40 Grad Hitze mitten in der Wüste von Djibouti, Ost Afrika. Wir schreiben die 1970-er Jahre. Während epochale Umwälzungen die Weltchristenheit erschüttern, gräbt die 60-jährige Hebamme Marjory Press mit Hand und Schaufel einen Brunnen für einheimische Anbauer. Die nur wenig jüngere Maureen Yates, Dr. der Agronomie, packt ebenfalls an. Was zeigen uns diese Brunnen-Erbauer über die evangelikale Bewegung, die zur Zeit medial scharf kritisiert wird?
Ich habe sie erlebt, diese evangelikalen Christen! Als Kind in Afrika. Sie haben Brunnen gebaut. Ohne Hilfe von schwerem Baugerät, sondern mit Hand und Schaufel. Aus Liebe zu den Menschen, die Hilfe nötig hatten. 10 Monate lang, von Januar 1979 bis Oktober 1979 in der Nähe von Yoboki im ostafrikanischen Djibouti. Die Bevölkerung soll einen gesicherten, ganzjährigen Zugang zu Wasser haben und erstmals sollen in der Region Gemüse und Früchte angebaut werden können. Ich war dabei, als Marjory und Maureen Wasser fanden im ausgetrockneten Boden der Danakil-Wüste, die von Globetrotter als die lebensfeindlichste Wüste der Welt bezeichnet wird. Auch mein Vater war dabei und hatte zusammen mit einheimischen Helfern bei 40 bis 50 Grad Hitze die Schaufel in der Hand.
Doch sind Evangelikale wirklich so wie Marjory, Maureen und mein Vater? Oder sind sie eher so, wie sie in typischen Darstellungen gängiger Medien, Blogs und Podcasts präsentiert werden? Im Zusammenhang mit Trump’s Präsidentschaft in den USA wurden ‘Evangelikale’ in den vergangenen Jahren ja öfter in den Medien thematisiert. Immer wieder im Fokus ist dabei die Kritik, dass viele Evangelikale Trump und dessen Politik unterstützt haben. Freunde von mir, die sich nicht als Christen bezeichnen, schauen sich TV-Reportagen an und suchen mich nachher auf. Sie wollen wissen, ob ich eine menschenfeindliche Religion propagiere. Ganz so offen sagen sie es nicht. Aber ich spüre ihre Fragen: Wer sind Evangelikale? Kann man denen trauen?
Die Frage, wer Evangelikale sind und wie sie agieren hat einen inneren Zusammenhang mit den vorangegangen Artikeln über Ganzheitlichkeit. Die drei Artikel (Teil 1, Teil 2, Teil 3) zeigen, was die Bibel meiner Ansicht nach im Alten, wie auch im Neuen Testament lehrt:
- Christen sind Empfänger von einem unglaublich umfassenden Heilsangebot Gottes in allen Dimensionen des Seins: Geistlich, sozial, politisch, wirtschaftlich und ökologisch.
- Christen sind Beauftragte in denselben Dimensionen den Menschen, der Gesellschaft und ganzen Schöpfung im Sinne Jesu Christi zu dienen.
Ganzheitlichkeit als Auftrag lässt sich auf viele aktuelle Fragestellungen anwenden. Und das ist spannend! Wir werden deshalb in den kommenden Wochen mehrere Artikel zu verschiedensten aktuellen Herausforderungen und zu der Frage, wie wir als Christen ganzheitlich darauf reagieren können, veröffentlichen. Es wird dabei z.B. um Menschenhandel, Kaffee und Nachhaltigkeit gehen. Weil aber die Art, wie das Label ‘evangelikal’ aktuell mancherorts geframed wird, verunsichert, wollen wir mit zwei Artikeln das Framing anhand des Thema’s der Ganzheitlichkeit kritisch hinterfragen. Das Ziel ist mit einem dritten Artikel Christen, denen das wichtig ist, was mit ‘evangelikal’ gemeint ist, neu zu ermutigen, gemeinsam ‘Vollgas zu geben’.
Evangelikale bauen keine Brunnen?
