Das frühe Christentum entwickelte sich in der römischen Welt trotz grosser Verfolgung explosionsartig. Während die römische Religion ohne heilige Bücher auskam und religiöse Texte gänzlich unbedeutend waren, orientierten sich die ersten Christen an einem Buch. Sie waren überzeugt, dass darin Gott selbst zu ihnen spricht.
In der laufenden Artikelreihe der Daniel Option «DNA» wurde den einzigartigen Wesensmerkmalen der frühen Christenheit nachgespürt. Die frühe Kirche…
- …kümmerte sich mit radikaler Hingabe um die Armen und Ausgegrenzten,
- …setzte sich gegen Gewalt ein und war der Vergebung verpflichtet,
- …setzte sich leidenschaftlich für den Schutz des Kinderlebens ein,
- …vertrat eine revolutionäre Sexualethik,
- …war kulturübergreifend,
- …lehnte den römischen Kaiserkult ab
- …und war dem Evangelium verpflichtet
Die grosse Frage, die sich hier stellt: Wie kamen die damaligen Christen eigentlich auf diese revolutionären Werte? Woher entnahmen sie ihre bahnbrechende DNA?
Die Antwort lautet: Die frühen Christen entnahmen ihre charakteristischen Werte der Bibel.
Da heute kein Konsens mehr besteht wie die Bibel verstanden werden will, wird heftig um das rechte Schriftverständnis gerungen, was zum einen super ist, jedoch auch zahlreiche Christen verunsichert. Aus diesem Grund ist es an dieser Stelle hilfreich «back to the roots» zu gehen und zu fragen: Wie haben eigentlich die frühen Christen die Bibel verstanden? Um dieser zentralen Frage auf den Grund zu gehen, ist wohl am Besten, beim Schriftverständnis des ersten Christen, dem Christus selbst, zu beginnen.
Hebräische Schriftrolle — iStock
Das Schriftverständnis von Jesus
Für Jesus ist das damals vorliegende Alte Testament zweifelsfrei inspiriertes Gotteswort. Er verwendet die alttestamentlichen Schriften in Fragen der Ethik selbstredend als normative Grundlage (Mt 19:18–19; Mt 22:37–40; usw.) und erachtet deren Geschichtserzählungen wie beispielsweise über Abel (Lk 11:51), Noah (Mt 24:37–39), Elia (Lk 4:25–26) oder Jona (Mt 12:39–41) selbstverständlich als historische Berichte.
Jesus zitiert die Schrift an vielen Stellen mit den Worten «es steht geschrieben» oder «habt ihr nicht gelesen», um damit seine Argumentation zu begründen. Er geht davon aus, dass die alttestamentlichen Schreiber bei der Niederschrift inspiriert waren, weshalb er zum Beispiel über David sagt, dass jener «durch den Heiligen Geist gesprochen» hat (vgl. Mk 12:36).
Jesus spielt die alttestamentlichen Autoren an keiner Stelle gegeneinander aus, sondern spricht beim Zitieren oft nur von «Schrift», weil die konkrete Quelle des alttestamentlichen Schreibers zweitrangig ist, da für ihn Gottes Autorenschaft im Zentrum steht.
Oft wird Jesus von kritischer Seite her vorgeworfen, dass er an manchen Stellen (Mt 5:21–48; Mt 12:8; Mk 2:28; Mk 7:8–19) das Alte Testament ausser Kraft setzt. Doch Jesus negiert oder relativiert an keiner Stelle die alttestamentlichen Gebote, sondern streicht deren wahre Bedeutung heraus, indem er sie von damals geläufigen Fehlinterpretationen absetzt (siehe Eckhard Schnabel, Inspiration und Offenbarung. Die Lehre vom Ursprung und Wesen der Bibel, Wuppertal: Brockhaus, 1986, Seite 124). Damit Jesus nicht falsch verstanden wird, hebt er deutlich hervor, dass er keineswegs gekommen ist, die die alttestamentlichen Gebote aufzuheben, sondern zu erfüllen, da auch der kleinste Bestandteil («Jota» und «Strichlein) des Gesetzes so unverrückbar sei wie Himmel und Erde (Mt 5:17–18).
Das Schriftverständnis der Apostel
Die apostolischen Schreiber des Neuen Testaments, welche drei Jahre von Jesus unterrichtet wurden, haben das Schriftverständnis ihres Lehrers übernommen. In diesem Geiste gehen sie mit dem Alten Testament um. Petrus hält in seinem Brief fest, dass die Propheten des Alten Testaments vom Heiligen Geist getrieben redeten (2Petr 1:21). Matthäus geht davon aus, dass niemand geringeres als Gott selbst durch den Prophet Jesaja gesprochen hat (Mt 1:22). Für den später zum Glauben gekommenen Apostel Paulus, der als Schreiber den grössten Teil des Neuen Testaments zu verantworten hat, wurde das ganze Alte Testament durch Gottes Geist eingegeben (2Tim 3:16).
