DNA (6/10): Radikale Nächstenliebe

Lesezeit: 9 Minuten
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by Pascal Götz | 09. Feb. 2020 | 2 comments

Stell dir vor, du leb­st im drit­ten Jahrhun­dert in ein­er römis­chen Stadt. Bei einem Sturz holst du dir einen offe­nen Bruch. Schon kurz darauf begin­nt die Wunde zu eit­ern. Wenn du nicht reich oder Teil der römis­chen Armee bist, bedeutet das für dich mit ziem­lich­er Sicher­heit ein Leben im Elend – oft sog­ar den Tod. Wenn du Glück hast, gibt es in dein­er Nähe eine christliche Gemeinde.

Antike Missstände

Die medi­zinis­che Ver­sorgung der Antike war aus heutiger Sicht eine Katas­tro­phe. So etwas wie ein Medi­zin­studi­um gab es nicht. Es gab Askle­pios, den griechis­chen Gott der Heilkunde. Doch auch seine Priester hat­ten oft nur sehr rudi­men­täres Wis­sen über die Abläufe im men­schlichen Kör­p­er. Ihre wichtig­ste Heil­meth­ode war der Heilschlaf: Nach ein­er aufwendi­gen Reini­gung­sproze­dur mit Fas­ten­zeit und Opfern durfte der Kranke im Tem­pel über­nacht­en. In der Nacht sollte dann Askle­pios oder seine Tochter Hygieia dem Kranken erscheinen. Der Priester ver­suchte dann anhand des Traumes her­auszufind­en, durch welche Heil­meth­ode Askle­pios den Kranken heilen würde. Die fol­gen­den Behand­lun­gen waren oft aufwendig und vor allem nicht kosten­los. Und weil der Tem­pel heilig war, sollte dort nie­mand ster­ben. Tod­kranke wur­den darum gar nicht erst aufgenom­men. Wegen der hohen Kinder­sterblichkeit blieb Schwan­geren der Zugang eben­falls ver­wehrt. Ger­ade für die Ärm­sten und Schwäch­sten in der Gesellschaft, hat­te der Gott Askle­pios also wenig zu bieten.


Ruinen des Askle­pios-Tem­pel in Epi­dau­rus — Pas­cal Götz

Wer reich war, kon­nte sich einen Hausarzt leis­ten. Medi­zin und Pflege war Sklave­nar­beit – defin­i­tiv unter der Würde eines freien römis­chen Bürg­ers. Auch die Armee beschäftigte Ärzte. Die haben ihr Wis­sen in der Prax­is erwor­ben und ver­standen sich darum vor allem auf Kriegsver­let­zun­gen. Mehr mussten sie auch nicht kön­nen, denn Zivilis­ten wur­den in den Lazaret­ten nicht behan­delt. Mitleid wurde von den Römern als Schwäche ange­se­hen, die nur denen etwas nützte, die nichts zur All­ge­mein­heit beitra­gen konnten.

Ein­fache Krankheit­en und Ver­let­zun­gen wur­den in der Regel von der eige­nen Fam­i­lie behan­delt. Mit etwas Glück ver­stand sich da jemand auf Kräuterkunde. Doch genau wie heute brauchte es nicht allzu viel, bis man auf pro­fes­sionelle medi­zinis­che Hil­fe angewiesen war. Doch anders als heute, gab es die für viele Men­schen nicht. Darum kon­nte schon ein Bein­bruch ein Leben im Elend oder sog­ar den Tod bedeuten. Es sei denn, in dein­er Nach­barschaft gab es Christen.

Schon in der Apos­telgeschichte wird berichtet, dass die erste Gemeinde sich um die Men­schen am Rande der Gesellschaft geküm­mert hat. Damit lebte die christliche Gemeinde eine der fünf radikalen Werte, welche sie von ihrem umliegen­den Umfeld unter­schieden hat. Dafür ern­tete sie zuerst Spott, später jedoch die Bewun­derung der römis­chen Bevölkerung.

