Der Geist der alten Griechen

Lesezeit: 23 Minuten
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by Peter Bruderer | 28. Okt. 2023 | 4 comments

Die Kro­nzeu­gen der mod­er­nen Homo­sex­u­al­itäts-Bewe­gung waren antike Griechen, deren Prax­is Paulus kri­tisierte. Dies stellt ein oft gehörtes Argu­ment im the­ol­o­gis­chen Diskurs unser­er Tage in Frage. Dieser Artikel ist eine Ein­ladung auf eine Ent­deck­ungsreise in die Anfänge der mod­er­nen homo­sex­uellen Bewegung.

Ein Artikel über Homo­sex­u­al­ität: das ist nichts, was ich mir aus­ge­sucht hätte. Doch meine Nach­forschun­gen, an deren Anfang ein Zufall ste­ht, kön­nten für ver­schiedene Leserkreise inter­es­sant sein. Ich pub­liziere sie deshalb als Beitrag an die laufende Diskus­sion — ohne Anspruch auf Voll­ständigkeit oder Endgültigkeit.

Was möchte ich präsen­tieren? Es ist die These, dass die erste Gen­er­a­tion der mod­er­nen homo­sex­uellen Emanzi­pa­tions­be­we­gung mass­ge­blich von der hel­lenis­tis­chen Kul­tur und ihren ver­schiede­nen Aus­prä­gun­gen gle­ichgeschlechtlich­er Sex­u­al­ität inspiri­ert war. Im Kon­trast zu mein­er These ste­ht das Bemühen ein­er The­olo­gen-Gilde, möglichst viel Abstand zwis­chen der mod­er­nen homo­sex­uellen Emanzi­pa­tions­be­we­gung und der Antike herzustellen. Das viel­ge­hörte Argu­ment dieser Gilde ent­pup­pt sich meines Eracht­ens als kün­stlich und real­itäts­fern.

Aus­gangspunkt für meine Recherchen ist eine zufäl­lige Ent­deck­ung in meinen Som­mer­fe­rien. Mehr dazu nach ein­er kurzen Auslegeordnung.

Ausgangslage

Dass die homo­sex­uelle Bewe­gung der Mod­erne sich von den Griechen und der Antike hat inspiri­eren lassen, mag für einige Leser logisch klin­gen. Warum eigentlich nicht?! Mir war das aber bis vor kurzem über­haupt nicht klar. Das liegt daran, dass meine Wahrnehmung der The­matik stark durch die Diskus­sio­nen im the­ol­o­gisch kon­ser­v­a­tiv­en kirch­lichen Milieu geprägt ist. Vie­len Leserin­nen und Lesern dürfte bewusst sein, dass in diesem Milieu seit eini­gen Jahren eine heftige Auseinan­der­set­zung zu sex­u­alethis­chen The­men im Gang ist. Die Stich­worte Laut­en: Ehe für alle, kirch­liche Seg­nungs­feiern für gle­ichgeschlechtliche Paare, Inte­gra­tion von LGBT+-Lebensentwürfen ins kirch­liche Leben usw.

Der ‘Narkissos’ von Pom­pei (Aus: Eduard von May­er, Pom­pe­ji in sein­er Kun­st, 1904) Bild: Peter Bruderer

Natür­lich ist für the­ol­o­gisch kon­ser­v­a­tive Chris­ten und Christin­nen (zu denen ich mich zäh­le) die Frage zen­tral, was die Bibel zum The­ma sagt. Die Bibel bew­ertet sex­uelle Hand­lun­gen mit ein­er Per­son des gle­ichen Geschlechts auss­chliesslich neg­a­tiv. Entsprechend präsen­tiert sich his­torisch auch die Lehre und Hal­tung der Kirche.[1]

Heute ist die Lage jedoch deut­lich unüber­sichtlich­er. So wer­den nun auch im erweit­erten evan­ge­likalen und pietis­tis­chen Umfeld Stim­men laut, LGBT+-Lebensentwürfe ins (frei)kirchliche Leben zu inte­gri­eren und in diesem Zug auch moralisch aufzuw­erten. Dazu muss im the­ol­o­gisch kon­ser­v­a­tiv­en Lager Überzeu­gungsar­beit geleis­tet wer­den. Die Frage lautet: Wie kön­nten Kon­ser­v­a­tive eigentlich überzeugt werden?