Aus diesem Grund machen die neutestamentlichen Schreiber bei der Verwendung alttestamentlicher Zitate keinen Unterschied, ob jetzt der konkrete Autor, Gott oder der Heilige Geist redet. Da die ganze Schrift als Gottes Wort angesehen wurde, werden diese Zuordnungen austauschbar verwendet.
Während die Apostel auf der autoritativen Grundlage des Alten Testaments standen, entstand in dieser Zeit die Verschriftlichung des Neuen Testaments. Spannenderweise herrschte in diesem Prozess bereits ein Bewusstsein vor, dass die neu verfassten Dokumente inspiriertes Wort Gottes sind. Dies zeigt sich bei einigen Schreibern. So zählt Paulus beispielsweise ein Ausspruch von Jesus im Lukasevangelium als «Schrift» (vgl. 1Tim 5:18). Petrus zählt Briefe von Paulus zur Kategorie «Schrift» (vgl. 2Petr 3:16). Bis dahin wurde das Wort «Schrift» nur für den göttlich inspirierten Text des Alten Testaments verwendet. Die Erwähnung des Paulus vonseiten des Petrus erstaunt nicht, da die Paulusbriefe schon sehr früh in den verschiedenen Gemeinden der Urchristen eine starke Verwendung fanden und als autoritative Texte weitergereicht wurden.
Codex Sinaiticus, Neues Testament in Griechisch, 4. Jh. n. Chr., Britisch Museum
Das Schriftverständnis der frühen Kirche
Die frühe Kirche folgte dem Vorbild von Jesus und den Aposteln. Die verschiedenen Verantwortungsträger betrachteten die damals vorliegende Schrift für göttlichen Ursprungs. Wie bereits angetönt, lag das Neue Testament in der Urgemeinde noch nicht als allgemein verbindliche Sammlung (Kanon) vor, sondern diese Festsetzung entwickelte sich prozessartig in den ersten zwei Jahrhunderten. Um das Schriftverständnis der frühen Kirche in ihren Grundzügen aufzuzeigen, werden hier ein paar Vertreter genannt:
Der Bischof Clemens von Rom, der angeblich mit Paulus zusammengearbeitet hat, trat als Leiter der Urgemeinde in Rom in die Fussstapfen von Petrus. Clemens betont in seinen Schriften wiederholt den Inspirationscharakter der Heiligen Schrift (95/96 n. Chr.):
«Die heiligen Schriften, die wahren, die vom Heiligen Geist eingegebenen, habt ihr genau durchforscht. Ihr wisst, dass nichts Unrechtes und nichts Verkehrtes in denselben geschrieben steht.» (1. Clem. 45,2–3.)
Der Kirchenvater Justin liess um 165 n.Chr. aufgrund seiner Glaubensüberzeugung in der römischen Hauptstadt sein Leben. Er ist nicht nur von der Inspiration des Alten, sondern auch von derjenigen des Neuen Testaments überzeugt. Er geht davon aus, dass Gott selbst durch die Apostel gesprochen hat. Er schreibt in seinem «Dialog mit dem Juden Trypho»:
«Gleichwie nämlich Abraham dem Worte Gottes, glaubte und es ihm zur Gerechtigkeit angerechnet’ wurde, ebenso glauben auch wir dem Worte Gottes, das uns von neuem durch die Apostel Christi verkündet wurde und durch die Propheten gepredigt worden war (…).»(Dial. 119,11)
Viele frühchristliche Theologen wie Athenagoras von Athen, Theophilus von Antiochien oder auch Hippolytus von Rom verwenden für das damalige Inspirationsverständnis die Metapher eines Musikinstruments, das vom Geist bewegt wird. Athenagoras schreibt beispielsweise, dass die alttestamentlichen Propheten
«unter der Einwirkung des Heiligen Geistes, was ihnen eingegeben wurde, verkündeten, wobei sich der Geist ihrer bediente, wie wenn ein Flötenspieler die Flöte bläst (…)»(Leg. Pro Christ. 9)
Der Kirchenvater Irenäus von Lyon, der als einer der bedeutendsten Theologen des 2. Jh. gilt, erachtet die Bibel als höchste Autorität der Theologie. In seinem Hauptwerk «Gegen die Häresien II» (180/189) verweist er 1200 Mal auf die Schrift und warnt vor der Versuchung, das eigene Verstehen über die Bibel zu stellen:
«Da müssen wir einfach hinter Gott zurücktreten, der uns gemacht hat, da wir ja sehr wohl wissen, dass die Schrift vollkommen ist, weil sie von Gottes Wort und seinem Geist gesprochen ist, dass aber wir der Kenntnis seiner Geheimnisse in dem Masse entbehren, wie wir kleiner sind und jünger als Gottes Wort und sein Geist.» (Adv. haereses 2,28.2)
