Gemeinde im Mosaik der Kulturen

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Mor­gens in der S‑Bahn – sofern man die Augen schon aufkriegt – wird es offenkundig: Men­schen von unter­schiedlich­ster Herkun­ft leben mit uns zusam­men. Unsere Gesellschaft hat sich so stark diver­si­fiziert, dass sich eine auch nur annäh­ernd homo­gene Zusam­menset­zung fast nir­gends mehr find­et. Wir erleben ein regel­recht­es Mosaik der Kul­turen. Was bedeutet dies für christliche Gemeinden?

Eine Bewe­gung in Deutsch­land zeigt, was in diesem Umfeld entste­hen kann. Vor gut 8 Jahren grün­dete Stephen Beck, ein Dozent an der Freien The­ol­o­gis­chen Hochschule Giessen in Deutsch­land, zusam­men mit eini­gen sein­er Stu­den­ten eine «Gemeinde für andere». In ein­er ersten Zeit erre­icht­en sie nur einzelne Deutsche und Migranten. Dann tauchte ein Afghane auf, der sich kurz zuvor für ein Leben mit Jesus entsch­ieden hat­te. Er lud immer mehr Land­sleute ein. Die Über­set­zungsan­lage, die die Gemeinde zwar wegen ihrer Vision angeschafft hat­te, aber noch nicht nutzen kon­nte, wurde plöt­zlich benötigt. Ein weit­er­er Afghane erzählte, dass er in der Nacht Jesus in einem grossen Licht gese­hen hat­te und von ihm den Auf­trag bekam, in diese Gemeinde zu gehen.

Aus diesen Anfän­gen ent­stand eine richtigge­hende Welle. Mit dem Zus­trom von Flüchtlin­gen im Jahr 2015 taucht­en immer mehr Mus­lime auf, die nach Isa (Jesus) fragten und mit ihm leben woll­ten. In dieser über­raschen­den Sit­u­a­tion musste das Gemein­de­grün­dung­steam seine Arbeit ganz neu über­denken. Es for­mulierte das Konzept der «mono-mul­ti­kul­turellen Gemeinde», die aus­ge­hend von ein­er deutschen Basiskul­tur Men­schen aus anderen Kul­turen Platz bietet. Ver­schiedene der Studieren­den began­nen nach Abschluss ihrer Aus­bil­dung weit­ere Gemein­den mit der­sel­ben DNA zu grün­den. Inner­halb der fol­gen­den Jahre ent­standen so über 15 Gemein­den im Gross­raum Frank­furt, die sich zur soge­nan­nten Mosaik-Bewe­gung zählen. In seinem Buch «Mis­sion Mosaikkirche. Wie Gemein­den sich für Migranten und Flüchtlinge öff­nen» erzählt Stephen Beck diese Geschichte und gibt mehr Hin­ter­gründe, wie diese Gemein­den geprägt sind.


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Die erste kulturell gemischte, christliche Gemeinde

Blenden wir knapp 2000 Jahre zurück. Die Welt, in der die ersten Chris­ten lebten, kan­nte einige Migra­tions­be­we­gun­gen und war kul­turell stark durch­mis­cht. Doch erst in der Grossstadt Anti­ochia kamen Chris­ten, die bere­its über interkul­turelle Erfahrung ver­fügten, auf den Gedanken, das Evan­geli­um über Kul­tur­gren­zen hin­weg zu verkün­den – mit durch­schla­gen­dem Erfolg: Durch die tran­skul­turelle Evan­ge­li­sa­tion wuchs die Gemeinde stark. Die Gemeinde in Jerusalem sandte Barn­abas um dieses Phänomen zu über­prüfen. Dank einem vom Heili­gen Geist geleit­eten Unter­schei­dungsver­mö­gen erkan­nte er die Gnade Gottes in dieser Entwick­lung (Apos­telgeschichte 11,19–26).

Barn­abas und die Gemeinde in Anti­ochia scheinen sich nicht die Frage gestellt zu haben, ob die Migra­tion der Men­schen berechtigt war. Ihr Anliegen war, dass Men­schen mit unter­schiedlichen kul­turellen Hin­ter­grün­den von Jesus hören können.

Die aktuelle Aus­gangslage in unser­er Gesellschaft ist nicht total ver­schieden und es stellt sich dieselbe Frage wie damals: Wie kön­nen christliche Gemein­den mit der kul­turellen Durch­mis­chung umgehen?


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Situation in der Schweiz

Im März 2018 war ich mit Stephen Beck während zwei Tagen in Graubün­den und in der Ostschweiz unter­wegs. An zwei regionalen Aus­tauschtr­e­f­fen liessen sich etwa 50 Leit­er und interkul­turelle Ver­ant­wortliche aus ver­schiede­nen Gemein­den von Stephens Erzählen über die Entste­hung der Mosaik-Bewe­gung begeis­tern. Beson­ders beein­druckt waren sie von Gottes Tim­ing, wie er alles Notwendi­ge bere­it­stellte, bevor mit der Flüchtlingswelle von 2015 viele Men­schen in Deutsch­land ein­trafen, die nicht nur eine neue Heimat, son­dern Gott suchten.

