Säkularisierung oder Transzendenz?

Lesezeit: 6 Minuten
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by Paul Bruderer | 17. Mai. 2020 | 0 comments

Meine Artikel der let­zten Wochen waren vor allem eine Kri­tik an der Post­mod­erne. Doch die Post­mod­erne öffnete Türen für gute Dinge, konkret für die Suche des Men­schen nach Tran­szen­denz. In diesem Artikel illus­triere ich dies anhand der gescheit­erten Idee der Säkularisierung.

Tran­szen­denz (vom Lateinis­chen trans-jen­seits und sedere-schre­it­en) bedeutet den Bere­ich, der jen­seits ein­er Gren­ze liegt. Es gibt Dinge die beispiel­sweise jen­seits der Gren­ze unser­er kör­per­lichen Sinne liegen. Ultra­schall ist für den Men­schen nicht hör­bar, liegt also für unser Gehör im Bere­ich des Tran­szen­den­ten. Für die Fle­d­er­maus trifft dies jedoch nicht zu, denn sie hört Ultra­schall und nutzt ihn für die Nav­i­ga­tion im Dunkeln.

Auch unser Ver­stand hat Gren­zen. Zum Beispiel glaube ich dass die Dreieinigkeit Gottes etwas ist, das real ist, aber let­ztlich von uns Men­schen ver­standesmäs­sig nicht völ­lig ergrün­det wer­den kann. Die Dreieinigkeit Gottes liegt also ver­standesmäs­sig in der Transzendenz.

Unser Uni­ver­sum bildet eine weit­ere Gren­ze. Der Flam­mar­i­on Holzs­tich eines unbekan­nten Kün­stlers wurde zum ersten Mal im Jahr 1888 veröf­fentlicht. Darin ist ein Mann zu sehen, der sich bis an den Rand des Uni­ver­sums durchkämpft, um dort einen Blick in die tran­szen­dente Real­ität Gottes zu erhaschen.

Der Holzs­tich bringt die unbändi­ge Sehn­sucht des Men­schen nach der Tran­szen­denz zum Aus­druck, die auch David in Psalm 63 gespürt hat. David braucht sehr inten­sive Worte des Herzens und der Gefüh­le um seine Sehn­sucht nach dem tran­szen­den­ten Gott zu beschreiben:

Ein Psalm Davids aus der Zeit, als er sich in der Wüste von Juda aufhielt. Gott, mein Gott bist du, dich suche ich. Wie ein Durstiger, der nach Wass­er lechzt, so ver­langt meine Seele nach dir. Mit meinem ganzen Kör­p­er spüre ich, wie groß meine Sehn­sucht nach dir ist in einem dür­ren, aus­getrock­neten Land, wo es kein Wass­er mehr gibt. Mit dem gle­ichen Ver­lan­gen hielt ich im Heilig­tum Auss­chau nach dir, um deine Macht und Her­rlichkeit zu sehen. (Psalm 63:1–3)

Die Vernichtung der Transzendenz?

In den 60-er Jahren ent­stand die The­o­rie der Säku­lar­isierung. Man nahm an, dass die Men­schen Gott nur benöti­gen, um die unerk­lär­baren Real­itäten des Uni­ver­sums zu erk­lären. Man ging davon aus, dass unge­bildete Men­schen auf tran­szen­dente Erk­lärun­gen zurück­greifen, weil sie die Natur und das Uni­ver­sum noch nicht richtig ver­standen haben. Wenn die Wis­senschaft nun immer mehr von dem erk­lärt, wofür man vorher Gott als Erk­lärung benötigte, dann wür­den die Men­schen Gott immer weniger als Erk­lärung brauchen. Je mehr die Wis­senschaft die Welt erk­lärt, desto mehr würde die Reli­gion aus der Gesellschaft ver­schwinden — so die Idee der Säkularisierungs-Theorie.

Nun hat die Säku­lar­isierung tat­säch­lich Einzug gehal­ten, ins­beson­dere in Wes­teu­ropa und Kana­da. Aber die Vor­denker der Säku­lar­isierungs-The­o­rie zeigen mit der Zeit eine wach­sende Irri­ta­tion, dass Reli­gion nicht in dem Mass ver­schwindet, wie sie prog­nos­tiziert haben.

