Die Kronzeugen der modernen Homosexualitäts-Bewegung waren antike Griechen, deren Praxis Paulus kritisierte. Dies stellt ein oft gehörtes Argument im theologischen Diskurs unserer Tage in Frage. Dieser Artikel ist eine Einladung auf eine Entdeckungsreise in die Anfänge der modernen homosexuellen Bewegung.
Ein Artikel über Homosexualität: das ist nichts, was ich mir ausgesucht hätte. Doch meine Nachforschungen, an deren Anfang ein Zufall steht, könnten für verschiedene Leserkreise interessant sein. Ich publiziere sie deshalb als Beitrag an die laufende Diskussion — ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Endgültigkeit.
Was möchte ich präsentieren? Es ist die These, dass die erste Generation der modernen homosexuellen Emanzipationsbewegung massgeblich von der hellenistischen Kultur und ihren verschiedenen Ausprägungen gleichgeschlechtlicher Sexualität inspiriert war. Im Kontrast zu meiner These steht das Bemühen einer Theologen-Gilde, möglichst viel Abstand zwischen der modernen homosexuellen Emanzipationsbewegung und der Antike herzustellen. Das vielgehörte Argument dieser Gilde entpuppt sich meines Erachtens als künstlich und realitätsfern.
Ausgangspunkt für meine Recherchen ist eine zufällige Entdeckung in meinen Sommerferien. Mehr dazu nach einer kurzen Auslegeordnung.
Ausgangslage
Dass die homosexuelle Bewegung der Moderne sich von den Griechen und der Antike hat inspirieren lassen, mag für einige Leser logisch klingen. Warum eigentlich nicht?! Mir war das aber bis vor kurzem überhaupt nicht klar. Das liegt daran, dass meine Wahrnehmung der Thematik stark durch die Diskussionen im theologisch konservativen kirchlichen Milieu geprägt ist. Vielen Leserinnen und Lesern dürfte bewusst sein, dass in diesem Milieu seit einigen Jahren eine heftige Auseinandersetzung zu sexualethischen Themen im Gang ist. Die Stichworte Lauten: Ehe für alle, kirchliche Segnungsfeiern für gleichgeschlechtliche Paare, Integration von LGBT+-Lebensentwürfen ins kirchliche Leben usw.
Natürlich ist für theologisch konservative Christen und Christinnen (zu denen ich mich zähle) die Frage zentral, was die Bibel zum Thema sagt. Die Bibel bewertet sexuelle Handlungen mit einer Person des gleichen Geschlechts ausschliesslich negativ. Entsprechend präsentiert sich historisch auch die Lehre und Haltung der Kirche.[1]
Heute ist die Lage jedoch deutlich unübersichtlicher. So werden nun auch im erweiterten evangelikalen und pietistischen Umfeld Stimmen laut, LGBT+-Lebensentwürfe ins (frei)kirchliche Leben zu integrieren und in diesem Zug auch moralisch aufzuwerten. Dazu muss im theologisch konservativen Lager Überzeugungsarbeit geleistet werden. Die Frage lautet: Wie könnten Konservative eigentlich überzeugt werden?
Wer konservative Christinnen oder Christen zu einer Meinungsänderung bewegen will, kommt nicht umhin, sich mit den einschlägigen biblischen Texten auseinander zu setzen und zu begründen, warum diese Texte anders gedeutet werden sollen als in den vergangenen 2000 Jahren. Advokaten für eine positive Neubewertung homosexueller Lebensgemeinschaften bauen dabei massgeblich auf das Argument, dass die moderne Ausprägung von gleichgeschlechtlicher Sexualität wenig bis gar nichts mit den antiken Formen von gleichgeschlechtlichem Sex zu tun habe.
Damals, so wird argumentiert, fand gleichgeschlechtlicher Sex fast immer in einem ungleichen Machtverhältnis statt und war deshalb ausbeuterischer Natur, Stichwort Päderastie. Ein älterer Mann bedient sich eines Jünglings oder männlichen Sklaven für seine homosexuelle Handlung. Im Unterschied dazu gäbe es in vielen homosexuellen Beziehungen heute kein derartiges Gefälle, sie seien liebevoll und beruhten auf Gegenseitigkeit. Das Konzept einer in der Person angelegten sexuellen Orientierung sei dem antiken Denken völlig fremd. Wir haben es heute also – so das Argument — mit einem Phänomen zu tun, das erst lange nach der Entstehung der biblischen Bücher ethisch angemessen reflektiert wurde. Es sei also ein massiver Anachronismus zu meinen, die Bibelstellen hätten etwas von Belang zu den heute ausgelebten Formen von Homosexualität zu sagen. Sie sind lediglich in Hinblick auf ausbeuterische Formen, insofern es diese heute noch gibt, von Relevanz.
Beispielhaft bringt der progressive christliche Leiter Rev. Dr. Caleb J Lines diese Argumentation kürzlich in einem Ticktok-Video auf den Punkt:
«Römer 1:26–27 verurteilt die hellenistische Kultur, nicht aber die LGBT Gemeinschaft» [2]
Ganz ähnlich kommentiert der Worthaus-Theologe Siegfried Zimmer in seinem Vortrag “Die schwule Frage” die bekannte Römerstelle:
«Dieser Text hat überhaupt nichts zu tun mit dem, was wir heute unter einer lebenslangen schwulen Persönlichkeitskonstante kennen – das kennt Paulus nicht.»[3]
Das soeben vorgestellte Argument ist ein eleganter Weg, um sich gleichzeitig Bibel-liebend und als Alliierter der LGBT+ Bewegung präsentieren zu können. Das Argument geht so: Weil die hellenistische Kultur gleichgeschlechtliche Sexualität nur in ausbeuterischen und durch Machtgefälle geprägte Formen kannte, können wir voll hinter deren Verurteilung durch Paulus stehen. Doch heute ist die LGBT+-Gemeinschaft durch liebevolle Beziehung auf Augenhöhe geprägt. Das ist etwas ganz anderes. Dazu sagt die Bibel gar nichts. Solche Beziehungen dürfen und sollten wir feiern!
Dieses Argument funktioniert jedoch nur insofern, als es (Bedingung ‘A’) diesen postulierten wesentlichen Unterschied gibt und (Bedingung ‘B’) die Bibel sich tatsächlich nur auf diese Formen ausgelebter Homosexualität bezieht. Wir befassen uns in diesem Artikel nur mit der Bedingung ‘A’. Die Bedingung ‘B’ bräuchte einen eigenen Artikel. Immerhin ist es denkbar, dass die betreffenden Bibelstellen – über damalige kulturelle Formen gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen hinaus – durchaus auch einvernehmliche und dauerhafte homosexuelle Beziehungen auf Augenhöhe im Blick haben und diese nicht gutheissen. Aber bleiben wir mal bei ‘A’. Gibt es diesen postulierten wesentlichen Unterschied?
