Dynamik durch Spannung

Lesezeit: 5 Minuten
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by Emanuel Hunziker | 08. Mrz. 2020 | 0 comments

Die Kirche gedei­ht im Span­nungs­feld von ver­meintlich gegen­sät­zlichen Aus­sagen. Der Ver­such, diese Span­nungs­felder aufzulösen endet unweiger­lich in der Erstar­rung und Kraft­losigkeit. Kön­nte es sein, dass der Kirche im 21. Jahrhun­dert zunehmend der Wille abhan­den kommt, inmit­ten dieser Span­nungs­felder zu leben?

Die Bibel zeich­net wed­er ein rein «lib­erales» noch ein rein «kon­ser­v­a­tives» Bild der Kirche, son­dern definiert auf bei­den Seit­en wie im «Mit­telfeld» essen­tielle Fix­punk­te, die untere­inan­der dynamis­che Span­nungs­felder erzeu­gen. Ich glaube, dass Jesus das Wesen sein­er Kir­che absichtlich so dyna­misch und span­nungs­ge­la­den schauf, damit sie sich nie in ein­er Gesell­schafts­form auflöst  oder von ihr ver­schluckt und für ihre Zwecke miss­braucht wird. In diesem Sinne gedei­ht die Kirche in vie­len Span­nungs­feldern, die durch eine sys­tem­a­tisch-the­ol­o­gis­che Betra­ch­tung der Bibel erkennbar wer­den. Sie ist gle­ichzeit­ig

  • Uni­ver­sal und lokal
  • Sicht­bar und unsichtbar
  • Schwach und triumphierend
  • Organ­is­mus und Institution
  • In der Welt und nicht von der Welt
  • Rel­e­vant und unpopulär
  • Verän­dert sich und zeit­los gleich
  • Kor­rek­turbere­it und prophetisch korrigierend
  • Predi­gend und sozial dienend
  • Begleit­et und konfrontierend
  • Lokal ver­wurzelt und transkulturell
  • Tol­er­ant und erhebt Wahrheitsanspruch

Im Span­nungs­feld dieser Pole ent­fal­tet sich die zeit­lose Dynamik der Kirche. Bei­de Pole sind jew­eils grund­sät­zlich gute Werte, die im Evan­geli­um wurzeln und in ihrer Kom­bi­na­tion eine kraftvolle Span­nung erzeu­gen, welche das Wesen der Kirche so einzi­gar­tig macht. Um die pos­i­tive Kraft dieser Span­nungs­felder zu nutzen, müssen wir bei­de Pole voll­ständig in unser Ver­ständ­nis von Kirche integrieren.

Wenn wir uns nur auf einen Pol fes­tle­gen und den Gegen­pol loslassen, löst sich die Span­nung auf und die Schwungkraft ist dahin. Es gilt also, diese von Gott gewoll­ten pos­i­tiv­en Span­nungs­felder zu begrüssen, sie zu umar­men und bewusst aufrecht zu erhal­ten. Die Chris­ten der frühen Kirche lern­ten mit diesen Span­nungs­feldern und ihrer Dynamik zu arbeit­en, anstatt gegen sie anzukämpfen oder sie gar auflösen zu wollen. So waren die ersten Chris­ten beispiel­sweise wed­er nur poli­tisch rechts, noch auss­chliesslich poli­tisch links, son­dern lebten eine einzi­gar­tige Werte-Kom­bi­na­tion.

Kön­nte es sein, dass der heuti­gen Kirche die Fähigkeit abhan­den gekom­men ist, die pos­i­tive Kraft dieser Span­nungs­felder zu nutzen? Wenn ja, was kön­nten Gründe dafür sein?