Die Frage, wer Evangelikale sind, ist aktuell sehr heiss. In den letzten Monaten beschäftigte sich Prof. Thorsten Dietz in einer ca. 20 stündigen (!) Reihe von Podcasts mit dem Titel ‘Das Wort und das Fleisch’ auch ausführlich mit der evangelikalen Bewegung. In einer Folge über die grosse ‘Scheidung’ der Evangelikalen von der Ökumenischen Bewegung in den 1960-er und 70-er Jahren beschreibt Dietz seine Sichtweise auf die damalige Trennung und redet dabei auch über Brunnenbau:
Auf der ökumenischen Ebene ist die Idee: Wir brauchen ein anderes Missionsverständnis. Das Heil der Welt ist doch nicht Seelen gewinnen und sonst alles den Bach runtergehen lassen. Das Heil der Welt ist Humanisierung… Man hatte das Gefühl, es gab ja jetzt 200 Jahre Mission für die Seele. Der Schwerpunkt muss jetzt die Humanisierung sein und nicht mehr die Bekehrung… Wir sollten da (nach Afrika) keine Missionare hinschicken, die da Seelen bekehren. Die brauchen Leute, die Brunnen graben… Das ist der wesentliche Trigger für Evangelikale, missionarische Erweckte, dass für sie da klar war: Die Ökumene ist durch und durch antichristlich. Und da sind wir raus. (Dietz zwischen Zeitmarker 47:40 und 49:16, eigene Hervorhebung)
Die Rollen scheinen in dieser Darstellung klar verteilt. Dietz stellt die epochale Scheidung in der Weltchristenheit als Ausdruck eines Konflikts zwischen dem ‘Messianischen Universalismus’ des Ökumenischen Rats der Kirchen ÖRK und eines ‘apokalyptischen Dualismus’ der evangelikalen Bewegung dar. Um die Konzepte zu verstehen, hört man am Besten den Podcast. Was für diesen Artikel wichtig ist, erkläre ich fortlaufend. Dietz beschreibt dann das, was er als typisch für diese beiden Konzepte ansieht. Während er für die Ökumene deren Theologen, Texte und Konferenzen ins Feld führt (Upsala 1968, Missionskonferenz Bangkok 1973), stellt Dietz zur Darlegung der evangelikalen Sichtweise den amerikanischen Autoren Hal Lindsay in den Mittelpunkt, der scheinbar repräsentativ genug sein soll, um die Evangelikalen darzustellen.
Es wird klar, dass Dietz den ‘Messianischen Universalismus’ sehr positiv empfindet und den ‘apokalyptischen Dualismus’ sehr negativ. Nun, mit Nuancen geht es mir ähnlich wie Dietz. Und es stimmt auch, dass Lindsay in evangelikalen Kreisen einflussreich war. Dietz liegt da nicht falsch. Was Dietz nicht sagt ist, dass Lindsey auch in evangelikalen Kreisen eine durchaus kontroverse Figur war. Doch Lindsay passt vielleicht einfach zu gut in ein Narrativ, das die evangelikale Christenheit als Gemeinschaft darstellen will, die weltfremd und lebensfeindlich ist. Tatsächlich sind Lindsay’s Endzeittheorien ein Fiasko in Bezug auf die Bedeutung eines christlichen ganzheitlichen Engagements in der Welt. Die evangelikale Bewegung wird so als krasser Gegensatz zu einer der Welt zugewandten und menschenfreundlichen Ökumene präsentiert.
Nun habe ich zufälligerweise diese von Dietz beschriebene Situation während meiner Kindheit in den 1970-er Jahren in Afrika erlebt. Das sah ein wenig anders aus als das, was Dietz darstellt. Zumindest für EIN afrikanisches Land weiss ich, wer die Brunnen gegraben hat: die 60 jährige evangelikale Pioniermissionarin und Hebamme Marjory Press und ihre durch und durch evangelikale Kollegin, Frau Dr. Agronomie Maureen Yates.
Eine weitere Kindsheitserinnerung habe ich auch: Das wunderschöne Areal der protestantischen Kirche. Ja, auch diese war in der Hauptstadt Djibouti’s präsent. Hinter gut gesicherten Mauern im privilegierten Quartier der Stadt bot der Pfarrer der französichen protestantischen Kirche einer vorwiegend weissen Oberklasse religiöse Dienstleistungen an. Ich erinnere mich deshalb so gut an das herrlich gepflegte und begrünte Areal, weil es mir wie das Paradies auf Erden vorkam im Vergleich zu unserer staubigen Unterkunft im Erdgeschoss eines von Einheimischen bewohnten Mehrfamilienhauses. Unser steter Begleiter war die überforderte Kanalisation, welche in regelmässigen Abständen Fäkalienwasser in die Wohnung spülte. Die einzige Pflanze, die bei uns wachsen konnte, war eine kleine Palme, die wir liebevoll umsorgten.
An das neue ökumenische Prinzip, ‘keine Seelen gewinnen zu wollen’ hielt sich der protestantische Pfarrer jedenfalls. Als meine Eltern erste Bibelteile in eine lokale Stammessprache übersetzt hatten, war sein Interesse (im Unterschied zu den katholischen Missionaren) äusserst gering, bei der Verbreitung mitzuhelfen. Inwiefern er sich ans zweite Motto hielt, dem sozialen Einsatz für die Welt, kann ich nicht beurteilen. Ich will ihm nicht Unrecht tun. Gut möglich, dass Gelder für das eine oder andere Projekt geflossen sind.