Tatsache ist, dass die antike Literatur sehr wohl unterschiedlichste Ausprägungen homosexueller Beziehungen dokumentiert. Sie beschreibt nicht nur ausbeuterische Formen, sondern auch auf gegenseitiger Anziehung beruhende und auf Dauer angelegte gleichgeschlechtliche Beziehungen. Eine gute Einführung dazu gibt der Vortrag «Sexuelle Orientierung in der Antike und im Neuen Testament» von Prof. Dr. Armin Baum. Darin dokumentiert dieser anhand antiker Quellen unter anderem, dass das Phänomen einer homosexuellen Orientierung, die sich nicht als willkürlich gewähltes Sexualverhalten, sondern als starke Neigung darstellt, in der Antike weithin bekannt war, auch wenn sich deren Beschreibung teilweise anderer Narrative bedient als unsere Zeit. In einem weiteren interessanten Beitrag belegt Dr. Preston Sprinkle dass es ehe-ähnliche, teilweise sogar rechtlich definierte Verbindungen zwischen Homosexuellen in der Antike gab.[4] Zwar scheint es keine reguläre homosexuelle Ehe im Sinne unserer heuten zivilen Ehe gegeben zu haben, aber das Selbstverständnis der Beteiligten war, dass sie eine Ehe-äquivalente Beziehung leben.
An diese Darlegung möchte ich nun anknüpfen mit meiner eigenen Beobachtung. Mein Standpunkt ist, dass Personen wie Rev. Dr. Caleb J. Lines oder Siegfried Zimmer möglicherweise nicht nur die hellenistische Kultur zu wenig studiert haben, sondern auch die moderne homosexuelle Emanzipationsbewegung nicht wirklich kennen. Für die Gründerfiguren der modernen homosexuellen Emanzipationsbewegung war nämlich die hellenistische Antike sehr wohl ein wichtiger Bezugspunkt. Dies hat sich vielfältig ausgewirkt auf die Ausgestaltung ihrer Beziehungen, ihre Apologetik, ihre Wortschöpfungen, ihr Schreiben und Dichten, ihre Architektur und ihre Malerei. Einem nicht unbedeutenden Teil dieser Pioniere der modernen homosexuellen Emanzipation ging es gar darum, mit ihrem Lebensstil den Geist des alten Griechenlands zu neuem Leben zu erwecken.
Dies möchte ich nachfolgend an einigen Beispielen dokumentieren.
Eine zufällige Entdeckung
Im Tessin, im wunderschönen Süden der Schweiz, darf ich seit vielen Jahren eine herrschaftliche alte Villa verwalten und ab und zu auch selbst mit meiner Familie nutzen. Der Zufall will es, dass dieses Haus unmittelbar neben dem Elisarion steht, einem kleinen Kulturzentrum im Besitz der örtlichen politischen Gemeinde.
Ich habe mich nie gross für das Gebäude und deren Geschichte interessiert, bis ich diesem Sommer auf die Idee kam, nach alten Photos vom Nachbargebäude zu suchen, um dabei auch auf Aufnahmen von unserem Anwesen zu stossen. Tatsächlich wurde ich fündig im Photoarchiv der Politischen Gemeinde, welche dem Elisarion eine ganze Abteilung widmet. Da fand sich nicht nur unser Haus im Hintergrund des einen oder anderen Bildes, da entfaltete sich auch das Elisarion in seiner ganzen ehemaligen Pracht.
Manch eine Bildperspektive im Photoarchiv mutete eher wie eine griechische Tempelanlage an, als wie die übliche Tessiner Baukunst jener Zeit. Da reihte sich Säule an Säule in einem wunderschönen Garten. Aber nicht nur das Äussere war Aufsehen erregend. Das Innere hatte es mindestens so in sich. Denn dort reihte sich ein Gemälde ans andere. Und diese Gemälde zeigten eigentlich nur ein Motiv: Nackte, androgyn wirkende Männerkörper. Ja, unser Ferienhaus steht anscheinend direkt neben einem ehemaligen homoerotischen Tempel aus der Gründerzeit der modernen homosexuellen Bewegung. Die Leuchtfiguren und Gründer der Kultstädte: Elisar von Kupffer (1872–1942) und sein Partner, der Kunsthistoriker Eduard von Mayer (1873–1960).
Heute ist von der Blütezeit wenig erhalten. Die offenen Säulengänge sind verschwunden. In den 70er Jahren wurde das Gebäude auch innen vandalisiert und entstellt. Gerettet werden konnte jedoch das malerische Herzstück, die «Klarwelt der Seligen», welche man heute in einem Pavillon des nahegelegenen Monte Verita besichtigen kann. Das runde Panoramabild zeigt auf 16 Leinwänden 84 nackte Jünglinge, die in 33 Szenen angeordnet sind. Das Werk war als optisches Herzstück im Rundbau des Elisarion konzipiert und stellt eine Art Paradiesgarten dar. Dieser Rundbau war das innerste ‘Heiligtum’ des «Klarismus», der von Kupffer und Mayer gegründeten Glaubenslehre.
Warum mir die geschichtsträchtigen Hintergründe der Nachbarliegenschaft bisher entgangen sind, weiss ich nicht. Eines jedenfalls hat mich bei ihrer Entdeckungen überrascht: mit welcher Selbstverständlichkeit im Elisarion am Anfang der modernen Homosexuellen-Bewegung auf die griechische Antike zurückgegriffen wird. Es war offensichtlich, dass die griechische Antike auf diese beiden schwulen Pioniere eine tiefe Faszination ausgeübt hat.
Das war die Geburtsstunde meiner Frage: Könnte es sein, dass die erste Generation der modernen homosexuellen Emanzipationsbewegung nicht etwa auf Abstand zu den alten Griechen gehen wollte, sondern sich vielmehr von ihnen inspirieren ließ?
Elisar von Kupffer, Eduard von Mayer
Tatsächlich hat sich der Ersteindruck bestätigt. Elisar von Kupffer und Eduard von Mayer waren zutiefst von der griechischen Antike inspiriert. Dies zeigt sich zum Beispiel im kleinen Kunstführer, den Mayer 1904 über Pompei publizierte. Die Ruinenstadt Pompei mit ihren klassisch-hellenistischen Einflüssen war im Jahr 1899 das Ziel einer Forschungsreise von ihm und Kupffer gewesen.
Jede Seite des kleinen Büchleins atmet die Liebe und Begeisterung für das, was sie in Pompei vorfanden. Am meisten beeindruckt war Mayer von der Narkissos-Figur. Diese 1862 entdeckte Bronzefigur, welche den altgriechischen Gott Dionysos als schönen Jüngling darstellt, liess Mayer vollends ins Schwelgen kommen:
«Eben im Epheben, dem Jüngling von 18 Jahren ab, ist der Ausgleich der beiderlei Formen vollkommen; er vereinigt die herbe Kraft des eng Männlichen mit der weichen Anmut des Weiblichen…»[5]
Mayers Partner Kupffer ergänzte das Büchlein mit sinnlichen Gedichten. Es ist auch hier in Pompei, wo Kupffer das Vorwort zu seinem bekanntesten literarischen Werk verfasst, eine Anthologie homoerotischer Literatur mit dem Titel «Lieblingminne und Freundesliebe in der Weltliteratur». Publiziert wurde die Anthologie im Verlag von Adolf Brand (1874–1945). Brand war unter anderem auch Herausgeber der Zeitschrift «Der Eigene», der weltweit ersten Homosexuellen Zeitschrift.