In Apg 6 berichtet Lukas, dass die erste Gemeinde extra Diakone ernan­nte, weil die soziale Arbeit so viel Zeit in Anspruch nahm. Jesus selb­st hat­te seinen Jüngern beige­bracht, nicht nach Ruhm und Ehre zu streben, son­dern anderen zu dienen.

Beson­ders ein­drück­lich ist Mt 25:34–46: Der Dienst für den König Jesus misst sich daran, wie mit den Men­schen am Rande der Gesellschaft umge­gan­gen wird. Warum? Weil der König selb­st ein­er dieser Armen, Kranken und Gefan­genen gewor­den ist. Es beein­druckt mich, wie die Gerecht­en in Mt 25:37–39 gar nicht wis­sen, dass sie Jesus selb­st gedi­ent haben. Sie haben die Not der Men­schen gese­hen und gehan­delt. Und ganz unschein­bar, uner­wartet, unspek­takulär ist ihnen Jesus begeg­net. Jesus geht dor­thin, wo Zer­bruch ist. In schön herg­erichteten Palästen gibt es für ihn wenig zu tun. Wer Jesus sehen will, der muss ihm ins Elend dieser Welt fol­gen. Paulus wieder­holt diese Forderung in Röm 12:20 indem er Spr 25:21–22 zitiert:

Wenn nun deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, dann wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sam­meln. Römer 12,20

Wenn jemand Not lei­det, dann küm­mere dich um ihn! Selb­st dann, wenn es dein Feind ist. Hin­ter dieser Ein­stel­lung ste­ht ein­er­seits die grundle­gende Überzeu­gung, dass jedes Leben wertvoll ist. Ander­er­seits wussten die ersten Chris­ten, dass Hass nur mit Liebe und Barmherzigkeit besiegt wer­den kann. Jesus hat­te es ihnen vorgemacht. 

Der ägyp­tis­che Mönch Pachomius (292/298–346) war vor sein­er Zeit als Christ Sol­dat gewe­sen. In Theben begeg­neten ihm zum ersten Mal Chris­ten und er war sofort davon beein­druckt, dass die sich um die Nöte der Sol­dat­en kümmerten:

“Da ich, erzählt Pachomius, diese ihre Hand­lungsweise sah und mich darüber sehr wun­derte, erfuhr ich von meinem Gefährten, daß die Chris­ten gegen alle, vornehm­lich aber gegen die Frem­den, mitlei­dig und men­schen­fre­undlich seien.” Vita Pachomii 2

Nach­dem er Christ gewor­den war, zog er sich erst als Mönch in die Ein­samkeit der Wüste zurück. Später organ­isierte er die Ein­siedler in der Wüste und grün­dete das erste Kloster. Die Klosterge­mein­schaften wur­den schnell bekan­nt für eine gute Ver­sorgung von Kranken und Bedürfti­gen. Hier wur­den noch vor allem die Mönche behan­delt. Doch die Idee ein­er all­ge­meinen Krankenpflege wurde von den Chris­ten immer weit­er aus­ge­baut. Bald ent­standen im heuti­gen Frankre­ich und Ital­ien die ersten Xen­odochien (xenos=der Fremde, dechomai=aufnehmen), eine Mis­chung aus Gasthaus für Reisende und Kranken­haus. Als das Pil­ger­we­sen im 4. Jahrhun­dert immer wichtiger wurde, errichteten die Kirchen ent­lang der Pil­ger­routen extra Hos­pi­tale (hospes=Gast). Oft wur­den diese direkt an beste­hende Kirchen ange­baut. In diesem Sinn ist das Spi­tal eine christliche Erfind­ung der Nächstenliebe. 