Wer kon­ser­v­a­tive Christin­nen oder Chris­ten zu ein­er Mei­n­ungsän­derung bewe­gen will, kommt nicht umhin, sich mit den ein­schlägi­gen bib­lis­chen Tex­ten auseinan­der zu set­zen und zu begrün­den, warum diese Texte anders gedeutet wer­den sollen als in den ver­gan­genen 2000 Jahren. Advokat­en für eine pos­i­tive Neube­w­er­tung homo­sex­ueller Lebens­ge­mein­schaften bauen dabei mass­ge­blich auf das Argu­ment, dass die mod­erne Aus­prä­gung von gle­ichgeschlechtlich­er Sex­u­al­ität wenig bis gar nichts mit den antiken For­men von gle­ichgeschlechtlichem Sex zu tun habe.

Damals, so wird argu­men­tiert, fand gle­ichgeschlechtlich­er Sex fast immer in einem ungle­ichen Machtver­hält­nis statt und war deshalb aus­beu­ter­isch­er Natur, Stich­wort Päderastie. Ein älter­er Mann bedi­ent sich eines Jünglings oder männlichen Sklaven für seine homo­sex­uelle Hand­lung. Im Unter­schied dazu gäbe es in vie­len homo­sex­uellen Beziehun­gen heute kein der­ar­tiges Gefälle, sie seien liebevoll und beruht­en auf Gegen­seit­igkeit. Das Konzept ein­er in der Per­son angelegten sex­uellen Ori­en­tierung sei dem antiken Denken völ­lig fremd. Wir haben es heute also – so das Argu­ment — mit einem Phänomen zu tun, das erst lange nach der Entste­hung der bib­lis­chen Büch­er ethisch angemessen reflek­tiert wurde. Es sei also ein mas­siv­er Anachro­nis­mus zu meinen, die Bibel­stellen hät­ten etwas von Belang zu den heute aus­gelebten For­men von Homo­sex­u­al­ität zu sagen. Sie sind lediglich in Hin­blick auf aus­beu­ter­ische For­men, insofern es diese heute noch gibt, von Relevanz.

Aus: Eduard von May­er, Pom­pe­ji in sein­er Kun­st, 1904, Bild: Peter Bruderer

Beispiel­haft bringt der pro­gres­sive christliche Leit­er Rev. Dr. Caleb J Lines diese Argu­men­ta­tion kür­zlich in einem Tick­tok-Video auf den Punkt:

«Römer 1:26–27 verurteilt die hel­lenis­tis­che Kul­tur, nicht aber die LGBT Gemein­schaft» [2]

Ganz ähn­lich kom­men­tiert der Worthaus-The­ologe Siegfried Zim­mer in seinem Vor­trag “Die schwule Frage” die bekan­nte Römerstelle:

«Dieser Text hat über­haupt nichts zu tun mit dem, was wir heute unter ein­er lebenslan­gen schwulen Per­sön­lichkeit­skon­stante ken­nen – das ken­nt Paulus nicht.»[3]

Das soeben vorgestellte Argu­ment ist ein ele­gan­ter Weg, um sich gle­ichzeit­ig Bibel-liebend und als Alli­iert­er der LGBT+ Bewe­gung präsen­tieren zu kön­nen. Das Argu­ment geht so: Weil die hel­lenis­tis­che Kul­tur gle­ichgeschlechtliche Sex­u­al­ität nur in aus­beu­ter­ischen und durch Macht­ge­fälle geprägte For­men kan­nte, kön­nen wir voll hin­ter deren Verurteilung durch Paulus ste­hen. Doch heute ist die LGBT+-Gemeinschaft durch liebevolle Beziehung auf Augen­höhe geprägt. Das ist etwas ganz anderes. Dazu sagt die Bibel gar nichts. Solche Beziehun­gen dür­fen und soll­ten wir feiern!

Dieses Argu­ment funk­tion­iert jedoch nur insofern, als es (Bedin­gung ‘A’) diesen pos­tulierten wesentlichen Unter­schied gibt und (Bedin­gung ‘B’) die Bibel sich tat­säch­lich nur auf diese For­men aus­gelebter Homo­sex­u­al­ität bezieht. Wir befassen uns in diesem Artikel nur mit der Bedin­gung ‘A’. Die Bedin­gung ‘B’ bräuchte einen eige­nen Artikel. Immer­hin ist es denkbar, dass die betr­e­f­fend­en Bibel­stellen – über dama­lige kul­turelle For­men gle­ichgeschlechtlich­er sex­ueller Hand­lun­gen hin­aus – dur­chaus auch ein­vernehm­liche und dauer­hafte homo­sex­uelle Beziehun­gen auf Augen­höhe im Blick haben und diese nicht gutheis­sen. Aber bleiben wir mal bei ‘A’. Gibt es diesen pos­tulierten wesentlichen Unterschied?