Die Anthologie präsentiert eine Vielzahl von homoerotischen Texten aus vergangenen Zeiten, darunter viele aus der griechischen Antike. Die Einleitung gewährt einen erhellenden Einblick in die Empfindungswelt und das Denken von Kupffer. Dieser fordert die «Wiederbelebung einer männlichen Kultur»[6] und «dass die Männer sich einander anschliessen, dass die jüngeren in nahem Verhältnis zu älteren stehen»[7]. Er fordert die Etablierung einer Kultur nach griechischem Vorbild. Diese beinhaltete «die Möglichkeit des Auslebens unserer Triebe und Kräfte, doch ohne Gewalttätigkeit»[8]. Kupffer argumentiert, dass Hochkulturen stets im Zusammenhang mit der Entfaltung einer homoerotischen Kultur standen, weshalb es im Interesse des Staates sei, diese zu fördern:
«Und gerade deshalb nur, weil ich das nahe Verhältnis von Mann zu Mann, vom Manne zum Jüngling, vom Jüngling zum Jüngling für ein starkes Element des Staates und der Kultur halte, habe ich mich im Interesse des gemeinen Wohls und der persönlichen freien Entwicklung dieser schwierigen Arbeit unterzogen. Jeder vernünftige Mensch muss sich doch fragen: Kann das ein Zufall sein, dass so viel hervorragende Vertreter unserer Kulturgeschichte diese Neigung und diese Liebesverhältnisse gepflegt haben…»[9]
In diesem Zitat wird sichtbar, dass Elisar von Kupffer auch in Bezug auf das Alter verschiedene mögliche Variationen gleichgeschlechtlicher erotischer Verhältnisse begrüsst und für gesellschaftlich erbauend hält, ob es nun Liebesverhältnisse von Mann zu Mann, Jüngling zu Jüngling, oder Mann zu Jüngling (Ephebophilie bzw. Päderastie) geht. Es wird hier auch sichtbar, dass er gleichgeschlechtliche Beziehungen früherer Zeiten nicht einfach nur als ausbeutend bewertet. Vielmehr spricht er von einer Neigung, welche dann in der Form von verschieden ausgerichteten Liebesverhältnissen gelebt wurden.
Kupffer wehrt sich ausdrücklich gegen Zeitgenossen, welche den Menschen der Antike das individuell-persönliche Bewusstsein, die identitätsstiftende emotionale Innenwelt absprechen:
«Da stehen wir wieder vor zwei Schlagworten: objektiv und subjektiv. Das eine soll antik und veraltet, das zweite modern und neu sein. Als ob die Antiken nicht ebenso persönlich empfanden!»[10]
Diese Einblicke zeigen die tiefe Verbundenheit von Kupffer und Mayer mit dem antiken Hellenismus. In dieser sahen sie ihre eigenen Gefühlswelten gespiegelt.
Es ist auch kein Zufall, dass Mayer seinen eigenen Verlag nach einem bekannten Hügel in Griechenland benannte: «Klaristischer Verlag Akropolis» — inklusive hübschem Silhouetten-Logo des berühmten Tempelhügels.
Kupffer und Mayer hatten also eine ganz andere Perspektive auf die Ära der alten Griechen als die erwähnte Theologen-Gilde uns nahelegt. Während diese Theologen möglichst viel Abstand zwischen der modernen homosexuellen Bewegung und der Antike kreieren wollen, war das Bestreben bei den Gründern des Elisarion genau umgekehrt. Sie sahen sich als Erben und leidenschaftliche Nachahmer des Hellenismus. In den Texten der Antike schürften sie nach all dem, was sie für ihre Zeit fruchtbar machen wollten. In den Liebhaberbeschichten der Antike entdeckten sie nicht einfach ausbeuterische und übergriffige Sexualität, sondern Liebesbeziehungen unter selbstbestimmten Persönlichkeiten. Ihr Argument: Weil in der Antike solche Liebesbeziehungen stattfanden, ja, diese Form der ‘Minne’[11] sogar die kulturelle Überlegenheit des Hellenismus gegenüber dem düsteren Mittelalter verbürgte, sollten wir solche Liebesbeziehungen auch heute tolerieren, akzeptieren, gar fördern.
Zeitschriften “Der Eigene” und “der Kreis”
Kupffer war kein No-Name, sondern eine durchaus wichtige Stimme der damaligen homophilen Szene. Der Einleitungstext zu seiner Anthologie sollte weitere Verbreitung finden. Er wurde 1899 auch in der Zeitschrift «der Eigene» abgedruckt. Das Zielpublikum dieser weltweit ersten Zeitschrift für Homosexuelle waren gemäss Herausgeber Adolf Brand (1874–1945) Männer, die «dürsten nach einer Erweckung griechischer Zeiten und hellenistischer Massstäbe der Schönheit nach Jahrhunderten christlichen Barbarismus»[12].
Hier tritt mit grosser Klarheit zutage, was für eine Bedeutung die griechische Antike an der Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts im homophilen Milieu hatte. Dieses Milieu – zumindest dasjenige der weltweit ersten zielgruppenspezifischen Zeitschrift — wollte gleichsam ein neues Zeitalter griechischer Hochkultur einläuten, samt Kultivierung verschiedener Formen gleichgeschlechtlicher romantischer Beziehungen, welche die Antike geprägt hatte. Damit kontrastierte in ihrer Vorstellung der unterdrückerische ‘christliche Barbarismus’, den es zu überwinden galt. Dem antiken Ideal stand das zeitgenössische Christentum im Wege, so das Argument – das dem unserer Theologen-Gilde heute diametral entgegenläuft.