Doch selb­st als das Chris­ten­tum im 4. Jahrhun­dert zur römis­chen Staat­sre­li­gion wurde, ver­standen viele römis­che Beamte den Sinn hin­ter diesen Kranken­häusern nicht. Als Basil­ius der Grosse (330–379) in Cäsarea das erste wirk­lich öffentliche Hos­pi­tal bauen wollte, musste er den Statthal­ter der Prov­inz erst überzeugen:

“Wem tun wir Unrecht, wenn wir Her­ber­gen bauen für die Frem­den, welche auf der Durchreise hier anwe­send sind, sowie für die, welche krankheit­shal­ber irgen­dein­er Pflege bedür­fen, wenn wir solchen Men­schen die erforder­liche Erquick­ung bere­it­stellen, Krankenpfleger, Ärzte, Last­tiere, Begleit­er? Zwangsläu­fig fol­gen diesen auch Gewerbe, solche die zum Leben nötig sind, und solche, die zu ein­er ver­fein­erten Lebens­führung erfun­den wor­den sind, fern­er andere, für die Werk­stät­ten erforder­lichen Häuser. All das ist eine Zierde für den Ort, für unseren Statthal­ter aber ein Aushängeschild, da der gute Ruf auf ihn zurück­fällt!” Basil­ius der Grosse, Brief 94, zitiert auf Seite 157 in Geschichte der Diakonie in Quellen

Damals wie heute haben Poli­tik­er gerne Pro­jek­te bewil­ligt, welche ihrem per­sön­lichen Ruf und der Wirtschaft genützt haben. Das Mod­ell der unbe­d­ingten Näch­sten­liebe war so erfol­gre­ich, dass der hei­d­nis­che Kaiser Julian es let­z­tendlich zäh­neknirschend kopierte:

«Errichte in jed­er Stadt zahlre­iche Her­ber­gen, damit die Frem­den – und nicht nur die zu den Unsri­gen zäh­len­den, son­dern auch von den anderen soll jed­er Bedürftige in den Genuss der von uns geübten Men­schen­fre­undlichkeit kom­men. […] Denn es ist eine Schmach, wenn von den Juden nicht ein einziger um Unter­stützung nach­suchen muss, während die got­t­losen Galiläer [gemeint sind die Chris­ten] neben den ihren auch noch die unsri­gen ernähren, die unsri­gen aber der Hil­fe von unser­er Seite offen­bar ent­behren müssen.» Kaiser Julian, Brief an den Ober­priester Arsakios von Gal­lien, zitiert auf Seite 107 in Julian. Briefe griechisch-deutsch


Isen­heimer Altar — Detail

Christus — der Mitleidende

Die Liebe zu den Kranken ist in der ganzen Kirchengeschichte ein wichtiges The­ma geblieben. Ein beson­deres Beispiel dafür ist der Isen­heimer Altar. Auf dem Sock­el des Altars ist die Grable­gung von Jesus zu sehen. Auf­fäl­lig ist, dass der Kör­p­er von Jesus mit schwarzen Fleck­en über­säht ist. Es ist das soge­nan­nte Anto­nius­feuer. Diese Krankheit wird durch die Auf­nahme von Getrei­de aus­gelöst, das mit dem Mut­terko­rn­pilz infiziert wurde. Nun, Jesus hat­te bei der Kreuzi­gung ganz sich­er keine Mut­terko­rn­vergif­tung. Aber der Isen­heimer Altar stand ursprünglich in einem Kloster, in dem man sich vor allem um Men­schen mit genau dieser Krankheit geküm­mert hat. Die Kranken, die hier­herka­men, soll­ten sich im hin­gerichteten Chris­tus wieder­erken­nen. Das Bild sollte sie trösten und ihnen zeigen, dass Jesus bei ihnen war. Aber es gab noch eine zweite Art der Iden­ti­fika­tion: Die dor­ti­gen Antoniter-Mönche wur­den täglich daran erin­nert, dass ihnen in den Patien­ten Jesus selb­st begegnete.