Tat­sache ist, dass die antike Lit­er­atur sehr wohl unter­schiedlich­ste Aus­prä­gun­gen homo­sex­ueller Beziehun­gen doku­men­tiert. Sie beschreibt nicht nur aus­beu­ter­ische For­men, son­dern auch auf gegen­seit­iger Anziehung beruhende und auf Dauer angelegte gle­ichgeschlechtliche Beziehun­gen. Eine gute Ein­führung dazu gibt der Vor­trag «Sex­uelle Ori­en­tierung in der Antike und im Neuen Tes­ta­ment» von Prof. Dr. Armin Baum. Darin doku­men­tiert dieser anhand antik­er Quellen unter anderem, dass das Phänomen ein­er homo­sex­uellen Ori­en­tierung, die sich nicht als willkür­lich gewähltes Sex­u­alver­hal­ten, son­dern als starke Nei­gung darstellt, in der Antike wei­thin bekan­nt war, auch wenn sich deren Beschrei­bung teil­weise ander­er Nar­ra­tive bedi­ent als unsere Zeit. In einem weit­eren inter­es­san­ten Beitrag belegt Dr. Pre­ston Sprin­kle dass es ehe-ähn­liche, teil­weise sog­ar rechtlich definierte Verbindun­gen zwis­chen Homo­sex­uellen in der Antike gab.[4] Zwar scheint es keine reg­uläre homo­sex­uelle Ehe im Sinne unser­er heuten zivilen Ehe gegeben zu haben, aber das Selb­stver­ständ­nis der Beteiligten war, dass sie eine Ehe-äquiv­a­lente Beziehung leben.

Aus: Eduard von May­er, Pom­pe­ji in sein­er Kun­st, 1904, Bild: Peter Bruderer

An diese Dar­legung möchte ich nun anknüpfen mit mein­er eige­nen Beobach­tung. Mein Stand­punkt ist, dass Per­so­n­en wie Rev. Dr. Caleb J. Lines oder Siegfried Zim­mer möglicher­weise nicht nur die hel­lenis­tis­che Kul­tur zu wenig studiert haben, son­dern auch die mod­erne homo­sex­uelle Emanzi­pa­tions­be­we­gung nicht wirk­lich ken­nen. Für die Grün­der­fig­uren der mod­er­nen homo­sex­uellen Emanzi­pa­tions­be­we­gung war näm­lich die hel­lenis­tis­che Antike sehr wohl ein wichtiger Bezugspunkt. Dies hat sich vielfältig aus­gewirkt auf die Aus­gestal­tung ihrer Beziehun­gen, ihre Apolo­getik, ihre Wortschöp­fun­gen, ihr Schreiben und Dicht­en, ihre Architek­tur und ihre Malerei. Einem nicht unbe­deu­ten­den Teil dieser Pio­niere der mod­er­nen homo­sex­uellen Emanzi­pa­tion ging es gar darum, mit ihrem Lebensstil den Geist des alten Griechen­lands zu neuem Leben zu erweck­en.

Dies möchte ich nach­fol­gend an eini­gen Beispie­len dokumentieren.

Eine zufällige Entdeckung

Im Tessin, im wun­der­schö­nen Süden der Schweiz, darf ich seit vie­len Jahren eine herrschaftliche alte Vil­la ver­wal­ten und ab und zu auch selb­st mit mein­er Fam­i­lie nutzen. Der Zufall will es, dass dieses Haus unmit­tel­bar neben dem Elis­ar­i­on ste­ht, einem kleinen Kul­turzen­trum im Besitz der örtlichen poli­tis­chen Gemeinde.

Ich habe mich nie gross für das Gebäude und deren Geschichte inter­essiert, bis ich diesem Som­mer auf die Idee kam, nach alten Pho­tos vom Nach­barge­bäude zu suchen, um dabei auch auf Auf­nah­men von unserem Anwe­sen zu stossen. Tat­säch­lich wurde ich fündig im Pho­toarchiv der Poli­tis­chen Gemeinde, welche dem Elis­ar­i­on eine ganze Abteilung wid­met. Da fand sich nicht nur unser Haus im Hin­ter­grund des einen oder anderen Bildes, da ent­fal­tete sich auch das Elis­ar­i­on in sein­er ganzen ehe­ma­li­gen Pracht.