Ein­er der führen­den Expo­nen­ten der Säku­lar­isierungs-The­o­rie war der Reli­gion­ssozi­ologe Peter Berg­er. Berg­er ist vor weni­gen Jahren im hohen Alter gestor­ben. Seine wis­senschaftlichen Stu­di­en überblick­en mehr als fünf Jahrzehnte. Man erken­nt in seinen Veröf­fentlichun­gen eine wach­sende Irri­ta­tion dass seine ursprüngliche The­o­rie nicht eintrifft:

1969: “Wenn die Kom­men­ta­toren sich in Bezug auf Reli­gion über etwas einig sind, dann über fol­gen­des: Das Über­natür­liche hat die mod­erne Welt ver­lassen.” A rumor of angels, Kapi­tel 1, eigene Übersetzung

1969 war noch alles klar: Unsere Welt braucht keine Tran­szen­denz mehr und demzu­folge wird die Sehn­sucht des Men­schen nach Tran­szen­denz rapi­de abnehmen. Diese Zuver­sicht änderte mit der Zeit, wie das näch­ste Zitat zeigt:

1999: “Die Annahme, dass wir in ein­er säku­lar­isierten Welt leben, ist falsch. Mit weni­gen Aus­nah­men ist die Welt entschlossen religiös wie schon immer, in eini­gen Orten sog­ar mehr als früher.” The Desec­u­lar­iza­tion of the World, Seite 1, eigene Übersetzung

Es ist Berg­er hoch anzurech­nen, dass er fair mit den Fak­ten umge­ht. Sein Eingeständ­nis nach 30 Jahren verblüfft: Die Welt ist so religiös wie eh und je. An manchen Orten weniger, an anderen jedoch noch mehr als früher. Und dies trotz immer mehr Erk­lärun­gen der Wis­senschaften über unzäh­lige Aspek­te unser­er Welt! Kurz vor seinem Tod schreibt Berger:

2014: “Die The­o­rie der Säku­lar­isierung grün­dete auf der Idee, dass die Mod­erne das Ende der Reli­gion brin­gen wird. Diese Annahme kann angesichts der vorhan­de­nen Tat­sachen nicht mehr aufrecht erhal­ten wer­den.” The many altars moder­ni­ty, Ein­führung, eigene Übersetzung

Ein Problem der Moderne, eine Chance der Postmoderne

Die Mod­erne ver­suchte durch Ein­satz des men­schlichen Ver­standes und entsprechen­der Wis­senschaft möglichst alles zu erk­lären. Zuver­sichtlich meinte man, man könne damit tran­szen­dente Erk­lärun­gen aus der Welt schaf­fen und die Men­schen wür­den immer weniger religiös wer­den. Klar gab es da intellek­tuelle Riesen wie Immanuel Kant, die uns warn­ten, dass das Tran­szen­dente von uns her zwar nicht erre­icht, aber auch nicht wegerk­lärt wer­den kann. Vielle­icht hät­ten die Reli­gion­ssozi­olo­gen etwas mehr auf Kant hören sollen? Vielle­icht hät­ten sie auch mehr auf David und andere hören sollen, für die Gott nicht ein­fach nur eine pro­vi­sorische Erk­lärung für unver­ständliche Dinge ist, bis die Wis­senschaft sie erk­lären kann.


Es sieht ganz so aus, als sei der Men­sch ‘unheil­bar’ religiös. Unsere Seele ver­langt danach, sich mit etwas zu verbinden, das gröss­er ist als sie selb­st. Wir sind geschaf­fen für Intim­ität mit dem Ewigen. Die Bibel nen­nt das Anbe­tung.

Die Post­mod­erne mit ihrer grösseren Offen­heit für unfer­tige Wahrheit ermöglichte eine grössere Akzep­tanz für die spir­ituelle Suche der Men­schen nach dieser Tran­szen­denz. Die 70-er und 80-er Jahre sahen einen Boom an religiös­er Vielfalt in der Eso­terik und dem Inter­esse an non-dualen (östlichen) Reli­gio­nen. In der Schweiz hielt zum Beispiel eine Med­i­ta­tion­stech­nik Einzug namens tran­szen­den­tale Med­i­ta­tion, mit Haupt­sitz im schö­nen Seel­is­berg, direkt über der berühmtesten Schweiz­er Kuh-Wiese, dem Rütli. Es stimmt, der Men­sch ist ‘unheil­bar’ religiös und die Gesellschaft lässt sich nicht säku­lar­isieren, mod­erne Wis­senschaft hin oder her!