Das Umfeld der Zeitschrift «der Eigene» hatte auch seine intellektuellen Aushängeschilder. Eine ihrer wichtigen Figuren war der Zoologe und Sexualwissenschaftler Benedict Friedländer (1866–1908). Friedländer fordert in seinem substanziellen Buch «Die Renaissance des Eros Uranios» (1908) die «Wiederbelebung der hellenischen Lieblingsminne und deren soziale Anerkennung, jedoch mit möglichster Vermeidung aller sexueller Ausschreitungen»[13]. Für ihn ist klar: «Im alten Hellas und Rom wurde die gleichgeschlechtliche Liebe für etwas ebenso Selbstverständliches gehalten wie die andere.»[14]. In einem rhetorischen Rundumschlag prangert er eine Gesellschaft an, welche aus seiner Sicht blind ist für die offensichtliche Verbindung homophiler Beziehungen mit der Grandiosität der alten griechischen Welt:
«Was habt ihr gegen eine Sitte, die doch bei einem so hervorragenden, und in vielen Richtungen unerreichten Volke, wie den Griechen herrschend und anerkannt gewesen ist? Einen Trieb, der mehr oder minder immer und überall vorhanden und geduldet ist? Warum haltet ihr diese Neigung für schändlich und bedroht mit sozialen und legalen Nachteilen Diejenigen, welche ihr folgen? Nicht wir, sondern Ihr seid die sittenhistorische und sittengeographische Ausnahme, das Unicum, das Phänomen»[15]
Eine andere wichtige Figur im Umfeld der Zeitschrift war der Philologe Paul Brandt (1875–1929), der 1925 unter dem Pseudonym ‘Hans Licht’ das bekannte Werk «Sittengeschichte Griechenlands» veröffentlichte. Dieses umfangreiche Werk ist eine einzige Lobeshymne auf die Sexualität der Griechen in ihren unterschiedlichsten Spielarten. Das Buch wurde bis in die späten 1970er hinein verlegt. Ein Einblick in die Einleitung zur 1959er Ausgabe macht klar, wer die Guten und wer die Bösen sind:
«Wollen wir die verwirrende Vielfalt des erotischen Lebens der Griechen auf eine einfache Formel bringen, so scheidet ihre Toleranz sie von unserer Intoleranz!»[16]
Hier wird der Grundmodus der ersten Zeitschrift für Homosexuelle wieder gut sichtbar. Das Problem ist nicht die ‘tolerante’ griechische Sexualmoral der Antike, sondern die intolerante, vom Christentum geprägte Sexualmoral der Gegenwart. Ein kleiner Auszug aus der abschliessenden Zusammenfassung des Werkes verdeutlicht dies noch einmal:
«Dadurch, dass das Sexuelle nicht mit dem Schleier des Geheimnisvollen bedeckt oder gar durch den Makel des Sündigen zur verbotenen Frucht gemacht wurde, ferner dadurch, dass die schier unbändige Sinnlichkeit der Griechen stets durch das Verlangen nach Schönheit veredelt wurde, entwickelte sich ein Geschlechtsleben in überquellender Kraft, aber auch beneidenswerter Gesundheit. Das sieht man schon daraus, dass die sexuellen Perversionen, die im heutigen Leben eine beklagenswert grosse Rolle spielen, im alten Griechenland so selten vorkamen.»
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten bedeutete 1933 das Ende der Zeitschrift «der Eigene». Interessant ist, dass dessen Erbe in der Schweiz angetreten wurde. Es ist der Schweizer Karl Meier (1897–1974), damals Assistent des Herausgebers Adolf Brand, der mit einem Teil der Schriften in die Schweiz flüchtet, wo er 1943 die Homophilen-Zeitschrift «Der Kreis» ins Leben ruft. Diese Zeitschrift wurde in den 1940er und 1950er Jahren zum führenden Medium der Homophilen-Bewegung in Europa und Nordamerika.[17]
Die erste Ausgabe von «Der Kreis» wird programatisch eingeläutet durch den Abdruck der Reden des Phaidros und des Pausanias aus dem «Symposion» von Plato[18]. Die griechische Spur wird wie ein eingewobener Faden durch alle Publikationsjahre von «der Kreis» gehen und mit der Darstellung von ‘Orest und Pylades’ in der letzten Ausgabe der Zeitschrift enden, im Dezember 1967.[19]
Edward Carpenter, John Addington Symonds
Dass Herren wie Kupffer und Mayer nicht irgendwelche Exoten waren, sondern durchaus eingebunden in ein internationales Netz, zeigt das schriftliche Oeuvre des bekannten britischen Dichters Edward Carpenter (1844–1929).
Carpenter, der ab 1891 mit einem 22 Jahre jüngeren Partner zusammenlebte, publizierte diverse Bücher zur Thematik der gleichgeschlechtlichen Liebe[20]. In seinem Buch «Intermediate Types among Primitive Folk» (1914) schwärmt er beispielsweise von den Freundschaften unter dorischen Männern. Diese seien «militärische Freundschaften der leidenschaftlichen Art gewesen», was «den Kriegseifer der beteiligten immens gesteigert habe». Die «homosexuelle Neigung» unter diesen Kriegern habe «Heroismus, Mut, Ressourcen und Ausdauer» hervorgebracht[21].
Wie schon bei den bisher vorgestellten Persönlichkeiten wird klar, dass Carpenter die gleichgeschlechtlichen Beziehungen der griechischen Antike als auf Gegenseitigkeit beruhend wahrgenommen hat. Vollends tritt dies zutage in seinem Werk «Ioläus» (1902), einer «Anthologie für die Freundschaft».
Die innere Verwandtschaft dieses Buches zur ‘Lieblingsminne’ von Elisar von Kupffer war nicht zufällig. «Ioläus» war inspiriert von Kupffers jüngst erschienenem Werk. Wie ich aus persönlichen Kontakten ins Umfeld des heutigen Elisarion weiss, liess Carpenter Kupffer sogar ein mit Widmung signiertes Exemplar von «Ioläus» zukommen.[22]
Wer «Ioläus» liest, muss sich bewusst sein, dass das Wort ‘Freundschaft’ im Buch ein Platzhalter ist für die gleichgeschlechtliche Liebe. Damit konnte Carpenter eine allfällige Zensur umgehen. Sein Insiderpublikum verstand aber die Botschaft; das Buch avancierte zu einem Klassiker in der homophilen Szene. Das liegt nicht nur an der kunstvoll-bibliophilen Ausführung, sondern sicher auch an der emotionellen Intensität der darin geschilderten homophilen Freundschaften. So beschreibt Carpenter in der Einleitung des Buches die Lebenswelt der antiken Griechen folgendermassen:
«Wenn wir zur höheren Kultur des griechischen Zeitalters kommen, ist das Material zum Glück reichlich vorhanden — nicht nur für die Bräuche, sondern auch für die inneren Gefühle, die diese Bräuche inspirierten.»[23]
An anderer Stelle schreibt er:
«Die bereits erwähnte Tatsache, dass die Romantik der Liebe bei den Griechen hauptsächlich gegenüber männlichen Freunden empfunden wurde, führte natürlich dazu, dass ihre Dichtung weitgehend von der Freundschaft inspiriert war, und die griechische Literatur enthält eine große Anzahl von Gedichten dieser Art… »[24]
Man beachte hier Formulierungen wie ‘Material zum Glück’, ‘innere Gefühle’, ‘gegenüber männlichen Freunden’ oder ‘Romantik der Liebe’ (kursive Betonung im Original). In solchen Formulierungen wird sehr deutlich, dass Carpenter in den antiken Berichten über gleichgeschlechtliche Beziehungen tiefe emotionale Verbundenheit, Freundschaft auf Augenhöhe und auf gegenseitigen Gefühlen basierende Beziehungen entdeckt.
