“Für alle statt für wenige” ist nicht nur der Slogan einer Schweizer Partei. Der Spruch trifft ebenso auf die lebensverändernde Botschaft der Bibel zu. Sie ist nicht einem exklusiven Publikum – also wenigen – vorbehalten. Sondern sie ist für alle Menschen zu allen Zeiten konzipiert.
In der aktuellen Artikelserie zur DNA des christlichen Glaubens ging es u. a. bereits um gewaltlose Feindesliebe, leidenschaftlichen Schutz des Lebens und radikale Nächstenliebe, revolutionäre Sexualethik und um die Überwindung von kulturellen Unterschieden. Nach diesen Werten lebten die Christen von Beginn ihrer Bewegung an. Zugegeben: Das sind nicht gerade die Kennzeichen, für die die Kirche unserer Tage bekannt ist. Wie stark wäre das aber, wenn Christen heute diese Werte neu entdeckten? Ihren faszinierenden Glauben wieder neu praktisch werden liessen? Wie ist das möglich? Machen wir uns mit diesem Artikel auf den Weg.
Die damaligen Christen im Römischen Reich stiessen aufgrund ihrer Werte teils auf massiven Widerstand. Und doch hielten sie entschieden daran fest. Warum? Warum nahmen sie Nachteile, Verfolgung, ja sogar den Tod in Kauf? Lag das rein an ihrer edlen Gesinnung? Oder an ihrem starken Willen? Oder etwa an ihrem fanatischen Eifer? Nein, der Motor hinter diesen zentralen Werten war ein anderer. Christen verstanden sich von Anfang an angetrieben vom Evangelium. Die Gute Nachricht von Jesus Christus motivierte sie zu ihrem Handeln. Darauf beriefen sie sich. Das war ihre Kraftquelle.
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Für alle statt für wenige
Wenn damals von ‘Evangelium’ die Rede war, verband man dies im Römischen Reich jedoch zunächst mit dem Kaiserkult. Der Theologe C. E. B. Cranfield erklärt diesen Sachverhalt wie folgt:
“Die Ankündigung solcher Ereignisse wie die Geburt eines Kaisererben, seine Volljährigkeit oder seine Thronfolge wurden als Evangelium bezeichnet.” (Cranfield, Römerbriefkommentar Bd. 1, S. 55, eigene Übersetzung)
Eine derartige ‘gute Nachricht’ wirkte sich allerdings nicht auf die breite Masse der Bevölkerung aus, sondern ausschliesslich auf die Adligen und Mächtigen, so David Garland. Weiter führt er in seinem Markus-Kommentar aus, dass es sich bei dem Evangelium von Jesus ganz anders verhielt: Jeder konnte davon profitieren,
“… der Ausgestossene, der Sünder und der Arme, Jude und Heide gleichermassen, und nicht nur die wenigen Privilegierten. Diese Geschichte ist wirklich eine Gute Nachricht für die ganze Welt.” (Garland, Mark, S. 20, eigene Übersetzung)
Für alle statt für wenige.
Worum geht es nun genau bei der ‘christlichen Version’ des Evangeliums? In der Bibel liefert Paulus in 1. Kor 15:3–5 die folgende Definition:
Zu dieser Botschaft, die ich so an euch weitergegeben habe, wie ich selbst sie empfing, gehören folgende entscheidenden Punkte: Christus ist – in Übereinstimmung mit den Aussagen der Schrift – für unsere Sünden gestorben. Er wurde begraben, und drei Tage danach hat Gott ihn von den Toten auferweckt – auch das in Übereinstimmung mit der Schrift. Als der Auferstandene hat er sich zunächst Petrus gezeigt und dann dem ganzen Kreis der Zwölf.
Die Meilensteine bilden also das Sterben und Auferstehen von Jesus, so wie es im Alten Testament vorausgesagt war. Entscheidend war es, dies zu glauben:
Zu dieser Botschaft bekenne ich mich offen und ohne mich zu schämen, denn das Evangelium ist die Kraft Gottes, die jedem, der glaubt, Rettung bringt. Das gilt zunächst für die Juden, es gilt aber auch für jeden anderen Menschen. (Römer 1,16)
Diese Botschaft verbreiteten die ersten Christen aus Überzeugung und luden Menschen ein, diesem Evangelium zu vertrauen (Apg 4:20; Apg 8:4; Apg 13:49). Es blieb keine graue Theorie. Die christliche Gemeinschaft klammerte sich nicht an trockene Glaubenssätze. Sondern angetrieben vom Evangelium handelten sie, indem sie z. B. Arme und Reiche ohne Vorurteile gleich behandelten (Jak 2:1) und praktische Nächstenliebe ausübten (Apg 4:33). Damit sollten sie niemanden beeindrucken oder sich selbst in den Mittelpunkt stellen. Jesus hatte seine Nachfolger sogar davor gewarnt, als Heuchler aufzutreten (Mt 6:2).
