Die Kirche gedeiht im Spannungsfeld von vermeintlich gegensätzlichen Aussagen. Der Versuch, diese Spannungsfelder aufzulösen endet unweigerlich in der Erstarrung und Kraftlosigkeit. Könnte es sein, dass der Kirche im 21. Jahrhundert zunehmend der Wille abhanden kommt, inmitten dieser Spannungsfelder zu leben?
Die Bibel zeichnet weder ein rein «liberales» noch ein rein «konservatives» Bild der Kirche, sondern definiert auf beiden Seiten wie im «Mittelfeld» essentielle Fixpunkte, die untereinander dynamische Spannungsfelder erzeugen. Ich glaube, dass Jesus das Wesen seiner Kirche absichtlich so dynamisch und spannungsgeladen schauf, damit sie sich nie in einer Gesellschaftsform auflöst oder von ihr verschluckt und für ihre Zwecke missbraucht wird. In diesem Sinne gedeiht die Kirche in vielen Spannungsfeldern, die durch eine systematisch-theologische Betrachtung der Bibel erkennbar werden. Sie ist gleichzeitig
- Universal und lokal
- Sichtbar und unsichtbar
- Schwach und triumphierend
- Organismus und Institution
- In der Welt und nicht von der Welt
- Relevant und unpopulär
- Verändert sich und zeitlos gleich
- Korrekturbereit und prophetisch korrigierend
- Predigend und sozial dienend
- Begleitet und konfrontierend
- Lokal verwurzelt und transkulturell
- Tolerant und erhebt Wahrheitsanspruch
Im Spannungsfeld dieser Pole entfaltet sich die zeitlose Dynamik der Kirche. Beide Pole sind jeweils grundsätzlich gute Werte, die im Evangelium wurzeln und in ihrer Kombination eine kraftvolle Spannung erzeugen, welche das Wesen der Kirche so einzigartig macht. Um die positive Kraft dieser Spannungsfelder zu nutzen, müssen wir beide Pole vollständig in unser Verständnis von Kirche integrieren.
Wenn wir uns nur auf einen Pol festlegen und den Gegenpol loslassen, löst sich die Spannung auf und die Schwungkraft ist dahin. Es gilt also, diese von Gott gewollten positiven Spannungsfelder zu begrüssen, sie zu umarmen und bewusst aufrecht zu erhalten. Die Christen der frühen Kirche lernten mit diesen Spannungsfeldern und ihrer Dynamik zu arbeiten, anstatt gegen sie anzukämpfen oder sie gar auflösen zu wollen. So waren die ersten Christen beispielsweise weder nur politisch rechts, noch ausschliesslich politisch links, sondern lebten eine einzigartige Werte-Kombination.
Könnte es sein, dass der heutigen Kirche die Fähigkeit abhanden gekommen ist, die positive Kraft dieser Spannungsfelder zu nutzen? Wenn ja, was könnten Gründe dafür sein?
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Grund 1: Ein existenzialistisches Verständnis der Kirche
Durch die allgemeine Wandlung der westlichen Kultur hin zu einer postmodernen Orientierung, wird laut Millard J. Erickson (Christian Theology, S. 950–954) in den meisten theologischen Abhandlungen zum Thema Kirche zunehmend über deren praktischen Aspekte geschrieben: Was die Kirche tun muss, um den rapiden sozialen Veränderungen zu begegnen und wie sie in einer säkularen Gesellschaft ihren Einfluss geltend machen kann? Der Fokus wird mehr auf das Umfeld der Kirche, als auf die essentiellen Wesenszüge der Kirche selbst gelegt. Wie wertvoll diese Einsichten über das kirchliche Umfeld auch sein mögen, sie müssen durch ein theologisches Verständnis des Wesens der Kirche gelenkt werden und in Bezug zu ihr stehen.
Das 21. Jahrhundert mit seiner weit verbreiteten Aversion gegen Philosophie, so Erickson, ist viel weniger an der theoretischen Natur von Dingen interessiert als an deren konkreten historischen Manifestationen. Demzufolge ist die moderne Theologie weniger an der Essenz der Kirche interessiert – was sie anhand der Bibel „wirklich ist“ oder „sein sollte“ – als an ihrer momentanen Existenz, was sie konkret ist oder effektiv am werden ist. Diese Verlagerung in der Betonung ist charakteristisch für die Art und Weise, wie die ganze Welt gesehen wird: Eher im Wandel als festgesetzt.
Dieses «im Wandel» hat laut Erickson u.a. auch damit zu tun, dass wir von einer druckorientierten zu einer sprech- und hörorientierten Kultur gewechselt haben. Erstere neigt dazu starr zu bleiben, letztere ist tendenziell dynamisch und sich verändernd oder wachsend. Vergleichbar wird auch die Kirche als dynamisch angesehen: Ihre Existenz hat Vorrang vor ihrer Essenz – eine klar existenzialistische Interpretation. Die Kirche wird als ein Ereignis gesehen, als ein Projekt, und nicht als ein bereits vollendetes, verwirklichtes Dasein.