Dies alles ist ein ziemliches Kontrastprogramm zu den Ausführungen der Theologen, die in der etwa von Paulus kritisierten römisch-griechischen Kultur ausschliesslich ausbeuterische oder durch krasse Machtgefälle geprägte Formen der gleichgeschlechtlichen Sexualität entdecken. Man kann Carpenter unterstellen, er habe seine Wunschvorstellungen in die antiken Texte hineinprojiziert. Man kann es aber auch anders sehen: Dass vielleicht gerade eine Person mit gleichgeschlechtlicher Neigung wie Carpenter eine besondere Sensibilität für die homoerotischen Texte der Antike hatte. Auf alle Fälle sollte die Sicht Carpenters wahrgenommen werden.
Noch bedeutender als Elisar von Kupffer war für Carpenter sicher sein Landsmann John Addington Symonds (1840–1893), den er in «Ioläus» immer wieder referenziert, und mit dem er auch einen persönlichen Briefwechsel pflegte. Der Poet und Literaturkritiker Symonds hat als erster im englischsprachigen Raum nachweislich den Begriff ‘homosexuell’ verwendet, und zwar in seinem 1883 publizierten Buch «A Problem in Greek Ethics». Dieses in der Geschichte der homosexuellen Bewegung als Meilenstein geltende Werk befasste sich – wie könnte es anders sein – mit der griechischen Antike. Das Wort ‘homosexuell’ fällt gleich in den ersten Zeilen, die folgendermassen lauten:
«Für den Studenten der sexuellen Inversion bietet das antike Griechenland ein weites Feld für Beobachtungen und Überlegungen. Seine Bedeutung wurde bisher von den medizinischen und juristischen Autoren unterschätzt, die sich nicht bewusst zu sein scheinen, dass wir nur hier in der Geschichte das Beispiel einer grossen und hochentwickelten Rasse haben, die homosexuelle Leidenschaften nicht nur toleriert, sondern für spirituell wertvoll gehalten und versucht hat, diese zum Nutzen der Gesellschaft zu verwenden.»[25]
In den formativen ersten Jahrzehnten der modernen homosexuellen Emanzipationsbewegung wurde mit ganz verschiedenen Begrifflichkeiten für die gleichgeschlechtliche Liebe operiert. Elisar von Kupffer verwendete Begriffe wie ‘Lieblingminne’ und ‘Freundesliebe’, andere in Umlauf befindliche Begriffe waren ‘sexuellen Inversion’ oder ‘intermediate Sex’. Der bekannte homosexuelle Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld (1868–1935) sprach vom ‘dritten Geschlecht’. Vor ihm noch hatte Karl Heinrich Ulrichs (1825–1895) Begriffe wie die ‘mannmännlichen Liebe’ oder die des ‘Urning’ geprägt. Hinter all diesen Wortschöpfungen standen teilweise ziemlich unterschiedliche Ansichten und Vorstellungen über das Wesen und die Ursachen der gleichgeschlechtlichen Orientierung. Schlussendlich durchgesetzt hat sich das Wort ‘Homosexualität’, dies jedoch gegen diverse Widerstände innerhalb der Bewegung.
Es ist meines Erachtens doch bedeutsam, dass die erste Verwendung des Begriffs ‘Homosexualität’ im englischsprachigen Raum im direkten Zusammenhang mit dem antiken Griechenland steht. Symonds bezeichnet die gleichgeschlechtliche Sexualität im antiken Griechenland als ‘homosexuelle Leidenschaft’. Einmal mehr wird die klare Verbindung mit der griechischen Antike sichtbar, welche die Pioniere der homosexuellen Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts bewusst gesucht haben: griechische gleichgeschlechtliche Liebe war homosexuelle Liebe.
Karl Heinrich Ulrichs, Magnus Hirschfeld, Heinrich Hössli
Es ist der eben erwähnte Karl Heinrich Ulrichs, der als Erster in der modernen Ära ein öffentliches ‘Coming out’ vollzog. In zahlreichen Schriften entwickelte der deutsche Jurist ab 1864 seine wissenschaftlichen Theorien zur ‘mannmännlichen Liebe’. Seine Hauptthese: Homosexualität oder eben die ‘mannmännliche Liebe’ ist angeboren. Er war der Überzeugung, der männliche Homosexuelle besitze eine weibliche Seele in einem männlichen Körper.
Eine andere seiner Begriffsschöpfungen für eine männliche Person, die homosexuell veranlagt ist, war der ‘Urning’. Angeregt zu dieser Begriffsschöpfung wurde Ulrichs durch die Rede des Pausanias in Platons Symposion[26] — wiederum ein griechischer Bezug.
Ziemlich eindrücklich ist sein Coming-Out Brief an seine Schwester Luise aus dem Jahre 1862. Aus Platzgründen kann er hier nicht eingehend besprochen werden. Nur soviel: Auch darin finden wir den Bezug zu den antiken Griechen. Ulrichs verteidigt seine Überzeugungen unter anderem wie folgt:
«Es gibt auch uranische Ehen, d. i. Naturehe, eheähnliche Liebesverhältnisse. Im alten Griechenland waren sie sehr verbreitet.»[27]
Ganz allgemein lassen sich bei den modernen homosexuellen Pionieren zwei Arten des Umgangs mit der griechischen Antike beobachten. Während sie für die einen so etwas wie eine utopistische Vision darstellte, diente sie anderen eher als Instrument, um Skeptiker zu überzeugen. Die griechische Antike war also Inspiration und Apologie. Ich vermute Ulrichs gehört eher in zweite Kategorie. Sein Argument: Wenn wir heute die Anerkennung von homosexuellen Beziehungen einfordern, dann stehen wir in der guten Tradition der antiken Griechen.
Ebenfalls in die apologetische Kategorie gehört wohl Magnus Hirschfeld. Hirschfeld argumentierte als Arzt weniger mit kulturellen als mit biologischen Erklärungen und versuchte die Homosexualität, mit Darwin als modernem Gewährsmann, in der Geschichte der Evolution zu verorten[28].
Hirschfeld verfolgte ein ehrgeiziges politisches Ziel: die Aufhebung von § 175 des deutschen Strafgesetzbuches, der sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte. Die griechische Antike diente ihm als Beweis der hohen Moral und kulturbildenden Kraft gleichgeschlechtlicher Anziehung. So gab er 1896 seiner ersten schriftlichen Verteidigung der Homosexualität den Titel «Sappho and Socrates»[29] — als Gewährsleute für weibliche bzw. männliche Homosexualität. Der Rückgriff auf die Dichterin von Lesbos und den Athener Philosophen sollte wohl seinen medizinischen Ausführungen Nachdruck verleihen. Hirschfeld war auch wichtig, Homosexualität in möglichst vielen früheren bzw. fremden Kulturen nachzuweisen, was er u.a. in seinem 1000-seitigen Buch «Die Homosexualität des Mannes und des Weibes» auch ausführlich tat. Ein Beispiel:
«Erst aus dem Studium der literarisch oft sehr verborgen liegenden Überlieferungen erfahren wir, dass es sich hier nicht um Erscheinungen von Heute handelt, sondern um solche, die so weit zurückreichen, als uns überhaupt Urkunden zur Verfügung stehen… Ist doch die älteste Quelle, auf die wir in dem Kapitel Geschichte der Homosexualität Bezug nehmen, ein ägyptischer Papyrus, seit dessen Abfassung viertausendfünfhundert Jahre verflossen sind»[30]
Hirschfeld hätte heutigen Theologen, die seinen antiken Helden die auf Liebe und natürliche Veranlagung basierende gleichgeschlechtliche Beziehung absprechen wollen, ziemlich sicher entschieden widersprochen.