Das Kontrastprogramm zur wohlbehüteten protestantischen Enklave in der Hauptstadt war Marjory, die mitten in der Wüste Djibouti’s mit Hand und Schaufel Brunnen grub. Weder sie, noch Maureen oder mein Vater waren am von Dietz erwähnten Kongress des ÖRK von 1973 in Bangkok. Sie waren halt Evangelikale. Doch während die grossen Umwälzungen in der weltweiten Christenheit mit der strukturellen Trennung der ökumenischen von der evangelikalen Bewegung in vollem Gange war, waren die Evangelikalen in Djibouti am Brunnen bauen. Ihr angeblicher ‘apokalyptischer Dualismus’ stand ihnen offenbar nicht sonderlich im Weg.
Könnte es sein, dass die Darstellung der Evangelikalen, wie Thorsten Dietz sie beispielhaft darlegt, zu wenig differenziert und akkurat ist? Warum wird eine einflussreiche, aber kontroverse Einzelfigur wie Hal Lindsay als evangelikales Gegenstück zur ökumenischen Bewegung gewählt? Das natürliche und naheliegende Gegenstück zur ökumenischen Bewegung würde auf der Hand liegen: Die Lausanner Bewegung! Dietz nennt diese Bewegung in der Podcast Serie mehrmals lobend. Zum Beispiel meint Dietz in der spannenden Folge über die Deutsche Evangelische Allianz, dass Lausanne eigentlich eine eigene Folge verdient hätte (ab Zeitmarker 01:03:00). Viel mehr hören wir aber nicht über diese vielfältige und breite Bewegung, die grossen Einfluss auf das evangelikale Verständnis von Ganzheitlichkeit hatte und anhand derer man den Konflikt zwischen Ökumene und Evangelikalen wesentlich fairer hätte beschreiben können als anhand von Hal Lindsay, der das Thema Ganzheitlichkeit voll in den Sand setzt.
Vielleicht holt Dietz diese versäumte Folge nach. In der Zwischenzeit mache ich eine kurze Einführung in die Lausanner Bewegung.
Die Lausanner Bewegung
Neben der älteren ‘Evangelical Alliance’ ist die Lausanner Bewegung eine der grössten Bewegungen evangelikaler Christen in der Welt. Die Lausanner Bewegung ist vermutlich der Hauptplayer in den damaligen Ausdifferenzirungsprozessen zwischen der Ökumene und den Evangelikalen. Im Jahr 1974, also ein Jahr nach der erwähnten Konferenz des ÖRK in Bangkok, hat die Lausanner Bewegung im Rahmen einer eigenen Konferenz betont, dass Christen Wort und Tat zusammen ausleben müssen. In der Lausanner Verpflichtung, welche an der Konferenz verabschiedet wurde, liest man im Paragraph 5 mit dem Übertitel ‘Soziale Verantwortung der Christen’:
Wir bekräftigen, dass Gott zugleich Schöpfer und Richter aller Menschen ist. Wir müssen deshalb Seine Sorge um Gerechtigkeit und Versöhnung in der ganzen menschlichen Gesellschaft teilen. Sie zielt auf die Befreiung der Menschen von jeder Art von Unterdrückung… Wir tun Buße… dafür, dass wir manchmal Evangelisation und soziale Verantwortung als sich gegenseitig ausschließend angesehen haben. (Lausanner Verpflichtung, Abschnitt 5)
Von weltfremdem ‘apokalyptischem Dualismus’ ist hier keine Rede. Die Lausanner Konferenz von 1974 war von spannenden Sub-Gruppen und teils auch kontrovers geführten Diskussionen geprägt. Ein aus meiner Sicht akkurater Beschrieb dieser Konferenz und dem darauf folgenden, globalen Einfluss von Evangelikalen ist Brian Stanley’s The Global Diffusion of Evangelicalism: The Age of Billy Graham and John Stott (2013). Auf jeden Fall ist Lausanne 1974 der Startschuss für einen intensiven innerevangelikalen Dialog über das Verhältnis der geistlichen Dimension zu den anderen Dimensionen. In den kommenden Jahrzehnten werden mitunter ganze Konferenzen der Thematik der sozialen Verantwortung gewidmet.
Wenn man nur das Narrativ von Thorsten Dietz hört, könnte man glauben, dass Evangelikale kein Anliegen für Ganzheitlichkeit hätten. Aber die Lausanner Bewegung zeigt beispielhaft: Evangelikale haben ein äusserst starkes Anliegen für Ganzheitlichkeit! Sicher gibt es evangelikale Christen, die eine Engführung auf die geistliche Dimension leben (gibt es so eine Vernachlässigung der praktisch gelebten Nächstenliebe vielleicht auch unter Christen in anderen Segmenten der Kirche?). Doch die grosse Mitte der Evangelikalen hat meiner Meinung nach stets ein gesundes Gleichgewicht von ‘Wort und Tat’ gesucht, und zwar bis hinein in die ökologische Dimension.