Im anschliessenden Grup­pe­naus­tausch tauchte eine Frage immer wieder auf: Die Schweiz hat von der Flüchtlingswelle nur kleine Aus­läufer mit­bekom­men. Im Jahr 2015 kamen ger­ade ein­mal 10’000 Asyl­suchende mehr als im Vor­jahr. Was wir sehr viel mehr spüren, ist eine langsam steigende Flut – und das schon seit vie­len Jahren. Was kön­nen wir von der Mosaik-Bewe­gung ler­nen, wenn wir nicht auf ein­er Welle sur­fen, son­dern in der steigen­den Flut schwim­men ler­nen müssen?

Schwimmen lernen

In der Schweiz ent­stand bish­er keine Bewe­gung von kul­turell gemis­cht­en Gemein­deneu­grün­dun­gen. In ein paar Regio­nen wur­den interkul­turelle Gottes­di­en­ste ges­tartet, aber es ist noch offen, ob sich aus diesen monatlichen oder vierteljährlichen Ange­boten eigen­ständi­ge Gemein­den entwick­eln werden.

Die zunehmende Zahl von Migran­tinnen und Migranten, die aus christlichem Hin­ter­grund stam­men oder sich neu für den Glauben an Jesus inter­essieren, macht sich in den beste­hen­den freikirch­lichen Gemein­den bemerk­bar. Ein beachtlich­er Teil bietet Pro­gramme für Geflüchtete und andere Ein­wan­der­er an. Auch in den Gottes­di­en­sten tauchen immer mehr Men­schen aus diesen Hin­ter­grün­den auf.

Gelungene Mischung – interkulturell

An eini­gen Orten gelingt es Schweiz­er Gemein­den, Men­schen von sehr unter­schiedlichem Hin­ter­grund zu inte­gri­eren. Die kul­turelle Durch­mis­chung nimmt zu, aber es bilden sich keine Grup­pen oder Hauskreise ander­er Sprache. In ihrer Funk­tion­sweise stellt sich die Gemeinde zwis­chen die Kul­turen, sie ist in diesem Sinn interkul­turell. In der Prax­is bee­in­flussen die Herkun­ft­skul­tur des Leit­ers und die Gastkul­tur die gemein­deeigene Mis­chung am stärksten.

Kulturelle Vielfalt – multikulturell

Andere Gemein­den sprechen geziel­ter Geflüchtete und Migranten aus ein­er oder ein­er kleinen Zahl von Herkun­ft­sre­gio­nen an und kön­nen so spez­i­fis­che Hauskreise oder Gottes­di­en­ste anbi­eten. Es gibt Platz für kul­turelle Vielfalt, die Gemeinde ist in diesem Sinn mul­ti­kul­turell. Bei den gemein­samen Gottes­di­en­sten prägt oft die Gastkul­tur den Rah­men. Die Mosaik-Bewe­gung lebt und propagiert eine Vari­ante dieses Modells.

Den eigenen Weg suchen

Sobald christliche Gemein­den Men­schen ander­er kul­tureller Prä­gung inte­gri­eren, bewe­gen sie sich auf das eine oder andere dieser bei­den Mod­elle zu. Je nach Entwick­lung kann sich der Schw­er­punkt auch ver­schieben. Dabei ist es hil­fre­ich, die Unter­schiede zwis­chen den bei­den Mod­ellen zu ken­nen und die jew­eili­gen Stärken und Her­aus­forderun­gen bei den näch­sten Schrit­ten zu berück­sichti­gen. Interkul­turelle Sen­si­bil­ität und Kom­pe­ten­zen wer­den auf jeden Fall benötigt. Wie diese Dynamiken ablaufen kön­nen, habe ich in anderen Artikeln beschrieben (www.africanlink.ch#literatur).

focusC in Chur

Eines der bei­den oben erwäh­n­ten regionalen Aus­tauschtr­e­f­fen vom Früh­jahr 2018 fand bei focusC (FEG Chur) statt. Schon damals hat­te die Gemeinde einige inter­na­tionale Gottes­di­en­st­be­such­er aus ver­schiede­nen Län­dern. Angeleit­et von Glob­al Focus (www.globalfocus.ch) schärfte die Gemeinde ihre mis­sion­ale Aus­rich­tung, unter anderen auch im interkul­turellen Bere­ich vor Ort.