Heute wird Hirschfeld als grosser Held gefeiert. Strassen werden nach ihm benannt. Dabei schreckte er nicht vor dubiosen medizinischen Experimenten zurück. Er verabreichte männlichen Ratten Östrogen[31], beteiligte sich an der Transplantation von Hoden eines heterosexuellen Mannes auf einen homosexuellen im Versuch, diesen von seiner ungewünschten Neigung zu heilen und damit eine hormonelle oder biologische Ursache für Homosexualität nachzuweisen[32]. Er war in den Versuch einer chirurgischen Geschlechtsumwandlung von Ainar Wegener in Lili Elbe – die Geschichte wurde in The Danish Girl verfilmt – involviert, die mit dem Tod der Person endete.[33]
Zum Schluss meiner Beleuchtung historischer Figuren scheint es angezeigt, dass ich als Schweizer noch auf Heinrich Hössli (1784–1864) zu sprechen komme. Es ist meines Wissens nicht bekannt ist, ob Hössli selbst homosexuell veranlagt war oder nicht. Doch sein 1836 publiziertes Buch mit dem Titel «Eros, Die Männerliebe der Griechen, ihre Beziehungen zur Geschichte, Erziehung, Literatur und Gesetzgebung aller Zeiten» wurde eine höchst einflussreiche Quelle für die damals noch nicht lancierte homosexuelle Emanzipationsbewegung. Hössli zeigte darin beispielhaft, wie die ‘Männerliebe’ des Hellenismus apologetisch verwertet werden könnte für eine neue Zeit. Hier ein Einblick in seine Gedankengänge. Er schreibt hier konkret über ‘Männerliebe’:
«Schon die griechische Literatur allein bietet unzählige Beweise für das Vorhandensein und die Wahrheit einer Natur, welche die Griechen, sein grosses Volk und seine Zeit, in ihren Eros mit seinem ganzen Kreis des Wissenschaftlichen, Kunstvollen und Religiösen zur tiefsten Lebensidee in Gesetz und Sitten hervorgehoben und geläutert haben.»[34]
Hössli, ein Fabrikant aus dem Glarnerland ohne höhere humanistische Bildung, avancierte zum frühesten Impulsgeber für die Queer-Studies und westlichen Sexualitäts-Diskurse unserer Tage, indem er anhand der Würdigung antiker pansexueller Kultur die Natürlichkeit und Sittlichkeit von Homosexualität zu begründen suchte.
Sicher trug auch die damals neu erwachte, von archäologischen Aufbrüchen und dem Neoklassizismus befeuerte Vorliebe für die Antike dazu bei, dass Hössli und die auf ihn folgenden Pioniere um die Jahrhundertwende ein für ihre Ideen empfängliches, empathisches Lesepublikum fanden.[35] Der Hellenismus war in Mode, was ein guter Nährboden für die zaghaften Anfänge der modernen homosexuellen Bewegung war.
Natur oder Kultur?
Noch ein letzter, für das Verständnis der in diesem Artikel vorgestellten Persönlichkeiten wichtiger Hinweis: Die Lektüre ihrer Schriften zeigt, wie sie jeweils das kulturelle Erbe der griechischen Antike in unterschiedlicher Weise in ihre eigene Lebenswelt integriert haben. Leute wie Elisar von Kupffer, Adolf Brand oder John Carpenter kamen richtiggehend ins Schwelgen und wollten die KULTUR Griechenlands quasi in ihre eigene Zeit implementieren. Demgegenüber haben sich Personen wie Karl Heinrich Ulrichs oder Magnus Hirschfeld auf die alten Griechen berufen, um eine Theorie der Homosexuellen NATUR zu begründen.
Freilich war der gemeinsame Kampf um die Entkriminalisierung von homosexuellen Handlungen eine starke Verbindung zwischen diesen beiden Kreisen. Abgesehen davon gab es aber auch ziemlich grundlegende Differenzen.
Die Vertreter der ‘Kultur’-Seite störten sich an einer möglichen Pathologisierung von Homosexualität durch den evolutionsbiologischen und medizinischen Blick Hirschfelds. Sie sahen die Geschlechtlichkeit des Menschen weniger durch die Natur vorherbestimmt als durch Kultur geformt. Sexualität sahen sie eher als etwas Fluides an, auf einem breiten Spektrum angelegt zwischen Hetero- und Homosexuell. Benedict Friedländer etwa ging davon aus, dass der Mensch gleichzeitig zu einer gleichgeschlechtlichen und einer gegengeschlechtlichen Anziehung fähig war:
«Bei den alten Kulturvölkern wurde es für ein ebenso menschliches, ebenso natürliches, ebenso moralisches und ebenso häufiges Vorkommnis angesehen, wenn jemand einen schönen Jüngling liebte, wie wenn der Gegenstand seiner Liebessehnsucht ein weibliches Wesen war. Im Allgemeinen sah man es als triviale Wahrheit an, dass der Mann beider Richtungen des Liebestriebes fähig war.»[36]
Die Debatte zwischen beiden Grundannahmen besteht bis heute. Magnus Hirschfeld prägte mit seinen Theorien sicher die breite Öffentlichkeit. Seine Sicht auf sexuelle Orientierung als Veranlagung und eine mehr oder weniger lebenshinderliche, aber die mentale Gesundheit nicht notwendigerweise belastende Spielart der Natur lieferte die besseren Argumente für die Entkriminalisierung von Homosexualität.
Doch die Vertreter der Kultur-Fraktion stehen keineswegs auf der Verliererseite. Ihre Konzepte finden etwa Eingang in Theorien wie die des Begründers der modernen Sexologie Alfred Kinsey (1894–1956). Die nach ihm benannte ‘Kinsey Skala’[37] postulierte auf der Basis einer umfangreichen Umfrage, dass Menschen nicht in exklusive heterosexuelle oder homosexuelle Kategorien passen. Zudem sind die Konzepte der Vertreter der Kultur-Fraktion äusserst Anschlussfähig an aktuelle Themen wie Gender-Fluidität oder nichtbinärer Geschlechtsidentität.[38]
Persönliches Fazit
Es ist klar, dass ich mit dem vorliegenden Streifzug durch die ersten Jahrzehnte der modernen homosexuellen Bewegung nur die Oberfläche angekratzt habe. Da liegt Stoff für die eine oder andere Doktorarbeit. Diese müssen aber andere mit mehr Zeitressourcen und weitergehenden historischen Kenntnissen schreiben. Um den Umfang des Beitrages zu begrenzen habe ich z.B. bewusst darauf verzichtet, Texte aus der Antike zu zitieren oder zu kommentieren. Mir lag nicht daran, zu erörtern, WAS in der Antike geschrieben wurde, sondern WIE die Antike von der ersten Generation der homosexuellen Emanzipationsbewegung wahrgenommen wurde.