So denkt beispielsweise der einflussreiche evangelikale Vordenker Francis Schaeffer in seinem Buch Polution and the Death of Man bereits 1970 öffentlich über ein radikales christliches Engagement in der Ökologie nach. Der renomierte Theologe Klaus Bockmühl, Dozent auf Chrischona, vertieft Schaeffer’s Arbeit 1975 in Umweltschutz — Lebenserhaltung. Inspiriert von solchen Überlegungen startet 1983 das Ehepaar Miranda und Peter Harris in der portugiesischen Algarve die Umweltorganisation A Rocha, die inzwischen in vielen Ländern agiert. A Rocha war ein für uns Studenten inspirierendes Projekt, als ich Ende der 1990-er Jahre in England evangelikale Missionstheologie studiert habe. Das Vorwort zum Buch über die Gründung von A Rocha (Unter the bright Wings) schreibt der Ur-Evangelikale John Stott, der 2005 vom Time Magazine zu den 100 einflussreichsten Menschen dieser Welt gezählt wurde und vielleicht die prägendendste Figur der Lausanner Bewegung war.
Von Anfang an war es den Gründern der Lausanner Bewegung wichtig, dass Leitungspersönlichkeiten die Bewegung mitprägen, die nicht aus den USA oder aus der westlichen Welt kommen. Damit wollten sie der Gefahr begegnen, dass das Christentum sich zu sehr von westlichen Werten oder von den USA prägen lassen. Sie wollten der Gefahr eines nationalistischen Christentums entgegenwirken — also genau solche Entwicklungen verhindern, die im Zusammenhang mit Trump schief gelaufen sind.
Einer der nicht-westlichen Theologen, welche die Lausanner Bewegung von Anfang an prägte, war René Padilla, den ich in den 90-er Jahren persönlich kennenlernte durch seinen Unterricht am All Nations Christian College. Wie Marjory, Maureen und mein Vater, sieht auch Padilla überhaupt nicht aus wie ein Lindsey-mässiger, weltfremder, apokalyptischer Dualist. Und Man’o’mann, dieser Padilla kannte die Bibel! Er zeigte uns dessen radikale Betonung von Ganzheitlichkeit, was mein Christsein enorm inspiriert hat. Zur Lausanner Konsultation 2004 in Pattaya, an der ich teilnahm, trug Padilla eine gute und lesenswerte Zusammenfassung der Bemühung um Ganzheitlichkeit in der Lausanner Bewegung bei.
Zwischenfazit
Die meisten, die über die damaligen Entwicklungen zwischen dem ÖRK den Evangelikalen schreiben, gehen im Gegensatz zu Dietz ausführlich auf Lausanne ein, welches das natürliche Gegenstück zur damaligen ökumenischen Bewegung bildet. Warum wählt Thorsten Dietz, einen Hal Lindsay aus? Es ist ja nicht so, dass er Lausanne nicht kennen würde. Einzelne positive, über die lange Podcastreihe verstreute Randbemerkungen machen klar, dass er um die sozialen Anliegen dieser Bewegung weiss. Doch die deutliche Betonung von sozialer Gerechtigkeit in der Lausanner Bewegung würde Dietz zwingen, ein grundsätzlich anderes Bild der evangelikalen Bewegung zu zeichnen. Daran scheint er aber kein Interesse zu haben. Eine kontroverse Einzelfigur wie Hal Lindsay passt da besser. Und was auch immer die Gründe sind für diese bewusste Wahl, die Wirkung scheint mir klar: Die evangelikale Bewegung kommt als eine an dieser Welt desinteressierte, von apokalyptischen Wahnvorstellungen geprägte Bewegung rüber. Die implizite Botschaft ist klar: ‘Evangelikale bauen keine Brunnen, denn sie warten auf das Ende der Welt’.