Das Elis­ar­i­on wie es sich heute präsen­tiert. Für Ein­blicke in die Ver­gan­gen­heit muss das Pho­toarchiv kon­sul­tiert wer­den., Bild: Peter Bruderer

Manch eine Bild­per­spek­tive im Pho­toarchiv mutete eher wie eine griechis­che Tem­pelan­lage an, als wie die übliche Tessin­er Baukun­st jen­er Zeit. Da rei­hte sich Säule an Säule in einem wun­der­schö­nen Garten. Aber nicht nur das Äussere war Auf­se­hen erre­gend. Das Innere hat­te es min­destens so in sich. Denn dort rei­hte sich ein Gemälde ans andere. Und diese Gemälde zeigten eigentlich nur ein Motiv: Nack­te, androg­yn wirk­ende Män­nerkör­p­er. Ja, unser Ferien­haus ste­ht anscheinend direkt neben einem ehe­ma­li­gen homo­ero­tis­chen Tem­pel aus der Grün­derzeit der mod­er­nen homo­sex­uellen Bewe­gung. Die Leucht­fig­uren und Grün­der der Kult­städte:  Elis­ar von Kupf­fer (1872–1942) und sein Part­ner, der Kun­sthis­torik­er Eduard von May­er (1873–1960).

Heute ist von der Blütezeit wenig erhal­ten. Die offe­nen Säu­lengänge sind ver­schwun­den. In den 70er Jahren wurde das Gebäude auch innen van­dal­isiert und entstellt. Gerettet wer­den kon­nte jedoch das malerische Herzstück, die «Klar­welt der Seli­gen», welche man heute in einem Pavil­lon des nahegele­ge­nen Monte Veri­ta besichti­gen kann. Das runde Panoram­a­bild zeigt auf 16 Lein­wän­den 84 nack­te Jünglinge, die in 33 Szenen ange­ord­net sind. Das Werk war als optis­ches Herzstück im Rund­bau des Elis­ar­i­on konzip­iert und stellt eine Art Paradies­garten dar. Dieser Rund­bau war das inner­ste ‘Heilig­tum’ des «Klar­is­mus», der von Kupf­fer und May­er gegrün­de­ten Glaubenslehre.

Warum mir die geschicht­strächti­gen Hin­ter­gründe der Nach­bar­liegen­schaft bish­er ent­gan­gen sind, weiss ich nicht. Eines jeden­falls hat mich bei ihrer Ent­deck­un­gen über­rascht: mit welch­er Selb­stver­ständlichkeit im Elis­ar­i­on am Anfang der mod­er­nen Homo­sex­uellen-Bewe­gung auf die griechis­che Antike zurück­ge­grif­f­en wird. Es war offen­sichtlich, dass die griechis­che Antike auf diese bei­den schwulen Pio­niere eine tiefe Fasz­i­na­tion aus­geübt hat.

Das war die Geburtsstunde mein­er Frage: Kön­nte es sein, dass die erste Gen­er­a­tion der mod­er­nen homo­sex­uellen Emanzi­pa­tions­be­we­gung nicht etwa auf Abstand zu den alten Griechen gehen wollte, son­dern sich vielmehr von ihnen inspiri­eren ließ? 

Elisar von Kupffer, Eduard von Mayer 

Tat­säch­lich hat sich der Erstein­druck bestätigt. Elis­ar von Kupf­fer und Eduard von May­er waren zutief­st von der griechis­chen Antike inspiri­ert. Dies zeigt sich zum Beispiel im kleinen Kun­st­führer, den May­er 1904 über Pom­pei pub­lizierte. Die Ruinen­stadt Pom­pei mit ihren klas­sisch-hel­lenis­tis­chen Ein­flüssen war im Jahr 1899 das Ziel ein­er Forschungsreise von ihm und Kupf­fer gewesen.

Jede Seite des kleinen Büch­leins atmet die Liebe und Begeis­terung für das, was sie in Pom­pei vor­fan­den. Am meis­ten beein­druckt war May­er von der Narkissos-Fig­ur. Diese 1862 ent­deck­te Bronze­fig­ur, welche den alt­griechis­chen Gott Dionysos als schö­nen Jüngling darstellt, liess May­er vol­lends ins Schwel­gen kommen:

«Eben im Epheben, dem Jüngling von 18 Jahren ab, ist der Aus­gle­ich der bei­der­lei For­men vol­lkom­men; er vere­inigt die herbe Kraft des eng Männlichen mit der weichen Anmut des Weib­lichen…»[5]

Eduard von May­er, Pom­pe­ji in sein­er Kun­st, 1904, Im Bild: Der ‘Narkissos’ von Pom­pei, Bild: Peter Bruderer