Dabei hat sich mir meine Ausgangsthese klar bestätigt, wenn auch mit gewissen Ausdifferenzierungen. Die griechisch anmutende Ausgestaltung des Elisarion, welche der Ausgangspunkt für meine Recherche war, war jedenfalls kein Zufall. Vielmehr war sie eingebettet in eine homophile Kultur, welche sehr bewusst in der griechischen Antike Inspiration und Orientierung gesucht und gefunden hat. Diese Inspiration lässt sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten, Intensitäten und Funktionalitäten durch die gesamte erste Phase der modernen homosexuellen Emanzipationsbewegung verfolgen.
Natürlich präsentiert sich die homosexuelle Bewegung in unseren Tagen etwas anders als vor 100 Jahren. Die moderne homosexuelle Bewegung blickt heute auf ihre eigene, 150-Jährige Geschichte zurück und muss nicht ‚bei Adam und Eva’, sprich Sappho und Sokrates anknüpfen, sondern kann sich eben auf einen Ulrichs, einen Hirschfeld oder einen Carpenter berufen. Sie hat eigene identitätsstiftende Ereignisse wie die Stonewall-Unruhen von 1969 in der Timeline. Sie kann sich auf die Theorien der Unterdrückungsgeschichte wie sie Marxismus und kritische Theorie liefern, berufen und auf viele andere Argumente mehr. Trotzdem ist die Kultur, welche die Pioniere des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aufleben lassen wollten, sehr wohl präsent. Man könnte sogar argumentieren, dass die Visionen von Elisar von Kupffer und Zeitgenossen in unseren Tagen ihre Verwirklichung sehen: Die Ablösung eines scheinbar intoleranten christlichen ‘Barbarismus’ durch eine neue und scheinbar tolerante ‘griechische Zeit’ der sexuellen Vielfalt scheint mit der aktuellen Dominanz von LGBT+ Tatsache zu werden.
Klar ist für mich auch, dass neben der griechischen Antike noch andere kulturelle und weltanschauliche Kräfte Einfluss auf die Pioniere der Homosexuellen Emanzipation ausübten. John Carpenter zog beispielsweise 1891 mit seinem Partner zusammen, nachdem er zuvor Indien und Sri Lanka bereist hatte und dort auch gleichgeschlechtliche Rituale miterlebt hatte.[39] Der ‘Klarismus’ von Elisar von Kupffer und Eduard von Mayer war unter anderem von neureligösen Strömungen wie der Theosophie beeinflusst. Solche weiteren Einflussfaktoren tun jedenfalls der überragenden Stellung der ‘alten Griechen’ in den Schriften und im Wirken homosexueller Pioniere keinen Abbruch.
Was die aktuelle Diskussion unter den Theologen anbelangt, die ich anfangs geschildert habe, so hat sich meine Wahrnehmung doch deutlich verändert. Ich sehe sie jetzt ein stückweit als eine künstliche und isolierte Diskussion, die der Realität nicht wirklich gerecht wird. Denn historisch gesehen hat die moderne homosexuelle Bewegung MIT den antiken Griechen argumentiert und nicht gegen sie. Ob nun die Gründerfiguren der modernen homosexuellen Bewegung die griechische KULTUR wieder aufleben lassen wollten, oder ob sie die griechische Antike für den Nachweis einer homosexuellen NATUR beigezogen haben: Beide Ansätze stehen in klarem Widerspruch zum Bemühen der erwähnten Theologen-Gilde, antike gleichgeschlechtliche Liebe von ihrer modernen Ausprägung zu entkoppeln.
Warum werden die klassischen Argumente der Begründer der modernen homosexuellen Emanzipationsbewegung den ‘Bibel-Freunden’ vorenthalten? Vielleicht hat die Theologen-Gilde diese gar nicht studiert? Ich vermute das dürfte bei vielen der Fall sein. Doch zumindest der Theologe Thorsten Dietz scheint sich eingelesen zu haben. In einem Vortrag erwähnt er gewisse Bezüge zur Antike bei den modernen schwulen Pionieren. Dies jedoch nur, um diese Bezugnahmen als fehlgeleitete Versuche dazustellen. Ich finde, hier werden diese Pioniere gerade nicht ernst genommen, egal ob ihre historischen Rückbezüge nun fehlerbehaftet waren oder nicht. Tatsache ist: Diese Bezüge waren für sie weder belanglos noch unbedeutend. Sie waren fundamentale Bestandteile ihrer Argumentationen und ihrer gesellschaftlichen Visionen.
Vielleicht ist es letzendlich so, dass der Zweck die Mittel heiligt, wenn es darum geht, konservative Christen zu überzeugen. Da dürfen historische Fakten auch mal relativiert oder unterschlagen werden, wenn es der Sache dient. Aus meiner Sicht gelingt der Versuch nicht, ‘fromme’ konservative Christen auf diese Weise zu überzeugen. Grundbedingung ‘A’, welche einen wesentlichen Unterschied zwischen antiker und moderner Ausprägung von gleichgeschlechtlicher Sexualität postuliert, steht auf äusserst wackeligen Beinen, hält den Realitäten meines Erachtens nicht stand. Daraus folgt: Die Aussagen der Bibel müssen – zumindest für Christen, die sich an ihr orientieren wollen – wieder mit diesen verschiedenen Realitäten ausgelebter Homosexualität in Zusammenhang gebracht werden.
Damit bin ich am Schluss meiner kleinen Forschungsreise angelangt. Für mich hat sich einiges geklärt. Es bleiben natürlich auch offene Fragen. Ich hoffe zumindest, dass dieser Beitrag einen interessanten und transparenten Einblick in die Anfänge der modernen homosexuellen Bewegung geboten hat. Das sollten hoffentlich alle schätzen können, unabhängig von theologischen Positionierungen und Diskussionen.
