung basiert
- Einen Weg, um mit Schuld und Vergebung umzugehen, ohne bleibende Bitterkeit und Scham
- Eine Grundlage, um Gerechtigkeit zu bewirken, ohne dabei selbst zum Unterdrücker zu werden
- Einen Weg, um nicht nur der Zukunft, sondern dem Tod selbst gelassen und im Frieden zu begegnen
In Anlehnung an Jona 2:10: “Bei dem HERRN ist Rettung.” sieht Keller folgende zwei Kernelemente in der Verkündigung des Evangeliums in einer post-christlichen Kultur als unumgänglich:
- Die schlechte Nachricht: Du versuchst dich selber zu erlösen, aber du schaffst es nicht.
- Die gute Nachricht: Du kannst nur durch Christus erlöst werden, nicht durch deine Bemühungen.
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3. Eine dem kulturellen Standard entgegengesetzte Art des Gemeinschaftslebens
Die christliche Gemeinde der ersten Jahrhunderte lebte mit Überzeugung folgende fünf Wesensmerkmale, die zusammen ein unzertrennbares Ganzes bilden:
- Multi-kulturell: In den Gemeinden lebten Menschen verschiedenster ethnischer Hintergründe zusammen
- Sozial: Sie kümmerten sich mit grossem Engagement um Arme und Randständige
- Gewaltlos: Sie suchten Vergebung statt Vergeltung
- Schutz des Lebens: Sie waren vehement und ganz praktisch gegen Abtreibung und Kindstötung
- Alternative Sexualethik: Ihre Sexualethik war revolutionär anders als die Sexualethik der römischen Kultur
Mehr zu diesen fünf Werten ist im Leitartikel zu lesen. Wichtig ist zu verstehen, dass diese fünf aktiv gelebten, ethischen Werte der Christen für die römische Gesellschaft anstössig, aber gleichzeitig auch anziehend waren.
Indem die ersten Christen die fünf Werte lebten, zeigten sie durch ihr Leben die Schwächen des römischen Reiches und dessen Kultur auf. So wurde das Christentum mit der Zeit zu einer ernstzunehmenden und sogar attraktiven Option für eine Gesellschaft, welche die Christen gleichzeitig verfolgte und verachtete.
In diesem Sinne interpretierten die Christen durch ihr Leben die römische Kultur anhand des Evangeliums (siehe Punkt 1).
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4. Ein Gegen-Katechismus für ein digitales Zeitalter
Keller bezieht hier das Wort ‘Katechismus’ nicht auf das klassische Frage-Antwort-Schema, sondern betont die grundsätzliche Art und Weise, wie die Kirche die Christen mit den biblischen Lehren formten. Denn es ging dabei nicht nur darum, sich die biblische Lehre als solche einzuprägen, sondern diese auch in Relation zur dominanten Alternative zu setzen, welche die vorherrschende Kultur anbietet. Christen sollten darin gelehrt und trainiert werden, den Zeitgeist und seine Ansprüche anhand der biblischen Lehre zu dekonstruieren und sich vor seinem Einfluss zu schützen.
Das bedeutet: Die Narrative der dominanten Kultur und ihre Definition von Identität, Freiheit und Moral müssen auf der Grundlage der Bibel als solche identifiziert und als nicht-plausibel entlarvt werden. Die Kirche muss zudem ihre Mitglieder darauf trainieren, ihren Glauben in ihren Arbeitsalltag zu integrieren (statt nur am Sonntag zu ‘polieren’), damit das Evangelium auf natürliche Weise ‘Salz und Licht’ sein kann.
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5. Gnade auf den Punkt bringen
Das Verständnis für den Unterschied zwischen Evangeliums-Gnade und religiösem Moralismus darf uns niemals abhandenkommen, so Keller. Er bezeichnet die nach-christliche Welt in einem Vortrag als immun gegen das Christentum, weil die Menschen das Evangelium mit Moralismus verwechseln. Keller selbst formuliert das Evangelium der Gnade so:
Du bist so fehlerhaft und verloren, dass Christus für deine Erlösung sterben musste, aber gleichzeitig so sehr geliebt und angenommen, dass er es gerne für dich tat. –Timothy Keller, eigene Übersetzung
Jesus macht im Gleichnis der verlorenen Söhne in Lukas 15 klar und deutlich, dass das Evangelium weder mit Relativismus (jüngerer Sohn) noch mit Moralismus (älterer Sohn) zu verwechseln ist. Auch der Kirchenvater Tertullian bemerkte, dass jede Wahrheit zwischen zwei Häresien gekreuzigt wird. Die befreiende Wahrheit des Evangeliums der Gnade ist die dritte und bessere Option.
Johannes Hartl bringt in seinem genialen Vortrag ‘Das entfesselte Evangelium’ die Meinung der Europäer über das Christentum auf den Punkt: “Europäer denken, Christ sein bedeute, ein guter Mensch zu sein.” Hartl nennt diese Definition ein ‘Fake-Evangelium’. Denn was bedeutet es, ein guter Mensch zu sein? Der Relativist sagt: «Ich bin ein guter Mensch, denn es gibt nur gute Menschen. Jeder soll so leben, wie es für ihn stimmt». Der Moralist sagt: «Ich bin ein guter Mensch, weil ich keiner von den Bösen bin! Ich bin ein guter Mensch, weil ich Gutes tue.» Pikant daran: Beide Definitionen und die daraus resultierenden Verhaltensweisen können völlig religionsunabhängig gelebt werden, auch als Atheist.
Die biblische Botschaft vom Kreuz hingegen besagt:
- Der Moralist hat schon ein wenig recht, es gibt die Bösen. Doch die ganze Wahrheit lautet: Wir alle gehören zu den Bösen. (Joh 3,19)
- Der Relativist hat auch ein wenig recht, denn es gibt den guten Menschen. Doch die ganze Wahrheit lautet: Keiner von uns ist gut! (Röm 3,12)
- Es gibt nur einen guten Menschen, und der besiegte das Böse durch seinen stellvertretenden Tod für die Menschheit. (2.Kor 5,21)
Das Evangelium der Gnade richtet unseren Blick auf den gekreuzigten Gottessohn und sagt uns: “So verloren wärst du. Und so geliebt bist du.” (Joh 3,16)
Timothy Keller beschreibt in seinem Vortrag über das Evangelium in der Postmoderne sein Umdenken wie folgt:
Ich hielt das Evangelium lange nur für Anfänger-Wahrheiten, die das erforderliche Minimum an Lehre für den Einstieg ins Glaubensleben beschreiben. Theologie, so dachte ich, ist das anspruchsvollere, substanziellere, tiefere, biblische Zeug. Wie falsch ich damit lag!
Alle Theologie muss eine Erläuterung und Darstellung des Evangeliums sein, insbesondere im postmodernen Zeitalter… in dem die Grundlagen der christlichen Weltanschauung weitgehend unbekannt sind. Darum müssen wir in unseren Aussagen jedes Mal zum Herzstück der Sache vordringen, dem Evangelium der Gnade. Timothy Keller, eigene Übersetzung
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