Die aufgeführten Beispiele verdeutlichen, dass in der frühen Kirche ein grosser Konsens über das Schriftverständnis herrschte, dass nämlich die ganze Schrift göttliche Autorität besass. Die Lehrmeinungen weniger Exponenten wie beispielsweise Marcion, welcher das Alte Testament als autoritative Schrift ablehnte, fallen dabei nicht ins Gewicht. Jener wurde übrigens schon zu seiner Zeit als Irrlehrer verurteilt. Auch wenn in den ersten Jahrhunderten mit grosser Streitlust über die verschiedensten Lehrmeinungen debattiert wurde, so blieb die Inspiration und Autorität der Heiligen Schrift davon gänzlich unberührt. Aus diesem Grund wurde das Schriftverständnis in den frühen Bekenntnissen auch nicht beschrieben und definiert. Schliesslich wussten die frühen Christen gewichtige Zeugen wie Jesus Christus und die Apostel selbst an ihrer Seite. Der deutsche Professor für Neues Testament Eckhard Schnabel resümiert deshalb über die frühe Kirche:
«Bei aller Meinungsverschiedenheit und theologischen Gegnerschaft war man sich darüber einig, dass die Bibel Gottes Wort ist und deshalb göttliche Autorität besitzt. Was die Bibel lehrte, war zum Teil umstritten, nicht jedoch, was sie war: nämlich die gewisse und verbindliche Offenbarung Gottes.»(Eckhard Schnabel, Inspiration und Offenbarung. Die Lehre vom Ursprung und Wesen der Bibel, Wuppertal: Brockhaus, 1986, Seite 9)
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Die Herausforderung heute
Die frühen Christen brachten die Standhaftigkeit auf, mutig, unerschrocken und mit Einsatz ihres eigenen Lebens Alternativen zum damaligen Zeitgeist zu leben. Sie taten dies, weil sie darauf vertrauten, dass alles, was ihr Buch lehrt, göttlichen Ursprungs ist. Sie waren eine Religion des Buches. Die charakteristische DNA, welche die ersten Christen aus der Bibel ableiteten, schärften das Profil der frühen Kirche und sorgten dafür, dass das Römische Reich ein paar hundert Jahre später christianisiert wurde.
Wir sehen, dass das ausgeführte frühchristliche Vertrauen in die Heilige Schrift eine ganz entscheidende Rolle in der explosionsartigen Ausbreitung des Christentums spielt. Leider sehe ich, dass gerade dieses Vertrauen in die Inspiration der Bibel heute erschüttert ist, und zwar nicht nur in der protestantischen Theologie, sondern auch immer mehr in der freikirchlichen Szene. Aus diesem Grund skizziere ich kurz zwei aktuelle Beispiele:
Zum Beispiel beobachte ich, dass viele Christen heute keinen Zugang mehr zu den Schätzen des Alten Testament finden, da es häufig als verstaubt, unsexy und vorgestrig gilt. Es entsteht manchmal das Gefühl, als müsste man sich beinahe für das Alte Testament entschuldigen. Das geht auch Theologen so.
So präsentierte Manuel Schmid kürzlich in einem Artikel über die Gewaltstellen im Alten Testament die Perspektive des Theologen Gregory Boyd (Communicatio Ausgabe des “tsc” 19/2). “Gott lässt sich von den biblischen Zeugen in ‘geistlich unreifer und kulturell bedingter’ Weise darstellen”, heisst es darin. Die ‘oberflächliche Erscheinung’ der gewaltverherrlichenden biblischen Erzählungen spiegelten “die begrenzten und gefallenen Gottesvorstellungen Israels” wider und seien als «sünden-befleckte literarische Eindrücke» zu verstehen. Auch wenn ich keinesfalls die Komplexität der Thematik und den Mut zur theologischen Auseinandersetzung damit schmälern möchte, so wirken diese Aussagen auf mich – v.a. in Anbetracht des Vertrauens, welches Jesus den alttestamentlichen Autoren entgegenbrachte – leicht verstörend.
Ein anderes Beispiel zeigt sich in einem Interview mit dem deutschen Theologen Thorsten Dietz. Dieser beschreibt, wie er die Bibel sieht:
«Gott spricht. Davon handeln die biblischen Erzählungen. Gott hat gesprochen mit den Vätern und Müttern des Glaubens, durch Machttaten oder auch ganz unscheinbar, in einem stillen, sanften Säuseln (1. Könige 19,13), oder durch eine Eselin (4. Mose 22,28).» (Zeitschrift Amen 3/2019, Seite 5)
Was hier auf den ersten Blick gut tönt («Gott spricht») ist bei näherem Hinsehen ein Schriftverständnis, welches auf die liberale Bibelkritik zurückgeht. Die Bibel selbst ist nicht das Reden oder das Wort Gottes, sondern ein Hinweis auf das Reden Gottes, das die erwähnten Personen erlebt haben. Die Bibel ist menschliches Zeugnis vom Reden Gottes. Das ursprüngliche, historische Verständnis hingegen ist, dass die Bibel selbst Gottes Reden, sein inspiriertes autoritatives Wort ist.