Titelbild: Peter Bruderer
Fussnoten:
[1] Bis vor wenigen Jahrzehnten war eine positive Bewertung von gleichgeschlechtlichen sexuellen Beziehungen im Christentum undenkbar, wie z.B. das Buch «Unchanging Witness» gut aufzeigt: https://www.amazon.de/Unchanging-Witness-Consistent-Christian-Homosexuality/dp/1433687925/ref=sr_1_1?__mk_de_DE=ÅMÅŽÕÑ&crid=1KEW14T0YLTZX&keywords=unchanging+witness+fortson&qid=1693824283&sprefix=unchanging+witness+fortson%2Caps%2C136&sr=8–1
[2] https://www.facebook.com/reel/253344637585463
[3] https://youtu.be/VLf-umCdAkg?feature=shared&t=3650
[4] https://www.centerforfaith.com/blog/did-consensual-same-sex-sexual-relationships-exist-in-biblical-times-a-response-to-matthew
[5] Eduard von Mayer, Pompeji in seiner Kunst, 1904, S50
[6] Elisar v. Kupffer (hrg.), Lieblingsminne und Freundesliebe in der Weltliteratur, 1900, S2
[7] Elisar v. Kupffer (hrg.), Lieblingsminne und Freundesliebe in der Weltliteratur, 1900, S2
[8] Elisar v. Kupffer (hrg.), Lieblingsminne und Freundesliebe in der Weltliteratur, 1900, S4
[9] Elisar v. Kupffer (hrg.), Lieblingsminne und Freundesliebe in der Weltliteratur, 1900, S7
[10] Elisar v. kupffer (hrg.), Lieblingsminne und Freundesliebe in der Weltliteratur, 1900, S8
[11] mittelhochdeutsch für „Liebe“
[12] Adolf Brand, Über unsere Bewegung, Der Eigene 1889, Nr. 2, S100-101, Zitiert und Übersetzt aus: Harry Oosterhuis, Hubert Kennedy (Ed.), Homosexuality and Male Bonding in Pre-Nazi Germany, S3
[13] Benedict Friedländer, Die Renaissance des Eros Uranios, 1908, S259
[14] Benedict Friedländer, Die Renaissance des Eros Uranios, 1908, S5
[15] Benedict Friedländer, Die Renaissance des Eros Uranios, 1908, S11
[16] Prof. Dr. Hans Licht, Sittengeschichte Griechenlands, Neu-Bearbeitung 1959, S23 (Einleitung durch Herbert Lewandowsky)
[17] Ausgaben der Zeitschrift der Kreis können unter folgendem Link eingesehen werden: https://www.e‑periodica.ch/digbib/volumes?UID=kre-003
[18] Der Kreis, Januar 1943, Einsehbar: https://www.e‑periodica.ch/digbib/view?pid=kre-003%3A1943%3A11%3A%3A6#12
[19] Der Kreis, Dezember 1967, Einsehbar: https://www.e‑periodica.ch/digbib/view?pid=kre-003%3A1967%3A35%3A%3A471#483
[20] Erwähnenswert sind: Love’s Coming of Age (1896) mit einem Kapitel zum Thema; The Intermediate Sex (1912); Intermediate Types among Primitive Folk (1914)
[21] Edward Carpenter, Intermediate Types among Primitive Folk, 1914, S87-88, meine Übersetzung
[22] Persönliche Quelle
[23] Edward Carpenter, Ioläus, 1902, S4, meine Übersetzung
[24] Edward Carpenter, Ioläus, 1902, S67, meine Übersetzung
[25] John Addington Symonds, A Problem in Greek Ethics, 1901, S1, meine Übersetzung
[26] Ulrichs zitiert den Entsprechenden Abschnitt als programmatischen Vorspann zu seiner ersten, unter dem Namen Uranus geplanten Zeitschrift, 1870, Vgl: Karl Heinz Ulrichs, Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe, I‑V, Herausgegeben von Hubert Kennedy, 1994, Vorwort
[27] Karl Heinz Ulrichs, Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe, I‑V, Herausgegeben von Hubert Kennedy, 1994, S46
[28] Vgl. Harry Oosterhuis, Hubert Kennedy (Ed.), Homosexuality and Male Bonding in Pre-Nazi Germany, S2
[29] https://bildsuche.digitale-sammlungen.de/index.html?c=viewer&l=en&bandnummer=bsb00089681&pimage=00005&v=100&nav=
[30] Magnus Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, 2. Auflage 1920, IX
[31] Robert Beachy, Gay Berlin, 2014, S173-174
[32] Robert Beachy, Gay Berlin, 2014, S175
[33] https://mh-stiftung.de/biografien/lili-elbe/
[34] Heinrich Hössli, Eros, Die Männerliebe der Griechen, ihre Beziehungen zur Geschichte, Erziehung, Literatur und Gesetzgebung aller Zeiten, 1836, S125
[35] https://en.m.wikipedia.org/wiki/Greek_Revival_architecture
[36] Benedict Friedländer, Die Renaissance des Eros Uranios, 1908, S6
[37] https://de.wikipedia.org/wiki/Kinsey-Skala
[38] https://de.wikipedia.org/wiki/Nichtbin%C3%A4re_Geschlechtsidentit%C3%A4t#genderfluid
[39] Von einem solchen Ritual berichtet Carpenter im Buch From Adam’s Peak to Elephanta: Sketches in Ceylon and India, 1912
Hi lieber Peter,
sehr interessant, vielen Dank für Deine Mühe !
Ich finde es unheimlich schwierig als Hetero-Mensch, zu diesem Thema einen ausgewogenen Zugang zu bekommen…
Ich möchte niemanden verurteilen, nicht ausgrenzen, nicht menschenfeindlich sein… und andererseits möchte ich trotzdem gerne Gottes Willen kennen und verstehen…
Ich frage mich daher :
Soll ich hier konkrete moralische Konsequenzen ziehen und wenn ja, welche ?
Ist allein schon die homosexuelle Neigung eine Hamartia (=Tatsünde) oder nur deren praktisches Ausleben ?
Was wäre denn jeweils die drastischste und die mildeste Konsequenz ?
Gemeindeausschluss von Betroffenen analog zu 1. Kor 5 ?
Die Homosexualität „wegbeten“ ?
An Keuschheit appellieren ?
Das sind Fragen die ich mir immer wieder stelle als verheirateter Heteromann, der seine Sexualität laut Bibel wohl „gottgefällig“ in seiner Ehe ausleben darf… was Homosexuellen ja anscheinend verwehrt zu sein scheint…
Müsste ich es daher wie der Pharisäer in Luk 18,11 machen und Gott dafür danken ? ( wohl eher nicht… aber wer ist nicht geneigt so zu denken…wenn wir mal ehrlich sind…?)
Beste Grüsse !
Thomas
Hallo Thomas
Danke für deine Rückmeldung und deinen Rückfragen. Hast du die kürzlich erschienenen Artikel meines Bruders schon gelesen über Kirche als ‘Raum der Gnade’? Vielleicht findest du dort ein paar Ansatzpunkte. Hier geht es zum ersten der drei Artikel: https://danieloption.ch/featured/kirche-als-raum-der-gnade‑1–3/
Einmal mehr beweist du deine kritisches Denken und deine Recherchefähigkeiten, Belesenheit und vieles mehr. Herzlichen Dank für diesen erhellenden Artikel zur Diskussion.
Vielen Dank, Daniel. Es war tatsächlich eine sehr interessante Recherche.