Die evangelikale Gemeinschaft hat sich aus der Perspektive von Thorsten Dietz von einer Hal Lindsay ‘Matrix’ indoktrinieren zu lassen: “bei allem, was geschieht, weisst du, wo du Alarm rufen musst” (ab Zeitmarker 1:02:00). In einer weiterführenden Blog-Reihe auf der Reflab Plattform der Reformierten Kirche im Kanton Zürich beschreibt er aus seiner Sicht weitere Merkmale evangelikaler Gemeinschaften. Unter anderem stellt er im Blog-Artikel Segen und Fluch fest: “Das Phänomen des Evangelikalismus lässt wenig Raum für wohltemperierte Neutralität”. Anschliessend wird anhand von Orwell’s Analyse von Nationalismus (interessante Wahl — 1984 klingt bei mir implizit mit!) beschrieben, welche… naja… nationalistischen Tendenzen evangelikale Gemeinschaften angeblich haben. Des Weiteren heisst es: “Nichtevangelikale Kirchen legen häufig großen Wert darauf, Menschen nicht zu indoktrinieren” Eine wirklich interessante Wortwahl. Das tendenziöse Wort ‘Indoktrination’ wird subtil als Marker evangelikaler Gemeinden eingebracht. Und ich will nicht einmal sagen, dass dies nie der Fall ist. Aber das Framing finde ich schon bemerkenswert. Vielleicht hat Dietz auf seiner Reise durch die Kirchen Deutschlands immer die falschen Gemeinden erwischt?
Noch ein letztes Beispiel aus dem Artikel: “In der problematischen Form der Gemeinschaft schafft man sich eine eigene Wirklichkeit. Um diese Realität aufrecht zu erhalten, muss sie beständig verteidigt werden gegen alles, was sie in Frage stellen könnte” Nach so einem Satz traut sich keiner mehr, die gemachten Aussagen zu hinterfragen — man könnte ja Teil einer Gruppe sein, die sich nach aussen verteidigt und damit sogleich auch Dietz’ Feststellung belegen, dass man zu einer ’nationalistischen und indoktrinierenden’ evangelikalen Gemeinschaft gehört. Doch ist sich Dietz sicher, dass es bei progressiv-liberalen Gemeinschaften keine Indoktrination und keine Verteidigung gibt? Bei Worthaus habe ich jedenfalls so manche Polemik gehört, die ich durchaus als indoktrinierend und abschottend gegen Kritik empfinde.
Letztlich vermittelt auch Thorsten Dietz eine Doktrin, die eine neue Matrix in den Köpfen der Leser bilden will: Wenn du auf diese Art von (evangelikaler) Gemeinschaft triffst, sollst du so und so denken über sie. Anstatt Lehre/Doktrin an sich anzukreiden, wäre es ehrlicher zuzugeben, dass Lehre/Doktrin in allen Gemeinschaften stattfindet und dass wir dabei die Zuhörer ermutigen sollten, das Gehörte selbst zu prüfen.
Wer hat recht in seiner Darstellung der Evangelikalen? Das aktuell beliebte Framing der evangelikalen Bewegung scheint mir nicht repräsentativ und sogar regelrecht unfair angesichts der evangelikalen Brunnenbauer von Djibouti und Exponenten wie René Padilla. Gerne würde ich jetzt mit Thorsten Dietz zusammensitzen, bei einem feinen Bier die Argumente austauschen auf der Suche nach einer ausgewogenen Darstellung der Evangelikalen, des ÖRK und der jeweiligen Stärken und Schwächen. Vielleicht könnten wir gemeinsam eine ausgewogenere Darstellung entwickeln als diese typische, aktuell häufig anzutreffende Lesart der Evangelikalen, die dadurch, dass man sie stetig wiederholt, nicht wahrer wird.
In 2 weiteren Artikeln werde ich ein weiteres aktuelles Darstellungs-Beispiel dokumentieren und eine positive Zukunfts-Vision für eine gesunde evangelikale Bewegung besprechen.
Vielfältig gesegnet und inspiriert
Zum Schluss dieses Artikels möchte ich gerne betonen, wie viel Segen ich persönlich durch Christen evangelikaler Prägung empfangen durfte. Sie sind in vielen ‘Varianten und Schattierungen’ in mein Leben gekommen, aber sie haben alle etwas von Gott in mein Leben fliessen lassen.
Da ist Woody aus einer englischen Baptisten Gemeinde und seine Frau Solange aus einer Pfingstgemeinde in Brasilien, mit denen ich viel lachen durfte. Oder Martin aus einer Chrischona Gemeinde in der Nähe, der mein bester Freund geworden ist. Ueli, der noch immer in meiner ‘alten’ Gemeinde dient, zeigt mir, was Treue ist. Andreas, ein Missionar aus Kenia, ist mein leitender Pastor geworden und ein geistlicher Vater. Noldi aus der konservativen Brüdergemeide hat mich während meinem ersten Studium bei sich wohnen lassen. Es war keine Minute langweilig um ihn herum, weil er so viele spannende Sachen zu besprechen hatte! Chris, mein anglikanischer Professor hat Liebe für das Alte Testament in mich gelegt. Mein afrikanischer Freund Diji hat als Christ Verfolgung erlebt, aber er strahlt übers ganze Gesicht, wenn er mir begegnet. Lesley hat ihren Mann im Rwandischen Genozid verloren und lehrte uns Studenten, was Vergebung und Versöhnung zwischen verfeindeten Ethnien bedeutet. Penny, die in meinem Team in Frauenfeld gedient hat, musste als Kind ihre Heimat wegen politischer Unruhen fluchtartig verlassen. Ihre Hingabe an internationale Menschen ist ansteckend. Michi und Susanna aus Frauenfeld haben stets ihr Haus und ihre Herzen für mich geöffnet. Die Liste ist zu lange. Ich kann sie nicht zu Ende führen, ohne meine Leser zu langweilen! Aber zum Schluss muss ich sie noch erwähnen: meine Eltern.
