Die Szene spielt in der Einstiegssequenz des Action-Blockbusters „John Wick“: Sein ehemaliger russischer Auftraggeber, ein Mafiachef, erinnert sich mit schaudern daran, wie John als „Mann für besondere Aufgaben“ konzentriert seine Arbeit verrichtet: „Ich sah einmal, wie er drei Männer massakrierte. Mit einem einzigen Bleistift als Waffe.“
Wer die Journalistin Birgit Kelle in den vergangenen Jahren publizistisch beobachtet hat, der wird erlebt haben, wie diese Frau zu ähnlichem mit ihrem Schreibgerät in der Lage ist. Allerdings filetiert sie mit Vorliebe totalitäre Denkfiguren, linke Ideologien im Gewand der Weltverbesserung oder Versuche den gesunden Menschenverstand durch Utopia-Versprechungen zu ersetzen. Und natürlich die Protagonisten der „dritten Welle der sexuellen Revolution“, also jene, die versuchen den Schmerz über die Ungleichheit der Geschlechter damit zu lösen, indem die Kategorien von Mann und Frau durch eine beliebige Vielfalt ersetzt werden soll.
Wo Freiheitsrechte beschnitten werden und sich der Staat als Übervater gebärdet, wird Kelle gerne zum Muttertier und verteidigt die Lufthoheit über den Kinderbetten mit spitzer Feder. Das Wort Gender-Gaga hat sie nicht nur erfunden und damit die vom Familienministerium üppig finanzierte Blöße des Kaisers offenbart, sondern mit dem gleichnamigen Buch auch das Standardwerk geschrieben, dass die Nebelkerzenideologie als ebensolche sichtbar werden lässt. In den saisonal wiederkehrenden Sexismus- und „Metoo“-Debatten bringt Kelle regelmäßig ihr Gegenüber in Atemnot: Legendär die Talkshow bei Markus Lanz, wo sie den Stern-Chefredakteur Andreas Petzold und die „Recherchemethoden“ seiner Journalistin in der Brüderle-Affäre hochgehen ließ.
Das alles also kann man erwarten, wenn Birgit Kelle zum Griffel greift, um für die Freiheit des Bürgers und die Ordnung der Dinge in diesem Land zu streiten. Das alles findet in ihrem neuen Buch aber nicht statt. Und das ist ein Registerwechsel.
In „Camino“ hat die Kämpferin ihr politisches Leben hinter sich gelassen und die Schuhe geschnürt. Die Ordnung der Dinge, um die es hier geht, ist einzig und allein die Ordnung ihrer ganz persönlichen Dinge: Was ist aus mir geworden? Und — was soll noch aus mir noch werden? Fragen, die in der Lebensmitte nach vorne drängen und noch andere Dimensionen berühren: Wo bist Du Gott? Und was war dein Plan mit mir und warum hörst du mir eigentlich nicht zu?
Es ist eine Novemberreise, auf die uns die Autorin mitnimmt. Und sie nimmt uns hinein nicht nur in die Unebenheiten des erdigen Untergrundes spanischer Feldwege unter ihren Füßen, sondern auch zu den blutigen Füßen selbst: In die Anklänge von Scheitern und Neuanfängen, von zerbrochenen Hoffnungen und der Sehnsucht nach einem Leben, das mit dem größeren Strom der Hoffnung verbunden ist.
Glücklicherweise hat Kelle auf ihrer Reise ihren Bleistift benutzt, aber sie zieht diesmal viel zarte Saiten auf und bringt diese auch zum Klingen: In den Gefährten und Wegelagerern, in deren Lebensgeschichten und Gesten sich etwas spiegelt, was nicht nur vordergründig originell ist, sondern auch Resonanzflächen für die eigene Seele bietet. Dieser Innenschau ist berührend und nimmt mit auf einen Weg, dessen Charme in einem geheimnisvollen und doch ambivalenten Erleben kulminiert: Unverfügbarkeit. Die Wege echter Begegnungen mit anderen und mit sich selbst sind immer unvorhersehbar und unverfügbar.
„Camino“ ist ein Sehnsuchtsbuch geworden: nach Ruhe, nach Raus-aus-der-Mühle. Ein Buch, das sehr persönliche Einblicke gibt und doch eine Keuschheit wahrt, die nie überfordert, aber unbedingt Verbundenheit herstellt. Der üppige Bildteil – auch das ein Novum in den bisherigen Veröffentlichungen der Autorin – schafft Funkenflug im Auge des Betrachters. Und so will man nach der Lektüre vor allem eines: sein Bündel schnüren und sich auch auf den Weg machen. Und ja – Camino ist wie alle anderen Bücher der Autorin auch ein mutiges Buch geworden. Anders mutig, anmutig.
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