Jesus wird am Kreuz selb­st zum Hil­fs­bedürfti­gen. Doch genau in diesem absoluten Tief­punkt erken­nt das Chris­ten­tum den entschei­den­den Wen­depunkt der Welt­geschichte. Das schein­bare Ende wird zum tri­umphalen Anfang. Nicht trotz son­dern ger­ade im Lei­den zeigt sich die Kraft Gottes auf bis dahin ungekan­nte Art. Das Leid ist der Ort, an dem Gott wohnt. Jeden­falls so lange bis das Böse endgültig über­wun­den ist. Jesus hat nach sein­er Aufer­ste­hung seine Nar­ben behal­ten. Für die Jünger wur­den sie zum Beweis, dass sie es tat­säch­lich mit ihrem Meis­ter zu tun hat­ten (Joh 20:19–29). Die Zeichen des Elends wur­den zu ewigen Zeichen der Würde (Offb 5:1–14).

Doch was machen wir mit diesem Wis­sen? Klar: Näch­sten­liebe und Chris­ten­tum, das gehört irgend­wie zusam­men. Das würde ver­mut­lich sog­ar der eine oder andere Athe­ist anerken­nen. Doch oft wird falsch ver­standen, was mit dieser Liebe eigentlich gemeint ist. Näch­sten­liebe im christlichen Sinn bedeutet weit mehr als ein­fach nur nett zu seinen Mit­men­schen zu sein. Um Jesus zu zitieren:

Und wenn ihr liebt, die euch lieben, was für Dank habt ihr davon? Denn auch die Sün­der lieben, die sie lieben. Lk 6:32

Nett sein ist schön und gut. Aber nett ist doch jed­er. Zumin­d­est in der Selb­st­wahrnehmung. Vielle­icht nicht zu jedem, aber grund­sät­zlich eigentlich schon. Oder etwa nicht?

Einige Verse weit­er sagt Jesus:

Vielmehr liebt eure Feinde; tut Gutes und lei­ht, ohne etwas dafür zu hof­fen, so wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Aller­höch­sten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Darum seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Lk 6:35–36

Christliche Näch­sten­liebe begin­nt da, wo die men­schliche Liebe endet. Diese Liebe wen­det sich an den, von dem man keine Gegen­leis­tung erwarten kann. Wer in die Kirchengeschichte schaut, wird fest­stellen, dass geistliche Auf­brüche oft von ein­er neuen Hin­wen­dung zu den Schwachen begleit­et wor­den sind. Neben der Alten Kirche wären einige Beispiel dafür die Hos­pi­talor­den, Franz von Assisi, die Ref­or­ma­tion (das Her­zog­tum Pfalz-Zweibrück­en führte als erstes Ter­ri­to­ri­um weltweit die all­ge­meine Schulpflicht für Mäd­chen und Jun­gen ein), der Pietismus (Zinzen­dorf, Francke, Spit­tler u.a.), die Heilsarmee…

Wichtig: Der Umkehrschluss funk­tion­iert nicht. Ein grösseres soziales Engage­ment führt nicht unbe­d­ingt zu mehr Spir­i­tu­al­ität. Aber eine ver­tiefte Jesus-Beziehung führt fast zwangsläu­fig zu ein­er wach­senden Liebe zu unseren Mit­men­schen – ger­ade zu denen, die man unbe­wusst oder ins­ge­heim für nicht liebenswert hält: den Wirtschafts­flüchtling, die Nutte, den Sozialschmaroz­er, den Dementen.

Die Nächstenliebe neu Entdecken!