Durch meine Eltern ist so viel Schönheit und Inspiration in mein Leben geflossen! Beide wurden Missionare im Nahen Osten und in Ostafrika, wo sie ein Abenteuer nach dem anderen erlebten. Ihr Leben ist erfüllt von Leidenschaft, anderen Menschen von Jesus zu erzählen und ihnen zu dienen. Wie oft habe ich gesehen, wie meine Eltern sich ganz und gar auf die gleiche Ebene der Menschen stellten, die in ihrem Umfeld lebten! Sie haben Seite an Seite mit Einheimischen die Brunnen gegraben. Sie waren jederzeit bereit, harte und schmutzige Arbeit zu machen, welche anderen Menschen zugute kam. Ihr christliches Zeugnis war stets eines von Wort und Tat.
Solange ich in der praktischen Umsetzung sehe, dass Evangelikale in Demut bereit sind, ganzheitlich zu dienen, bekenne ich mich gerne zu dieser Bewegung — egal ob sie mit dem Label ‘evangelikal’ referenziert wird oder einem anderen Wort. Wie jede Bewegung sind auch die Evangelikalen nicht vor Fehlentwicklungen gefeit. Die Vorbilder von Marjory, Maureen und meinen Eltern können uns ermutigen und ermahnen, unser Leben neu auf Gott und seine Vision für die Menschen auszurichten. Ich lade Christen aller Schattierung und Herkunft ein, am Schein der Medien und der irreführenden Narrativen vorbei zu schauen und mit einzusteigen in das christliche Abenteuer, Jesu ganzheitliches Heil zu empfangen und weiterzugeben!
Gute Ausführung. Frage:
Wer ist das Zielpublikum?
Welches ist/wäre deine Kurzdefinition von evangelikal?
Danke Wolfgang! Wer ist das Zielpublikum: GUTE FRAGE! Ist mir selbst nicht 100% klar. Normalerweise würde ich solch einen Text nicht so öffentlich laufen lassen. Das Problem ist, dass die Medien dieser Art von Fragen öffentlich breitmachen. Und ich erlebe wie Leute, die in unsere Seminare kommen, diese Art von Fragen stellen. Darum habe ich mich entschieden, öffentlich darüber zu reden. Primär ist der Text an Christen gerichtet, die sich diesen Fragen stellen. Er sollte so formuliert sein, dass auch Menschen, die sich nicht als Christen bezeichnen, profitieren können in dem Sinne, dass sie unsere innerchristlichen Auseinandersetzungen ehrlich mitbekommen.
In einem anderen Artikel gebe ich eine kurze Definition von ‘evangelikal’: https://danieloption.ch/featured/die-evangelikalen-post-evangelikalen
Hier der Ausschnitt:
“Was ist evangelikal? Es ist das Bemühen um historisches Christentum… um das zentrale Christstein. Ich glaube die evangelikale Bewegung hat im innersten Impuls dieses Bemühen, das in den Kern zu stellen… also historisch orthodox an Jesus Christus zu glauben.… Und das merkt man heute in Dialogbemühungen, dass oft gerade an dieser Kernsubstanz des Glaubens die Evangelikalen sehr gut anschlussfähig sind zu den orthodoxen, katholischen und alt-orientalischen Kirchen.” (Roland Werner, Auszüge Was ist evangelikal? 3/3 zwischen Zeitmarker 0:30 und 2:30)
Es lohnt sehr, 20 Minuten einzusetzen, um diesen Podcast zu hören, denn Werner schafft es in wenigen Minuten, die wesentlichen Dinge auf den Punkt zu bringen: Evangelikalen Christen ist die persönliche Hinwendung zu Jesus wichtig, die Bibel, die Verkündigung des Evangeliums, soziales Engagement, Weltverantwortung sowie Vernetzung über die Grenzen der eigenen Kirche und des eigenen Verbandes hinaus mit anderen Christen, die sich auch um den Kern des historischen Christentums bemühen.
Lieber Paul,
vielen Dank für den guten Artikel / bzw. die 3 Artikel … — ich werde ihn gleich mal pushen in meinem Blog!