Wie kann das nun in der Kirche von heute aussehen? Die Gefahr ist jedenfalls gegeben, sich in die Arbeit zu stürzen, neue Projekte aufzuziehen etc. und das Evangelium aus dem Blick zu verlieren. Dabei soll das Evangelium auch heute der Motor sein. Ein Theologieprofessor bringt es auf den Punkt:
“Was ist eine evangeliumszentrierte Kirche? Eine, die ihre Lehre, Programme, Arbeitsphilosophie und Mission ausdrücklich und bewusst mit dem Inhalt des Evangeliums verbindet … Eine vom Evangelium angetriebene Kirche weiss, dass das Evangelium nicht nur ein Merkmal einer Kirche ist, ein Punkt auf einer Checkliste, etwas Nützliches für ein evangelistisches Programm. Eine vom Evangelium angetriebene Kirche macht das Evangelium zum einenden und motivierenden Faktor in allem, was sie sagt und tut.” (Jared C. Wilson, The Gospel-Driven Church, eigene Übersetzung)
Eine solche Kirche verkörpert die folgenden Wahrheiten:
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Wir müssen Gott nichts beweisen.
Wie die meisten Glaubensvorstellungen geht auch der christliche Glaube davon aus, dass eine Trennung zwischen Gott und den Menschen besteht. Auf einzigartige Weise glauben Christen, dass der Mensch nichts dazu beitragen kann, diese Trennung zu überwinden. Weder starker Glaube, noch ausreichend gute Taten oder Ähnliches können den Menschen näher zu Gott bringen. Das ist auch gar nicht nötig. Denn Gott kam selbst. In der Person seines Sohnes Jesus offenbarte er sich den Menschen und lebte ein perfektes Leben. Sein stellvertretendes Opfer und seine Auferstehung ermöglichen jedem, der das glaubt, eine wiederhergestellte Beziehung zu Gott. Das ist völlig unverdient und damit reine Gnade. Diese Gnade darf die Kirche feiern. Mit keiner ihrer Aktivitäten muss sie Gott beeindrucken. Sondern ihn ehren.
Wir müssen uns selbst nichts beweisen.
Ein realistisches Selbstbild ist wichtig. Dazu hilft mir die moderne Zusammenfassung des Evangeliums nach Timothy Keller: “Ich bin ein grösserer Sünder, als ich je gedacht hätte, aber Jesus liebt mich mehr, als ich je gehofft hätte.” Unser Wert hängt nicht davon ab, was wir (auch für Gott) leisten. Wir sind als seine Gegenüber geschaffen und als Christen durch Jesus in seine Familie adoptiert. Wir müssen uns selbst nicht vormachen, dass wir ‘es’ im Griff haben. Wir werden immer wieder versagen und unseren (und Gottes) hohen Ansprüchen nicht gerecht werden. Doch das Evangelium lässt Gottes Liebe und Vergebungsbereitschaft umso grösser aufleuchten. Dass uns das nicht zu einer Laissez-faire-Haltung verleiten soll, legt Peter Bruderer in seinem Artikel “Den kulturellen Graben überwinden” mit dem «Fehlansatz 2: ‹Ich kann so bleiben wie ich bin›» sehr gut dar.
Wir müssen anderen nichts beweisen.
Ja, Christen treten mitunter besserwisserisch und intolerant auf. Das widerspricht jedoch dem Evangelium, das sich auf das Miteinander innerhalb und ausserhalb der Kirche auswirken soll. Füreinander statt gegeneinander. Für alle statt für wenige. Macht- und Grabenkämpfe haben keinen Platz in der Kirche. Und doch gibt es sie. Dabei sind doch vor Gott alle gleich. Und wir können die Unterschiedlichkeit als Bereicherung sehen, statt uns zu nerven und in Konkurrenzdenken zu verfallen.
In seinem Buch “Center Church” stellt Timothy Keller seinen Ansatz des Evangeliums als die Mitte zwischen Religiosität und Relativismus vor (S. 33). Das eine falsche Extrem ist die pure Gesetzlichkeit. Das andere Extrem ist die Beliebigkeit. Beide verzerren das Evangelium, welches die ausgewogene Mitte bildet. Die ersten Christen waren angetrieben von diesem befreienden Evangelium. Auf dieser Grundlage lebten sie nach der faszinierenden DNA, die diese Artikelserie beschreibt. Was können wir als Kirche heute davon lernen? Strengen wir uns doch ein bisschen mehr an! Geben wir unser Bestes und verändern diese Welt! Nein. Auch uns werden starker Wille und die höchste Motivation nichts nützen. Auch wir brauchen die Kraft des Evangeliums. Entdecken wir diese geniale Botschaft immer wieder neu. Gott hat durch Jesus das Entscheidende getan. Wir leben von seiner Vergebung und vertrauen ihm. Wir leben für ihn und andere bekommen unsere selbstlose Liebe zu spüren. Die ER in uns bewirkt. Lassen wir uns vom Evangelium antreiben. Und so Gottes Vision von Kirche leben.
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