Bild: unsplash

Grund 1: Ein existenzialistisches Verständnis der Kirche 

Durch die all­ge­meine Wand­lung der west­lichen Kul­tur hin zu ein­er post­mod­er­nen Ori­en­tierung, wird laut Mil­lard J. Erick­son (Chris­t­ian The­ol­o­gy, S. 950–954) in den meis­ten the­ol­o­gis­chen Abhand­lun­gen zum The­ma Kirche zunehmend über deren prak­tis­chen Aspek­te geschrieben: Was die Kirche tun muss, um den rapi­den sozialen Verän­derun­gen zu begeg­nen und wie sie in ein­er säku­laren Gesellschaft ihren Ein­fluss gel­tend machen kann? Der Fokus wird mehr auf das Umfeld der Kirche, als auf die essen­tiellen Wesen­szüge der Kirche selb­st gelegt. Wie wertvoll diese Ein­sicht­en über das kirch­liche Umfeld auch sein mögen, sie müssen durch ein the­ol­o­gis­ches Ver­ständ­nis des Wesens der Kirche gelenkt wer­den und in Bezug zu ihr stehen.

Das 21. Jahrhun­dert mit sein­er weit ver­bre­it­eten Aver­sion gegen Philoso­phie, so Erick­son, ist viel weniger an der the­o­retis­chen Natur von Din­gen inter­essiert als an deren konkreten his­torischen Man­i­fes­ta­tio­nen. Demzu­folge ist die mod­erne The­olo­gie weniger an der Essenz der Kirche inter­essiert – was sie anhand der Bibel „wirk­lich ist“ oder „sein sollte“ – als an ihrer momen­ta­nen Exis­tenz, was sie konkret ist oder effek­tiv am wer­den ist. Diese Ver­lagerung in der Beto­nung ist charak­ter­is­tisch für die Art und Weise, wie die ganze Welt gese­hen wird: Eher im Wan­del als festgesetzt.

Dieses «im Wan­del» hat laut Erick­son u.a. auch damit zu tun, dass wir von ein­er druck­o­ri­en­tierten zu ein­er sprech- und höror­i­en­tierten Kul­tur gewech­selt haben. Erstere neigt dazu starr zu bleiben, let­ztere ist ten­den­ziell dynamisch und sich verän­dernd oder wach­send. Ver­gle­ich­bar wird auch die Kirche als dynamisch ange­se­hen: Ihre Exis­tenz hat Vor­rang vor ihrer Essenz – eine klar exis­ten­zial­is­tis­che Inter­pre­ta­tion. Die Kirche wird als ein Ereig­nis gese­hen, als ein Pro­jekt, und nicht als ein bere­its vol­len­detes, ver­wirk­licht­es Dasein.


Bild: unsplash

Grund 2: Plausibilitätsverlust – Was können wir wissen?

Zuerst etwas zur Begriffs­de­f­i­n­i­tion der Moderne:

Zahllose Büch­er schreiben, dass wir heute in ein­er post­mod­er­nen Kul­tur leben… Doch streng genom­men ist es ver­mut­lich eher ange­bracht, von einem spät­mod­er­nen Kli­ma zu sprechen, denn das Haupt­prinzip der Mod­erne war die Frei­heit und Autonomie des Indi­vidu­ums gegenüber Ansprüchen von Tra­di­tion, Reli­gion, Fam­i­lie und Gemein­schaft. Dies haben wir heute in ver­stärk­ter Form. – Tim Keller, Cen­ter Church (deutsche Aus­gabe) S. 353

In der vor­mod­er­nen Gesellschaft gab es laut Peter L. Berg­er (Der Zwang zur Häre­sie, S. 14–44) kaum Wahlmöglichkeit­en: Reli­gion, Beruf, Klei­dung usw. waren vorgegeben, nichts war mehrdeutig. Die Gesellschaft war stark tra­di­tionell und Insti­tu­tio­nen, sprich Pro­gramme für men­schlich­es Ver­hal­ten, wur­den als gegeben und sich­er angesehen.

Doch was damals Schick­sal war, wurde in der mod­er­nen Welt zur Wahlmöglichkeit. Wo es früher ein bis zwei plau­si­ble men­schliche Ver­hal­tensweisen zur Auswahl gab, sind es heute dutzende. In der Vor­mod­erne waren z.B. sex­uelle Beziehun­gen tra­di­tionell streng und eng definiert. Heute kann die Sex­u­al­ität als Are­na indi­vidu­eller Wahlmöglichkeit­en bis hin zur Geschlecht­sumwand­lung erfahren werden.