May­ers Part­ner Kupf­fer ergänzte das Büch­lein mit sinnlichen Gedicht­en. Es ist auch hier in Pom­pei, wo Kupf­fer das Vor­wort zu seinem bekan­ntesten lit­er­arischen Werk ver­fasst, eine Antholo­gie homo­ero­tis­ch­er Lit­er­atur mit dem Titel «Liebling­minne und Fre­un­desliebe in der Weltlit­er­atur». Pub­liziert wurde die Antholo­gie im Ver­lag von Adolf Brand (1874–1945). Brand war unter anderem auch Her­aus­ge­ber der Zeitschrift «Der Eigene», der weltweit ersten Homo­sex­uellen Zeitschrift.

Die Antholo­gie präsen­tiert eine Vielzahl von homo­ero­tis­chen Tex­ten aus ver­gan­genen Zeit­en, darunter viele aus der griechis­chen Antike. Die Ein­leitung gewährt einen erhel­len­den Ein­blick in die Empfind­ungswelt und das Denken von Kupf­fer. Dieser fordert die «Wieder­bele­bung ein­er männlichen Kul­tur»[6] und «dass die Män­ner sich einan­der anschliessen, dass die jün­geren in nahem Ver­hält­nis zu älteren ste­hen»[7]. Er fordert die Etablierung ein­er Kul­tur nach griechis­chem Vor­bild. Diese bein­hal­tete «die Möglichkeit des Auslebens unser­er Triebe und Kräfte, doch ohne Gewalt­tätigkeit»[8]. Kupf­fer argu­men­tiert, dass Hochkul­turen stets im Zusam­men­hang mit der Ent­fal­tung ein­er homo­ero­tis­chen Kul­tur standen, weshalb es im Inter­esse des Staates sei, diese zu fördern:

«Und ger­ade deshalb nur, weil ich das nahe Ver­hält­nis von Mann zu Mann, vom Manne zum Jüngling, vom Jüngling zum Jüngling für ein starkes Ele­ment des Staates und der Kul­tur halte, habe ich mich im Inter­esse des gemeinen Wohls und der per­sön­lichen freien Entwick­lung dieser schwieri­gen Arbeit unter­zo­gen. Jed­er vernün­ftige Men­sch muss sich doch fra­gen: Kann das ein Zufall sein, dass so viel her­vor­ra­gende Vertreter unser­er Kul­turgeschichte diese Nei­gung und diese Liebesver­hält­nisse gepflegt haben…»[9]

In diesem Zitat wird sicht­bar, dass Elis­ar von Kupf­fer auch in Bezug auf das Alter ver­schiedene mögliche Vari­a­tio­nen gle­ichgeschlechtlich­er ero­tis­ch­er Ver­hält­nisse begrüsst und für gesellschaftlich erbauend hält, ob es nun Liebesver­hält­nisse von Mann zu Mann, Jüngling zu Jüngling, oder Mann zu Jüngling (Ephebophilie bzw. Päderastie) geht. Es wird hier auch sicht­bar, dass er gle­ichgeschlechtliche Beziehun­gen früher­er Zeit­en nicht ein­fach nur als aus­beu­tend bew­ertet. Vielmehr spricht er von ein­er Nei­gung, welche dann in der Form von ver­schieden aus­gerichteten Liebesver­hält­nis­sen gelebt wurden.

Kupf­fer wehrt sich aus­drück­lich gegen Zeitgenossen, welche den Men­schen der Antike das indi­vidu­ell-per­sön­liche Bewusst­sein, die iden­titätss­tif­tende emo­tionale Innen­welt absprechen:

«Da ste­hen wir wieder vor zwei Schlag­worten: objek­tiv und sub­jek­tiv. Das eine soll antik und ver­al­tet, das zweite mod­ern und neu sein. Als ob die Antiken nicht eben­so per­sön­lich emp­fan­den!»[10]

Diese Ein­blicke zeigen die tiefe Ver­bun­den­heit von Kupf­fer und May­er mit dem antiken Hel­lenis­mus. In dieser sahen sie ihre eige­nen Gefühlswel­ten gespiegelt.

Es ist auch kein Zufall, dass May­er seinen eige­nen Ver­lag nach einem bekan­nten Hügel in Griechen­land benan­nte: «Klar­is­tis­ch­er Ver­lag Akropo­lis» — inklu­sive hüb­schem Sil­hou­et­ten-Logo des berühmten Tempelhügels.