Vielleicht noch eine kleine Korrektur: “da draußen” (in Afrika und weltweit) sind ein Haufen evangelikaler Dispensationalisten, die genauso wie Deine berechtigten Vorbilder u.a. auch damit beschäftigt sind “Brunnen zu graben” … — Hal Lindsay ist / war auch in disp. Kreisen eine exzentrische, schillernde Figur / gewesen!
Und im Übrigen ist das eben auch 50 Jahre her (“Alter Planet Erde wohin …”). Es wäre für Thorsten Diez daher nur fair, wenn er zeigen könnte, dass heutige evangelikale Missionare (die einer disp. Theologie folgen), kein Interesse an der Situation vor Ort haben … — auch Du solltest nicht in seine Falle tappen!
Wir haben Dank Corona aktuell wieder viel mehr Kontakt in Gebetsreffen im zoom mit ca. 10 befreundeten Missionaren weltweit: nahezu alle sind mehr oder weniger “Dispis” und nahezu alle sind neben ihrem missionarischen Eifer für das “Seelenheil” (ja, dass ist der Schwerpunkt) auch — zeitlich gesehen sicher gleichermaßen — in sozialen Projekten engagiert:
* ein Sprachkurs in Paris mit Westafrikanern,
* eine Krankenstation im Senegal,
* ein Comuperkurs in Niger,
* eine Kleiderkammer in Spanien,
* ein Kindertreff in Rumänien,
* eine Knastarbeit / Frauenhaus in Zentralasien,
* ein Lingustikprogramm in Papua N.,
* eine Essensausgabe im Flüchtlingcamp in Griechenland,
* eine Erdbebenhilfe in Kroatien, usw.
Nur zwei von zehn Miss. in Nord- und Südamerika sind tatsächlich v.a. mit der Ausbildung von Bibelschülern beschäftigt … — aber das ist hoffentlich auch noch erlaubt …?
😉
In Christus
Uwe
Pappkameraden kann man immer leicht abschießen. Und wenn wir uns einig sind, dsass TD den Hal L. als soclhen aufgebaut hat, dann sollten wir es dabei belassen …
Danke Uwe — super Ergänzungen! Ich sehe es ähnlich, auch einige unserer Leute waren/sind solche Dispis. Persönlich bin ich da kritischer, weil der Dispensationalismus von der theologischen Tendenz her das ganzheitliche Engagement nicht theologisch begründet. Wobei es viele Varianten gibt des Dispensationalismus. Auch da muss man differenziert sein. Mich dünkt, dass Menschen, die Jesus kennen, ein stückweit ‘einfach so’ sich sozial kümmern — egal was ihre Theologie ist. Wenn die Liebe Jesu ein Leben ergreift, wird man aktiv, egal was die Theologie ist. Doch die Theologie stimmt idealerweise überein. Und schlechte Theologie kann schon durchaus hinderlich bis sehr hinderlich sein. Yep, ich will nicht in dieselbe Falle tappen!
Wichtig wäre mir noch zu sagen: Ganzheitlichkeit gibt es NUR dann, wenn AUCH die geistliche Dimension drin ist: also predigen, lehren, zu Busse und Bekehrung aufrufen. Wehe mal lässt das weg — man ist dann nicht mehr ganzheitlich.
Lieber Paul. Herzlichen Dank für diesen Artikel! Sehr gut auf den Punkt gebracht. Mein Onkel macht heute noch — mit über 80 Jahren — Hilftransporte nach Bulgarien und versorgt die Menschen dort gleichzeitig als Evangelist mit der besten Botschaft der Welt. Dasselbe ganzheitliche Engagement haben auch meine Eltern gelebt und leben es noch immer. Und das ovwohl meine Eltern zeitweise stark beeindruckt waren von Hal Lindsay und in einer starken Naherwartung lebten. Es hat sie jedoch keinesfalls in eine Weltfremdheit getrieben, sondern viel mehr in eine Hingabe in den ganzheitlichen Dienst an den Nächsten. Geprägt von dieser Art eines ganzheitlichen Glaubens — dass man ihn als vangelikal bezeichnet habe ich erst viele Jahre später erfahren — ging ich in den Gemeindedienst als Pastor. Und ja, an manchen Stellen musste ich tatsächlich Evangelikale überzeugen, dass sozialdiakonisches Engagement kein minderwertiges Engagement ist, aber es war nicht sonderlich schwer.
Habe die Podcastfolgen von Dietz nicht gehört. Aber meine Auseinandersetzung mit der Geschichte des interreligiösen Dialogs haben mich auch in die Jahrzehnte geführt, in welchen es zur Trennung zwischen Evangelikalen und Ökumene gekommen ist. Wahres Problem für die Evangelikalen war letztlich nicht einfach die Frage des sozialen Engagements, sondern die deutlich sichtbar gewordenen relativistischen und synkretistischen Entwicklungen in der Ökumene, die den eigentlichen Hintergrund der Akzentverschiebung darstellen. Wenn man heute die Augen aufmacht, dann sieht man, dass die Vertreter der Lausanner Bewegung in weiser Voraussicht gesprochen und gehandelt haben.