Indem die Mod­erne das Indi­vidu­um von den Ansprüchen von Tra­di­tion, Reli­gion, Fam­i­lie und Gemein­schaft zu befreien sucht, wer­den die moralis­chen Glaubens- und Wertvorstel­lun­gen bis zum Plau­si­bil­itätsver­lust erschüt­tert. Als soziales Wesen braucht der Men­sch trotz­dem nach wie vor soziale Absicherung für seinen Glauben an die Real­ität, so Berg­er, mit Aus­nahme von ganz per­sön­lichen Bere­ichen wie, z.B. Schmerzen am eige­nen Kör­p­er. Die mod­erne Gesellschaft beste­ht jedoch zunehmend aus insta­bilen, nicht zusam­men­hän­gen­den und unzu­ver­läs­si­gen Plau­si­bil­itätsstruk­turen, wodurch moralis­che Sicher­heit schw­er zu erlan­gen ist. Das führte zur für die Moder­nität charak­ter­is­tis­chen Glaubenskrise.

Der mod­erne Men­sch in der west­lichen Welt muss ständig wählen: von Kon­sumwaren über Lebensstil bis hin zu Weltan­schau­un­gen, sowie Glaubens- und Wertvorstel­lun­gen. Wer notge­drun­gen ständig reflek­tieren und nach­denken muss, wen­det seine Aufmerk­samkeit zwangsläu­fig von der objek­tiv gegebe­nen Aussen­welt sein­er sub­jek­tiv­en Innen­welt zu. Dadurch wird die Aussen­welt immer frag­würdi­ger und die Innen­welt immer kom­plex­er. Die Moder­nität erschuf somit Umstände, in denen wir uns ständig die Frage stellen: „Was kön­nen wir denn eigentlich wis­sen?“ Soweit Berg­er.


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Die Dynamik der Kirche zurückgewinnen

Die bei­den genan­nten Gründe stellen die Kirche vor ernst zu nehmende Her­aus­forderun­gen. Sie kön­nen dazu ver­leit­en, sich vorschnell für jew­eils einen der bei­den Span­nungs-Pole zu entschei­den, um dadurch eine ver­lässliche Plau­si­bil­itätsstruk­tur für unseren Glauben an die Real­ität zu schaf­fen. Kurzfristig mag uns das ein Gefühl der Sicher­heit ver­mit­teln. Langfristig bezahlen wir einen grossen Preis dafür: Wir ver­lieren die pos­i­tive Kraft der göt­tlichen Span­nungs­felder und enden in ein­er star­ren und bewe­gungslosen Kirche ohne Schwungkraft und Dynamik.

Ich glaube, wir soll­ten uns deshalb wieder ver­mehrt auf die von Gott gegebene Essenz sein­er Kirche besin­nen. Will heis­sen: Die Plau­si­bil­ität unser­er moralis­chen Glaubens- und Wertvorstel­lun­gen muss kom­pro­miss­los vom Evan­geli­um abgeleit­et sein. Alle anderen Plau­si­bil­itätsstruk­turen wer­den dem Test der Zeit nicht stand­hal­ten kön­nen. Die west­liche Gesellschaft empfind­et die Kirche zunehmend als irrel­e­vantes Relikt aus ein­er vor­mod­er­nen Welt. Doch das hat auch sein Gutes: Wir wer­den regel­recht dazu gezwun­gen, jegliche Stützräder zu ent­fer­nen und uns ganz auf das Gle­ichgewicht­sor­gan des Evan­geli­ums zu ver­lassen. Es gibt ja mit­tler­weile Beze­ich­nun­gen wie “Evan­geli­ums-zen­tri­erte” Kirche, wom­it nichts anderes gemeint ist, als das kom­pro­miss­lose Zurück­kehren der Kirche zu ihrer von Gott gegebe­nen Essenz.

Alle The­olo­gie muss eine Erläuterung und Darstel­lung des Evan­geli­ums sein, ins­beson­dere im post­mod­er­nen Zeital­ter… in dem die Grund­la­gen der christlichen Weltan­schau­ung weit­ge­hend unbekan­nt sind. Darum müssen wir in unseren Aus­sagen jedes Mal zum Herzstück der Sache vor­drin­gen, dem Evan­geli­um der Gnade. – Tim­o­thy Keller, eigene Übersetzung

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