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Grund 2: Plausibilitätsverlust – Was können wir wissen?
Zuerst etwas zur Begriffsdefinition der Moderne:
Zahllose Bücher schreiben, dass wir heute in einer postmodernen Kultur leben… Doch streng genommen ist es vermutlich eher angebracht, von einem spätmodernen Klima zu sprechen, denn das Hauptprinzip der Moderne war die Freiheit und Autonomie des Individuums gegenüber Ansprüchen von Tradition, Religion, Familie und Gemeinschaft. Dies haben wir heute in verstärkter Form. – Tim Keller, Center Church (deutsche Ausgabe) S. 353
In der vormodernen Gesellschaft gab es laut Peter L. Berger (Der Zwang zur Häresie, S. 14–44) kaum Wahlmöglichkeiten: Religion, Beruf, Kleidung usw. waren vorgegeben, nichts war mehrdeutig. Die Gesellschaft war stark traditionell und Institutionen, sprich Programme für menschliches Verhalten, wurden als gegeben und sicher angesehen.
Doch was damals Schicksal war, wurde in der modernen Welt zur Wahlmöglichkeit. Wo es früher ein bis zwei plausible menschliche Verhaltensweisen zur Auswahl gab, sind es heute dutzende. In der Vormoderne waren z.B. sexuelle Beziehungen traditionell streng und eng definiert. Heute kann die Sexualität als Arena individueller Wahlmöglichkeiten bis hin zur Geschlechtsumwandlung erfahren werden.
Indem die Moderne das Individuum von den Ansprüchen von Tradition, Religion, Familie und Gemeinschaft zu befreien sucht, werden die moralischen Glaubens- und Wertvorstellungen bis zum Plausibilitätsverlust erschüttert. Als soziales Wesen braucht der Mensch trotzdem nach wie vor soziale Absicherung für seinen Glauben an die Realität, so Berger, mit Ausnahme von ganz persönlichen Bereichen wie, z.B. Schmerzen am eigenen Körper. Die moderne Gesellschaft besteht jedoch zunehmend aus instabilen, nicht zusammenhängenden und unzuverlässigen Plausibilitätsstrukturen, wodurch moralische Sicherheit schwer zu erlangen ist. Das führte zur für die Modernität charakteristischen Glaubenskrise.
Der moderne Mensch in der westlichen Welt muss ständig wählen: von Konsumwaren über Lebensstil bis hin zu Weltanschauungen, sowie Glaubens- und Wertvorstellungen. Wer notgedrungen ständig reflektieren und nachdenken muss, wendet seine Aufmerksamkeit zwangsläufig von der objektiv gegebenen Aussenwelt seiner subjektiven Innenwelt zu. Dadurch wird die Aussenwelt immer fragwürdiger und die Innenwelt immer komplexer. Die Modernität erschuf somit Umstände, in denen wir uns ständig die Frage stellen: „Was können wir denn eigentlich wissen?“ Soweit Berger.
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Die Dynamik der Kirche zurückgewinnen
Die beiden genannten Gründe stellen die Kirche vor ernst zu nehmende Herausforderungen. Sie können dazu verleiten, sich vorschnell für jeweils einen der beiden Spannungs-Pole zu entscheiden, um dadurch eine verlässliche Plausibilitätsstruktur für unseren Glauben an die Realität zu schaffen. Kurzfristig mag uns das ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Langfristig bezahlen wir einen grossen Preis dafür: Wir verlieren die positive Kraft der göttlichen Spannungsfelder und enden in einer starren und bewegungslosen Kirche ohne Schwungkraft und Dynamik.
Ich glaube, wir sollten uns deshalb wieder vermehrt auf die von Gott gegebene Essenz seiner Kirche besinnen. Will heissen: Die Plausibilität unserer moralischen Glaubens- und Wertvorstellungen muss kompromisslos vom Evangelium abgeleitet sein. Alle anderen Plausibilitätsstrukturen werden dem Test der Zeit nicht standhalten können. Die westliche Gesellschaft empfindet die Kirche zunehmend als irrelevantes Relikt aus einer vormodernen Welt. Doch das hat auch sein Gutes: Wir werden regelrecht dazu gezwungen, jegliche Stützräder zu entfernen und uns ganz auf das Gleichgewichtsorgan des Evangeliums zu verlassen. Es gibt ja mittlerweile Bezeichnungen wie “Evangeliums-zentrierte” Kirche, womit nichts anderes gemeint ist, als das kompromisslose Zurückkehren der Kirche zu ihrer von Gott gegebenen Essenz.
Alle Theologie muss eine Erläuterung und Darstellung des Evangeliums sein, insbesondere im postmodernen Zeitalter… in dem die Grundlagen der christlichen Weltanschauung weitgehend unbekannt sind. Darum müssen wir in unseren Aussagen jedes Mal zum Herzstück der Sache vordringen, dem Evangelium der Gnade. – Timothy Keller, eigene Übersetzung
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