Wir täten gut daran, wenn wir dieses frühchristliche Vertrauen in die Schrift als «People of the book» wieder neu zu Herzen nehmen würden. Der Wind der Zeit weht in unserer nach-christlichen Gesellschaft wieder rauer und will uns vorschreiben, was wir glauben und wie wir handeln sollen. Wir sollten nicht der Illusion verfallen, dass die Relativierung unserer Grundwerte uns als Christen attraktiver machen wird. Dies mag in den Augen mancher stromlinienförmiger Zeitgenossen so erscheinen, doch letztlich trifft das Gegenteil zu: wir verlieren unsere Glaubwürdigkeit und unsere revolutionäre Sprengkraft.
Ich finde dieses Thema sehr kontrovers. Hier ist ein Buch, welches von sich selbst behauptet, von Gott eingegeben zu sein. Und die Bestätigung dazu findet man dann wiederum im Buch. Nun ja… Ob das nun Beweis ist?
Eine Bibel, die sich an meine Situation anpasst ist doch viel schöner und annehmlicher! Und wäre auch viel einfacher für Freunde und Bekannte zum weitergeben. Das haben auch schon NIMMZWEI bemerkt und den BiBaBo erfunden (https://www.youtube.com/watch?v=5xKg-TbtRCs).
Aber: Wenn auch nur ein Teil der Bibel nicht wahr wäre, dann gäbe es ja gar keinen Grund, auch nur einen Buchstaben davon zu lesen. Wie kann ein Theologe sich denn Theologe nennen, wenn er nicht an alle Teile der Bibel glaubt? Ja, man muss nicht alle Teile toll finden und auch nicht alles verstehen (man nehme da die z.B. die Riesen im ersten Buch der Bibel). Aber wenn ein Buch von sich selbst behauptet, dass es vollkommen von Gott eingegeben ist, dann muss ich diesem Buch entweder 100% glauben oder eben den Mut haben und es vollkommen ablehnen. Da gibt es meiner Ansicht nach kein dazwischen!
Greg Boyd… Jetzt wird es aber langsam eng fürs TSC und insbesondere für den dortigen Dozenten Andreas Loos.
Schön zu sehen, dass du unsere Blogs genau liest Dave 😉 Bis bald mal hoffentlich! Herzlicher Gruss Paul
Naja, die Namen sind ja immer fett geschrieben. Das erleichtert die “Recherche” ungemein. 🙂
Inhaltlich würde mich aber schon interessieren, wie hier der Bezug und Einfluss von Boyd auf genannte Institution und Person gesehen wird. Der Zusammenhang ist nicht von der Hand zu weisen und betrifft m.E. nun wesentlich auch deinen eigenen Kontext. Oder wie ist diese Kritik an Boyd zu verstehen?
Lieber Dave, zum Thema Nennung von Namen werden wir in einer Woche was posten. Deine konkretere Frage wegen Boyd bespreche ich gerne mit dir, aber in einem Kontext der für uns besser geeignet ist, Verständnis zu fördern. Es muss Kafi oder Bier sein Dave 🙂 Meld’ dich wenn du Zeit mal Zeit hast, das würde mich freuen.
Salü Paul,
ich werde mich demnächst gerne melden für ein pers. Gespräch. Trotzdem finde ich es fragwürdig, wenn öffentlich Kritik erfolgt aber die inhaltliche Diskussion in die Privatsphäre verschoben wird (auch wenn ich Bier & Kaffee liebe). Verständnis wird so m.E. gerade nicht gefördert für all jene Interessierten, die nur stille LeserInnen sind. Oder anders gesagt: Man kann vermutlich nicht einfach mal in den Wald rufen und dem Echo dann sagen, es solle bitte morgen um 0900 Uhr im Büro erscheinen und zwar nur dort. 🙂
Wenn die öffentliche inhaltliche Diskussion das gegenseitige Verständnis nicht fördert, dann vielleicht auch die zugrunde liegenden öffentlichen Beiträge nicht?
Also: ich melde mich.
Lieber Dave, wir scheuen die öffentliche Diskussion nicht — keine Sorge 🙂 Es geht mir hier nicht darum, der öffentlichen Diskussion aus dem Weg zu gehen, sondern in diesem Fall einfach ein persönliches Gespräch zu haben. Also dann bis bald.