Wo unsere Sehnsucht nach Transzendenz gestillt wird

Doch reicht es, wenn wir uns ein­fach nach etwas Tran­szen­den­tem ausstreck­en? David zeigt uns im Psalm 63, dass let­ztlich nur die Begeg­nung mit DEM Tran­szen­den­ten selb­st, dem per­son­alen Schöpfer dieser Welt, unsere Sehn­sucht stillt. Wir müssen Gott suchen, und zwar um sein­er selb­st willen. Ein­fach nur ‘Tran­szen­denz’ stillt die Sehn­sucht nicht. Wir sehen diesen Punkt im Psalm 63 auf fol­gende Weise. David befind­et sich in der Wüste (siehe Ps 63:1) auf der Flucht vor seinem eige­nen Sohn Absa­lom, der mit ein­er Gruppe von Elite — Sol­dat­en seinen Vater sucht, um diesen umzubrin­gen. Doch David bit­tet Gott nicht um sein Leben son­dern ruft:

Deine Güte ist bess­er als das Leben (Psalm 63:4)

Mit ‘Güte’ ist hier die soge­nan­nte Bun­des-Treue Gottes gemeint. Alles im äusseren Leben von David deutet eher auf Gottes Untreue hin. Immer­hin hat Gott zuge­lassen, dass David von der eige­nen Fam­i­lie an Leib und Leben bedro­ht wird. Doch weil David’s Seele von Sehn­sucht nach dem tran­szen­den­ten Gott erfüllt ist, blickt er an all dem vor­bei. Er streckt sich nach Gott aus, um Gottes selb­st willen! Er will Gott nicht als Mit­tel zum eige­nen Zweck, und sei das sog­ar sein eigenes Leben. Er geht aufs Ganze. Er gibt sich nicht mit weniger zufrieden als mit Gott selbst!

Viele Men­schen leben die Suche nach Tran­szen­denz mit 50% Ein­satz. Sie kom­men zu Gott in den Nöten ihres Lebens. Das dür­fen sie selb­stver­ständlich auch tun! Oft sprechen sie ein Gebet mit unge­fähr dieser Aus­sage: “Gott wenn du da bist: Ich gebe dir alles, wenn du nur mein Gebet erhörst!” Doch sie wollen Gott das eine nicht geben, was er von ihnen wün­scht: dass sie sich für ihn selb­st inter­essieren um sein­er selb­st willen. Erst wenn wir uns für Gott um sein­er selb­st willen inter­essieren, stillt sich unsere Sehn­sucht nach Tran­szen­denz. Gott weiss das. Er hat uns so erschaf­fen, mit dieser einge­baut­en Sehn­sucht nach ihm selbst.

CS Lewis bringt die halb­herzige Suche viel­er Men­schen gut zum Aus­druck in einem wichti­gen Auf­satz namens ‘Das Gewicht der Herrlichkeit’:

“Es scheint, als müssten unsere Sehn­süchte dem Her­rn eher zu schwach als zu gross vorkom­men. Wir sind halb­herzige Geschöpfe, die sich mit Alko­hol, Sex und Kar­riere zufrieden geben, wo uns unendliche Freude ange­boten wird. Wir geben uns viel zu schnell zufrieden!” CS Lewis, Das Gewicht der Her­rlichkeit, meine Hervorhebung

Unsere Lei­den­schaften sind nicht zu stark, son­dern zu schwach — diese Aus­sage gefällt mir sehr! Wenn wir Gott als Mit­tel zum eige­nen, weltlichen Zweck suchen, bleibt unsere Sehn­sucht ungestillt. Denn unse­re See­le ver­langt danach, sich mit etwas zu ver­bin­den, das grös­ser ist als sie selb­st. Wir sind geschaf­fen für Inti­mi­tät mit der ewi­gen Per­son selb­st. Kirchen soll­ten Orte sein, an denen Men­schen in ihrer Suche nach Tran­szen­denz ermutigt wer­den, DEM Tran­szen­den­ten selb­st, dem per­son­alen Schöpfer dieser Welt zu begeg­nen. David ging in die Kirche um Gott zu suchen:

So schaue ich aus nach dir in deinem Heilig­tum, wollte gerne sehen deine Macht und Her­rlichkeit. (Ps 63:3)

Wenn Kirchen von ein­er The­olo­gie bes­timmt sind die das Tran­szen­dente aus der Bibel und aus dem Glauben her­auszuhal­ten ver­suchen, ver­hin­dert diese The­olo­gie genau das, was die Men­schen so nötig haben: Orte wo sie ihrer Suche nach Tran­szen­denz nachge­hen und ihre Sehn­sucht stillen in der Begeg­nung mit Gott, um sein­er selb­st willen. Lasst uns Men­schen und Kirchen sein, welche die selb­stzen­tri­erte Halb­herzigkeit able­gen und lei­den­schaftliche Such­er des tran­szen­den­ten Gottes selb­st werden!

Hier kannst du meinen Vor­trag zu diesem Artikel schauen

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Paul Bruderer

Paul Bruderer, Jahrgang 1972, als Kind von Missionaren in Afrika aufgewachsen, 1998 Gründungsmitglied der erwecklichen ‹Godi›-Jugendarbeit in Frauenfeld. Seit 2001 Pastor in der Chrischona Gemeinde Frauenfeld. Paul lebt mit seiner Familie in Frauenfeld, Schweiz.

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