Auszeit einer Kriegerin

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by Matthias Claudius | 24. Nov. 2021 | 0 comments

Die Szene spielt in der Ein­stiegsse­quenz des Action-Block­busters „John Wick“: Sein ehe­ma­liger rus­sis­ch­er Auf­tragge­ber, ein Mafi­achef, erin­nert sich mit schaud­ern daran, wie John als „Mann für beson­dere Auf­gaben“ konzen­tri­ert seine Arbeit ver­richtet: „Ich sah ein­mal, wie er drei Män­ner mas­sakri­erte. Mit einem einzi­gen Bleis­tift als Waffe.“

Wer die Jour­nal­istin Bir­git Kelle in den ver­gan­genen Jahren pub­lizis­tisch beobachtet hat, der wird erlebt haben, wie diese Frau zu ähn­lichem mit ihrem Schreibgerät in der Lage ist. Allerd­ings filetiert sie mit Vor­liebe total­itäre Denk­fig­uren, linke Ide­olo­gien im Gewand der Weltverbesserung oder Ver­suche den gesun­den Men­schen­ver­stand durch Utopia-Ver­sprechun­gen zu erset­zen. Und natür­lich die Pro­tag­o­nis­ten der „drit­ten Welle der sex­uellen Rev­o­lu­tion“, also jene, die ver­suchen den Schmerz über die Ungle­ich­heit der Geschlechter damit zu lösen, indem die Kat­e­gorien von Mann und Frau durch eine beliebige Vielfalt erset­zt wer­den soll.

Wo Frei­heit­srechte beschnit­ten wer­den und sich der Staat als Über­vater gebärdet, wird Kelle gerne zum Mut­terti­er und vertei­digt die Luftho­heit über den Kinder­bet­ten mit spitzer Fed­er. Das Wort Gen­der-Gaga hat sie nicht nur erfun­den und damit die vom Fam­i­lien­min­is­teri­um üppig finanzierte Blöße des Kaisers offen­bart, son­dern mit dem gle­ich­nami­gen Buch auch das Stan­dard­w­erk geschrieben, dass die Nebelk­erzenide­olo­gie als eben­solche sicht­bar wer­den lässt. In den saison­al wiederkehren­den Sex­is­mus- und „Metoo“-Debatten bringt Kelle regelmäßig ihr Gegenüber in Atem­not: Leg­endär die Talk­show bei Markus Lanz, wo sie den Stern-Chefredak­teur Andreas Pet­zold und die „Recherchemeth­o­d­en“ sein­er Jour­nal­istin in der Brüder­le-Affäre hochge­hen ließ.

Das alles also kann man erwarten, wenn Bir­git Kelle zum Grif­fel greift, um für die Frei­heit des Bürg­ers und die Ord­nung der Dinge in diesem Land zu stre­it­en. Das alles find­et in ihrem neuen Buch aber nicht statt. Und das ist ein Registerwechsel.

In „Camino“ hat die Kämpferin ihr poli­tis­ches Leben hin­ter sich gelassen und die Schuhe geschnürt. Die Ord­nung der Dinge, um die es hier geht, ist einzig und allein die Ord­nung ihrer ganz per­sön­lichen Dinge: Was ist aus mir gewor­den? Und — was soll noch aus mir noch wer­den? Fra­gen, die in der Lebens­mitte nach vorne drän­gen und noch andere Dimen­sio­nen berühren:  Wo bist Du Gott? Und was war dein Plan mit mir und warum hörst du mir eigentlich nicht zu?

Es ist eine Novem­ber­reise, auf die uns die Autorin mit­nimmt. Und sie nimmt uns hinein nicht nur in die Uneben­heit­en des erdi­gen Unter­grun­des spanis­ch­er Feld­wege unter ihren Füßen, son­dern auch zu den bluti­gen Füßen selb­st: In die Anklänge von Scheit­ern und Neuan­fän­gen, von zer­broch­enen Hoff­nun­gen und der Sehn­sucht nach einem Leben, das mit dem größeren Strom der Hoff­nung ver­bun­den ist.

Glück­licher­weise hat Kelle auf ihrer Reise ihren Bleis­tift benutzt, aber sie zieht dies­mal viel zarte Sait­en auf und bringt diese auch zum Klin­gen: In den Gefährten und Wege­lager­ern, in deren Lebens­geschicht­en und Gesten sich etwas spiegelt, was nicht nur vorder­gründig orig­inell ist, son­dern auch Res­o­nanzflächen für die eigene Seele bietet. Dieser Innen­schau ist berührend und nimmt mit auf einen Weg, dessen Charme in einem geheimnisvollen und doch ambiva­len­ten Erleben kul­miniert: Unver­füg­barkeit. Die Wege echter Begeg­nun­gen mit anderen und mit sich selb­st sind immer unvorherse­hbar und unverfügbar.

„Camino“ ist ein Sehn­suchts­buch gewor­den: nach Ruhe, nach Raus-aus-der-Müh­le. Ein Buch, das sehr per­sön­liche Ein­blicke gibt und doch eine Keuschheit wahrt, die nie über­fordert, aber unbe­d­ingt Ver­bun­den­heit her­stellt. Der üppige Bildteil – auch das ein Novum in den bish­eri­gen Veröf­fentlichun­gen der Autorin – schafft Funken­flug im Auge des Betra­chters. Und so will man nach der Lek­türe vor allem eines: sein Bün­del schnüren und sich auch auf den Weg machen. Und ja – Camino ist wie alle anderen Büch­er der Autorin auch ein mutiges Buch gewor­den. Anders mutig, anmutig.

 

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