Inzwis­chen hat die Zahl der Far­si- und Kur­disch-sprechen­den Gottes­di­en­st­be­such­er stark zugenom­men. Somit stellt sich die Frage, welche Gefässe sich für sie am besten eignen. Aktuell beschäftigt das Leitung­steam die Frage, wie Chris­ten mit Migra­tionsh­in­ter­grund in die Leitung der Gemeinde ein­be­zo­gen wer­den kön­nen. Der Gemeinde ist sich bewusst, dass es keine ein­fachen Lösun­gen gibt. Ein entschei­den­der Fak­tor für die Entwick­lung sind genü­gend per­son­elle Ressourcen für den interkul­turellen Bere­ich, die lei­der nicht immer zur Ver­fü­gung stehen.

Auch die Kon­tak­te zu drei inter­na­tionalen Gemein­den (eritreisch, brasil­ian­isch, tamilisch), die in den Räu­men von focusC ihre eige­nen Gottes­di­en­ste feiern, entwick­eln sich weit­er. Kür­zlich wurde ein gemein­samer Tag mit den eritreis­chen Chris­ten zusam­men gefeiert.

Als ein High­light hat focusC im let­zten Jahr das «Per­sis­che Woch­enende» erlebt. Während drei Tagen beherbergte die Gemeinde gläu­bige Pers­er aus der Region Ostschweiz. Die bei­den ersten Tage gal­ten der geistlichen Stärkung und Ermu­ti­gung. Die Gemeinde selb­st erlebte den Son­ntag als den Höhep­unkt. Der Gottes­di­enst mit kurzen Lebens­bericht­en iranis­ch­er Chris­ten hat­te eine nach­haltige Wirkung und hat die Blick­rich­tung viel­er Schweiz­er Chris­ten verändert.

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Perspektiven

Aus heutiger Sicht kann man davon aus­ge­hen, dass die kul­turelle Durch­mis­chung der Schweiz weit­er zunehmen wird. Christliche Gemein­den sind gefordert, sich immer wieder auf die aktuelle Migra­tionssi­t­u­a­tion einzustellen, damit sie in der Gesellschaft mis­sion­al bleiben bzw. wer­den. Entschei­dend wird dabei sein, die bere­its einge­wan­derten Chris­ten einzubeziehen. Dazu gehört es auch, das Poten­zial der Migra­tionskirchen und inter­na­tionalen Gemein­den durch Zusam­me­nar­beit stärk­er zu nutzen.

Eine beson­dere Schlüs­sel­rolle kommt jun­gen Leuten der zweit­en Migra­tions­gen­er­a­tion zu. Sie haben Erfahrung mit dem Schweiz­er Leben und mit der Kul­tur und mit der Herkun­ft­skul­tur ihrer Eltern. Damit sich diese Brück­en­funk­tion ent­fal­ten kann, braucht es ein beson­deres Augen­merk auf diese jun­gen Men­schen. Einige von ihnen fühlen sich in den monokul­turellen Gemein­den ihrer Eltern nicht mehr voll zu Hause fühlen, find­en aber auch nicht ohne Weit­eres in Ange­bote von Schweiz­er Kirchen und Gemein­den hinein. Kul­turell gemis­chte Gemein­den kom­men solchen Bedürfnis­sen am ehesten entgegen.

Mein Wun­sch für die Zukun­ft der Schweiz­er Kirchen­land­schaft ist, dass sich immer mehr Gemein­den für kul­turelle Durch­mis­chung und Vielfalt öff­nen. Sie wer­den einige Her­aus­forderun­gen zu bewälti­gen haben, aber auch echte Bere­icherung und – vor allem – Gottes Gnade wie zu Zeit­en der Apos­telgeschichte erleben.

Seminartag zum Thema mit Johannes Müller

Am Mittwoch 6. Mai 2020 bietet Johannes Müller in Aarau einen Sem­i­nartag über Gemein­deleben im Mosaik der Kul­turen an. Infor­ma­tio­nen und Link zur Anmel­dung: https://interculturel.info/veranstaltung/tagesseminar_einheit_in_vielfalt.

Johannes Müller leit­et African Link (www.africanlink.ch), einen Dienst von «MEOS Interkul­turelle Dien­ste» (www.meos.ch), der mit von Afrikan­ern geleit­eten Gemein­den in der Schweiz arbeit­et. Er gehört auch zum Kern­team der Arbeits­ge­mein­schaft interkul­turell der Schweiz­erischen Evan­ge­lis­chen Allianz (www.interculturel.info).

Neben diesem Artikel empfehlen wir unseren Grund­satzartikel zum kul­turüber­greifend­en Charak­ter der christlichen Kirche sowie unseren Artikel mit per­sön­lichen Bericht­en von Men­schen, wie sie die Schön­heit der mul­ti­kul­tu­rel­len Gemein­de von Jesus erleben.

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Titel­bild: iStock

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