Ein­blick in die Lit­er­atur des “Klar­is­tis­ch­er Ver­lag Akropolis”,Bild: Peter Bruderer

Kupf­fer und May­er hat­ten also eine ganz andere Per­spek­tive auf die Ära der alten Griechen als die erwäh­nte The­olo­gen-Gilde uns nahelegt. Während diese The­olo­gen möglichst viel Abstand zwis­chen der mod­er­nen homo­sex­uellen Bewe­gung und der Antike kreieren wollen, war das Bestreben bei den Grün­dern des Elis­ar­i­on genau umgekehrt. Sie sahen sich als Erben und lei­den­schaftliche Nachah­mer des Hel­lenis­mus. In den Tex­ten der Antike schürften sie nach all dem, was sie für ihre Zeit frucht­bar machen woll­ten. In den Lieb­haberbeschicht­en der Antike ent­deck­ten sie nicht ein­fach aus­beu­ter­ische und über­grif­fige Sex­u­al­ität, son­dern Liebes­beziehun­gen unter selb­st­bes­timmten Per­sön­lichkeit­en. Ihr Argu­ment: Weil in der Antike solche Liebes­beziehun­gen stat­tfan­den, ja, diese Form der ‘Minne’[11] sog­ar die kul­turelle Über­legen­heit des Hel­lenis­mus gegenüber dem düsteren Mit­te­lal­ter ver­bürgte, soll­ten wir solche Liebes­beziehun­gen auch heute tolerieren, akzep­tieren, gar fördern.

Zeitschriften “Der Eigene” und “der Kreis”

Kupf­fer war kein No-Name, son­dern eine dur­chaus wichtige Stimme der dama­li­gen homophilen Szene. Der Ein­leitung­s­text zu sein­er Antholo­gie sollte weit­ere Ver­bre­itung find­en. Er wurde 1899 auch in der Zeitschrift «der Eigene» abge­druckt. Das Zielpub­likum dieser weltweit ersten Zeitschrift für Homo­sex­uelle waren gemäss Her­aus­ge­ber Adolf Brand (1874–1945) Män­ner, die «dürsten nach ein­er Erweck­ung griechis­ch­er Zeit­en und hel­lenis­tis­ch­er Massstäbe der Schön­heit nach Jahrhun­derten christlichen Bar­baris­mus»[12].

Hier tritt mit gross­er Klarheit zutage, was für eine Bedeu­tung die griechis­che Antike an der Wende des 19. zum 20. Jahrhun­derts im homophilen Milieu hat­te. Dieses Milieu –  zumin­d­est das­jenige der weltweit ersten ziel­grup­pen­spez­i­fis­chen Zeitschrift —  wollte gle­ich­sam ein neues Zeital­ter griechis­ch­er Hochkul­tur ein­läuten, samt Kul­tivierung ver­schieden­er For­men gle­ichgeschlechtlich­er roman­tis­ch­er Beziehun­gen, welche die Antike geprägt hat­te. Damit kon­trastierte in ihrer Vorstel­lung der unter­drück­erische ‘christliche Bar­baris­mus’, den es zu über­winden galt. Dem antiken Ide­al stand das zeit­genös­sis­che Chris­ten­tum im Wege, so das Argu­ment – das dem unser­er The­olo­gen-Gilde heute diame­tral entgegenläuft.

Das Umfeld der Zeitschrift «der Eigene» hat­te auch seine intellek­tuellen Aushängeschilder. Eine ihrer wichti­gen Fig­uren war der Zoologe und Sex­u­al­wis­senschaftler Bene­dict Friedlän­der (1866–1908). Friedlän­der fordert in seinem sub­stanziellen Buch «Die Renais­sance des Eros Uran­ios» (1908) die «Wieder­bele­bung der hel­lenis­chen Lieblingsminne und deren soziale Anerken­nung, jedoch mit möglich­ster Ver­mei­dung aller sex­ueller Auss­chre­itun­gen»[13]. Für ihn ist klar: «Im alten Hel­las und Rom wurde die gle­ichgeschlechtliche Liebe für etwas eben­so Selb­stver­ständlich­es gehal­ten wie die andere.»[14]. In einem rhetorischen Run­dum­schlag prangert er eine Gesellschaft an, welche aus sein­er Sicht blind ist für die offen­sichtliche Verbindung homophiler Beziehun­gen mit der Grandiosität der alten griechis­chen Welt:

«Was habt ihr gegen eine Sitte, die doch bei einem so her­vor­ra­gen­den, und in vie­len Rich­tun­gen unerr­e­icht­en Volke, wie den Griechen herrschend und anerkan­nt gewe­sen ist? Einen Trieb, der mehr oder min­der immer und über­all vorhan­den und geduldet ist? Warum hal­tet ihr diese Nei­gung für schändlich und bedro­ht mit sozialen und legalen Nachteilen Diejeni­gen, welche ihr fol­gen? Nicht wir, son­dern Ihr seid die sit­ten­his­torische und sit­ten­geo­graphis­che Aus­nahme, das Unicum, das Phänomen»[15]

Bene­dict Friedlän­der, Die Renais­sance des Eros Uran­ios, 1908, Bild: Peter Bruderer

Eine andere wichtige Fig­ur im Umfeld der Zeitschrift war der Philologe Paul Brandt (1875–1929), der 1925 unter dem Pseu­do­nym ‘Hans Licht’ das bekan­nte Werk «Sit­tengeschichte Griechen­lands» veröf­fentlichte. Dieses umfan­gre­iche Werk ist eine einzige Lobeshymne auf die Sex­u­al­ität der Griechen in ihren unter­schiedlich­sten Spielarten. Das Buch wurde bis in die späten 1970er hinein ver­legt. Ein Ein­blick in die Ein­leitung zur 1959er Aus­gabe macht klar, wer die Guten und wer die Bösen sind:

«Wollen wir die ver­wirrende Vielfalt des ero­tis­chen Lebens der Griechen auf eine ein­fache Formel brin­gen, so schei­det ihre Tol­er­anz sie von unser­er Intol­er­anz[16]

Hier wird der Grund­modus der ersten Zeitschrift für Homo­sex­uelle wieder gut sicht­bar. Das Prob­lem ist nicht die ‘tol­er­ante’ griechis­che Sex­ual­moral der Antike, son­dern die intol­er­ante, vom Chris­ten­tum geprägte Sex­ual­moral der Gegen­wart. Ein klein­er Auszug aus der abschliessenden Zusam­men­fas­sung des Werkes verdeut­licht dies noch einmal:

«Dadurch, dass das Sex­uelle nicht mit dem Schleier des Geheimnisvollen bedeckt oder gar durch den Makel des Sündi­gen zur ver­bote­nen Frucht gemacht wurde, fern­er dadurch, dass die schi­er unbändi­ge Sinnlichkeit der Griechen stets durch das Ver­lan­gen nach Schön­heit vere­delt wurde, entwick­elte sich ein Geschlecht­sleben in überquel­len­der Kraft, aber auch benei­denswert­er Gesund­heit. Das sieht man schon daraus, dass die sex­uellen Per­ver­sio­nen, die im heuti­gen Leben eine bekla­genswert grosse Rolle spie­len, im alten Griechen­land so sel­ten vorka­men

Die Machter­grei­fung der Nation­al­sozial­is­ten bedeutete 1933 das Ende der Zeitschrift «der Eigene». Inter­es­sant ist, dass dessen Erbe in der Schweiz ange­treten wurde. Es ist der Schweiz­er Karl Meier (1897–1974), damals Assis­tent des Her­aus­ge­bers Adolf Brand, der mit einem Teil der Schriften in die Schweiz flüchtet, wo er 1943 die Homophilen-Zeitschrift «Der Kreis» ins Leben ruft. Diese Zeitschrift wurde in den 1940er und 1950er Jahren zum führen­den Medi­um der Homophilen-Bewe­gung in Europa und Nor­dameri­ka.[17]

Die schweiz­er Zeitschrift «Der Kreis» war in den 40er und 50er Jahren das führende Medi­um der Homophilen-Bewe­gung in Europa und Nor­dameri­ka. Bild: Peter Bruderer

Die erste Aus­gabe von «Der Kreis» wird pro­grama­tisch ein­geläutet durch den Abdruck der Reden des Phaidros und des Pau­sa­nias aus dem «Sym­po­sion» von Pla­to[18]. Die griechis­che Spur wird wie ein einge­woben­er Faden durch alle Pub­lika­tion­s­jahre von «der Kreis» gehen und mit der Darstel­lung von ‘Orest und Pylades’ in der let­zten Aus­gabe der Zeitschrift enden, im Dezem­ber 1967.[19]

Edward Carpenter, John Addington Symonds

Dass Her­ren wie Kupf­fer und May­er nicht irgendwelche Exoten waren, son­dern dur­chaus einge­bun­den in ein inter­na­tionales Netz, zeigt das schriftliche Oeu­vre des bekan­nten britis­chen Dichters Edward Car­pen­ter (1844–1929).