Natürlich ist eine Betrachtung aus dem Blickwinkel dieser Erfahrungen auch nicht vollkommen ausgewogen. Kürzlich stiess ein rund 60jähriger nach Gott suchender Amerikaner zu unserer Gemeinde. In einem Gespräch versuchte ich unsere Gemeinde etwas in der religiösen Landschaft einzuordnen und benutzte den Begriff “evangelical”. Er schaute mich mit grossen Augen an und sagte: “No! You are not evangelical! Definitly not! I lived for many years in Texas and I know evangelical churches. It’s something total different from this church”.
Danke für deinen Kommentar Daniel. SPANNEND was du da alles erzählst! Spannend von deinem Vater. Was du über den interreligiösen Dialog sagst, sehe ich wie du auch 👍. Besonders interessant ist, was du über den amerikanischen Besucher erzählst. Ob sie ‘über dem Teich’ unter ‘evangelical’ doch etwas ziemlich andersartiges laufen haben?
Lieber Paul. Starker und wichtiger Artikel. Ich habe das ganz ähnlich erlebt, auch wenn ich die negativen Auswirkungen des Dispensationalismus auch kennen gelernt habe. Heute begegne ich dieser Theologie nur noch selten. Wir werden in unserem SEA-Fokus (Erscheint im Juni 2021) über ganzheitliche Mission schreiben. Wir sind der Meinung, dass im Netzwerk der SEA schon lange ganzheitlich gedacht und gehandelt wird. Ganz im Sinne von Lausanne.
Übrigens: Miroslav Volf legt im Buch “Zusammen wachsen” dar, dass man auch US-Evangelikalen keineswegs Indoktrination vorwerfen kann. Im Gegenteil. Viele Leitende ermutigen zum selbständigen Denken (und Wählen).
Aber wenn man will, findet man natürlich immer einen Pappenheimer, der seine eigenen Vorurteile bestätigt. Aus diesem Grund verstehen ich auch nicht, warum Worthaus und RefLab so ausführlich über “uns” schreiben und reden, aber kaum mit uns. Ich empfinde vieles von dem beiden Quellen als Karikatur (vielleicht, weil ich gerade aus der StopArmut-Konferenz komme :-)) Da wird die Deutsche Evangelische Allianz portraitiert, ohne dass erwähnt wird, dass eine Hauptquelle mit der man sie kritisiert, im Auftrag der DEA verfasst wurde. Faire Berichterstattung sieht anders aus.
Danke Andi für deinen Kommentar. Ich habe auch von der Betonung von Ganzheitlichkeit der SEA gehört und mich SEHR gefreut! Volf: spannend! Erfrischend und differenziert. Kannst du grad einen Teil des Buches nennen, wo er das rüberbringt?
Und ich staune mit grossem Respekt über die unzähligen — inzwischen grossen — sozialen Einrichtungen, die oft vor vielen Jahren in bescheidensten, vielleicht sogar mitleidig belächelten Anfängen ihre ersten leidenschaftlichen Schritte von beherzten frommen Menschen gesehen hatten. Und heute, wenn man diese alle wegdenken würde? Was bliebe in unserer Gesellschaft alles liegen? Wieviel Not (sozial, materiell, seelisch) würde plötzlich krass sichtbar werden? Ich bin tief berührt von all diesem Engagement aus Liebe zu Menschen, zur Schöpfung, zur Gesellschaft.
Danke Viktor — genau so sehe ich es auch. Ich bin echt hin und weg über den Dienst, den Christen zu allen Zeiten an der Gesellschaft und Schöpfung geleistet haben!
Lieber Paul, vielen Dank für den Artikel. Sehr hilfreich und notwendig. Mit Hal Lindsay werden letztlich ja auch nur die negativen Früchte des dispensationalistischen Prämillenialismus kritisiert. Dass viele Dispies viel besser sind, als ihr theologisches System, liegt auf der Hand. Geht man in die USA, sind es auch dort die evangelikalen Kirchen, die sich mit viel Elan in ganz verschiedenen Bereichen sozial engagieren. Ausserdem zeigt auch die Kirchen- und Missionsgeschichte vergangener Jahrhunderte (z.B. Methodismus) überdeutlich, dass bibeltreue Christen und Kirchen sich in Bereichen der Bildung, Krankenpflege, Altersfürsorge, Behindertenpflege, Entwicklungshilfe, sozialen Reformen uvm eingesetzt haben.
Genau! Danke dass du den Artikel gelesen und kommentiert hast! Kannst gerne auch mal einen schreiben ✍️