Seit der Aufk­lärung hat in Europa der Staat viele Auf­gaben über­nom­men, die ursprünglich fes­ter Bestandteil der Kirche gewe­sen sind. Ja, die kirch­lichen Struk­turen sind irgend­wann an ihre Gren­zen gestossen. Doch auch wenn Ein­rich­tun­gen wie Kranken­häuser, Pflege­heime, öffentliche Schulen heute staatlich bzw. pri­vatwirtschaftlich betrieben wer­den, so basieren sie zu einem beträchtlichen Teil auf christlichen Ideen. Ich will das Bild nicht dun­kler malen als es ist. Natür­lich hat die Kirche auch dadurch an Ein­fluss ver­loren, dass sie die Hoheit über die sozialen Insti­tu­tio­nen abgeben musste. Aber Men­schen wie der ver­stor­bene Pfar­rer Sieber zeigen uns, was christliche Liebe bedeutet. Ger­ade bei Sieber sieht man, dass unser staatlich­es Sozial­sys­tem auf Ergänzung angewiesen ist. Bei den Schwäch­sten und Anstren­gend­sten fehlen oft liebevolle Lösun­gen. Notiz am Rande: Als ich Siebers Buch «Men­schen­ware – wahre Men­schen» gele­sen habe, war es mir schon fast pein­lich, wie oft ger­ade die Kirche Sieber unnötig Steine in den Weg gelegt hat. Liebs Volk Gottes, das kön­nen wir bess­er! Jesus hat es uns anders vorgelebt.

Ich habe das Gefühl, dass die Kirche in Europa noch ein­mal neu daran gemessen wer­den wird, wie sie mit den Men­schen am Rand umge­ht. Wir befind­en uns in ein­er Zeit, in der Europa seine christlichen Wurzeln immer mehr ver­gisst. Und in dieser Demenz ver­gisst die Heimat der Demokratie auch ein Stück weit, warum sie sozial han­deln soll.

Schon vor knapp 20 Jahren hat der Philosoph Jür­gen Haber­mas darauf hingewiesen, dass Europa religiöse Sprache und Begrün­dungswege nicht mehr ver­ste­ht. Inhaltlich zehrt die säku­lare Gesellschaft aber immer noch von den Nor­men und Vorstel­lun­gen, welche der christliche Glaube über Jahrhun­derte hin­weg in Europa ver­ankert hat. Man spricht von Näch­sten­liebe, weiss aber nicht mehr, was das eigentlich meint. Man spricht von Men­schen­recht­en und kann eigentlich nicht genau begrün­den, warum es so etwas wie eine Men­schen­würde über­haupt geben soll.

Aber dass es da einen Gott gibt, der den Men­schen sein Eben­bild nen­nt und ihm Würde zus­pricht, das klingt nach einem Märchen aus lang vergesse­nen Tagen. Man spricht von Sol­i­dar­ität, aber warum über­haupt? Und mit wem? Was gehen mich die Flüchtlinge an, die übers Mit­telmeer kom­men? Wir befind­en uns in ein­er Zeit, in der es für jedes Gebrechen einen Spezial­is­ten gibt. Bist du krank? Geh ins Kranken­haus. Bist du alt? Geh ins Alter­sheim. Bist du arbeit­s­los? Geh aufs RAV.

Ich möchte nicht respek­t­los klin­gen. Ich bin wirk­lich froh um unsere pro­fes­sionellen Ärztin­nen, Pfleger, Sozialar­beit­er und Lehrerin­nen. Früher war defin­i­tiv nicht alles bess­er, im Gegen­teil. Aber die Pro­fes­sion­al­isierung der Näch­sten­liebe hat zur Folge, dass die Schwachen in unser­er Gesellschaft aus dem Blick­feld ver­schwinden. Wie viele Men­schen in unseren Bre­it­en­graden haben noch nie einen Toten gese­hen? Wie viele haben noch nie einen pflegebedürfti­gen Men­schen gewaschen? Wer hat heute noch den Mut, ein Kind mit Behin­derung grosszuziehen? Wie viele haben noch nie ihr Aben­dessen mit einem Obdachlosen geteilt, nicht ein­fach Geld gegeben, son­dern sich Zeit genom­men, sich hinge­set­zt, zugehört?

Wir befind­en uns in ein­er Zeit, in der jed­er Lei­dende in die Anonymität des Gesund­heits- und Sozial­we­sens abgeschoben wer­den kann. Das geht so lange, bis wir selb­st an der Periph­erie der Gesellschaft ver­schwinden und uns fra­gen, warum man uns vergessen hat. Ein häu­figer Grund, warum Men­schen heute ster­ben wollen, ist nicht physis­ch­er Schmerz, son­dern soziale Iso­la­tion und Ein­samkeit. Unser Gesund­heitssys­tem befriedigt unsere kör­per­lichen Bedürfnisse so gut wie noch nie. Doch mit unser­er Seele tut es sich oft schw­er. Nicht nur Pati­entin­nen, son­dern auch das Pflegeper­son­al kla­gen über zu wenig Zeit für echte, warme, men­schliche Begeg­nun­gen. Gle­ichzeit­ig befind­en wir uns in ein­er Zeit, in der sich Men­schen nach einem neuen Sinn im Leben sehnen. Die jüng­sten Umwelt­proteste zeigen, dass hier eine Gen­er­a­tion her­an­wächst, die sich für etwas ein­set­zen will, das gröss­er ist als sie selb­st. Beste Voraus­set­zun­gen also für eine Neuent­deck­ung der Nächstenliebe.

Wie gesagt, dieser Artikel ist kein Aufruf für mehr soziales Engage­ment. Er ist kein Aufruf dazu, einen Ster­ben­den bis zum Schluss zu begleit­en, Obdachlose bei sich über­nacht­en zu lassen oder einem Flüchtling eine Lehrstelle zu ver­mit­teln. Das ist alles lobenswert. Aber er will mehr. Dieser Text ist ein Aufruf, Jesus neu auch als den elen­den Men­schen am Kreuz zu sehen.

Jesus, der sich nicht mit den Köni­gen dieser Welt gle­ichgemacht hat, son­dern mit dem Abscheulich­sten, was die Men­schheit her­vor­brin­gen kann: mit den zum Tod Verurteil­ten, den trau­ma­tisierten Krieg­sopfern, den ansteck­enden Kranken, den anstren­gen­den Alten, den kor­rupten Steuer­beamten, den unge­wollt Schwan­geren und ihren noch unge­woll­teren Babys. Hier ist Gottes Kraft mächtig (2Kor 12:9–10).

Jesus ging nicht dor­thin, wo alles glänzte, son­dern dor­thin, wo der Dreck unüberse­hbar war. Und nicht nur das, er hat das alles in sich aufgenom­men und getra­gen. Es wird der Tag kom­men, an dem Jesus mit Macht und Ehre auftreten wird (Offb 19:11–16). Doch bis dahin tun wir gut daran, Jesus im Elend dieser Welt zu suchen.

Wer diesem Jesus nach­fol­gt, der sollte nicht über­rascht sein, wenn er mehr und mehr das sieht, was Jesus sieht. Und wer die Welt mit den Augen Gottes wahrn­immt, der wird es nicht aushal­ten, dass sie bleibt, wie sie ist. Er wird aus Liebe zum Näch­sten han­deln müssen. Nicht weil es ihm befohlen wor­den ist, son­dern weil Liebe nicht untätig bleiben kann. Und die Welt wird es sehen und sich über diesen Jesus und seine Anhänger wundern.

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Pascal Götz

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Kommentare zu diesen Beitrag

2 Comments

  1. Elisabeth Rohr

    Mein Lieblings­the­ma!!! Vie­len Dank für die gute Aus­führung und die wichti­gen Worte, dass ein Leben mit Jesus Auswirkun­gen hat und die Armen, Kranken und Aus­gestosse­nen Wert und Hil­fe erhalten.

    Reply
    • Pascal Götz

      Danke dir

      Reply

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