Car­pen­ter, der ab 1891 mit einem 22 Jahre jün­geren Part­ner zusam­men­lebte, pub­lizierte diverse Büch­er zur The­matik der gle­ichgeschlechtlichen Liebe[20]. In seinem Buch «Inter­me­di­ate Types among Prim­i­tive Folk» (1914) schwärmt er beispiel­sweise von den Fre­und­schaften unter dorischen Män­nern. Diese seien «mil­itärische Fre­und­schaften der lei­den­schaftlichen Art gewe­sen», was «den Krieg­seifer der beteiligten immens gesteigert habe». Die «homo­sex­uelle Nei­gung» unter diesen Kriegern habe «Hero­is­mus, Mut, Ressourcen und Aus­dauer» her­vorge­bracht[21].

Wie schon bei den bish­er vorgestell­ten Per­sön­lichkeit­en wird klar, dass Car­pen­ter die gle­ichgeschlechtlichen Beziehun­gen der griechis­chen Antike als auf Gegen­seit­igkeit beruhend wahrgenom­men hat. Vol­lends tritt dies zutage in seinem Werk «Ioläus» (1902), ein­er «Antholo­gie für die Fre­und­schaft».

Die innere Ver­wandtschaft dieses Buch­es zur ‘Lieblingsminne’ von Elis­ar von Kupf­fer war nicht zufäl­lig. «Ioläus» war inspiri­ert von Kupf­fers jüngst erschienen­em Werk. Wie ich aus per­sön­lichen Kon­tak­ten ins Umfeld des heuti­gen Elis­ar­i­on weiss, liess Car­pen­ter Kupf­fer sog­ar ein mit Wid­mung sig­niertes Exem­plar von «Ioläus» zukom­men.[22]

Wer «Ioläus» liest, muss sich bewusst sein, dass das Wort ‘Fre­und­schaft’ im Buch ein Platzhal­ter ist für die gle­ichgeschlechtliche Liebe. Damit kon­nte Car­pen­ter eine allfäl­lige Zen­sur umge­hen. Sein Insid­er­pub­likum ver­stand aber die Botschaft; das Buch avancierte zu einem Klas­sik­er in der homophilen Szene. Das liegt nicht nur an der kun­stvoll-bib­lio­philen Aus­führung, son­dern sich­er auch an der emo­tionellen Inten­sität der darin geschilderten homophilen Fre­und­schaften. So beschreibt Car­pen­ter in der Ein­leitung des Buch­es die Lebenswelt der antiken Griechen folgendermassen:

«Wenn wir zur höheren Kul­tur des griechis­chen Zeital­ters kom­men, ist das Mate­r­i­al zum Glück reich­lich vorhan­den — nicht nur für die Bräuche, son­dern auch für die inneren Gefüh­le, die diese Bräuche inspiri­erten.»[23]

An ander­er Stelle schreibt er:

«Die bere­its erwäh­nte Tat­sache, dass die Roman­tik der Liebe bei den Griechen haupt­säch­lich gegenüber männlichen Fre­un­den emp­fun­den wurde, führte natür­lich dazu, dass ihre Dich­tung weit­ge­hend von der Fre­und­schaft inspiri­ert war, und die griechis­che Lit­er­atur enthält eine große Anzahl von Gedicht­en dieser Art… »[24]

Man beachte hier For­mulierun­gen wie  ‘Mate­r­i­al zum Glück’, ‘innere Gefüh­le’, ‘gegenüber männlichen Fre­un­den’ oder Roman­tik der Liebe’ (kur­sive Beto­nung im Orig­i­nal). In solchen For­mulierun­gen wird sehr deut­lich, dass Car­pen­ter in den antiken Bericht­en über gle­ichgeschlechtliche Beziehun­gen tiefe emo­tionale Ver­bun­den­heit, Fre­und­schaft auf Augen­höhe und auf gegen­seit­i­gen Gefühlen basierende Beziehun­gen entdeckt.

Edward Car­pen­ter pub­lizierte diverse Büch­er zur The­matik der gle­ichgeschlechtlichen Liebe, Bild: Peter Bruderer

Dies alles ist ein ziem­lich­es Kon­trast­pro­gramm zu den Aus­führun­gen der The­olo­gen, die in der etwa von Paulus kri­tisierten römisch-griechis­chen Kul­tur auss­chliesslich aus­beu­ter­ische oder durch krasse Macht­ge­fälle geprägte For­men der gle­ichgeschlechtlichen Sex­u­al­ität ent­deck­en. Man kann Car­pen­ter unter­stellen, er habe seine Wun­schvorstel­lun­gen in die antiken Texte hinein­pro­jiziert. Man kann es aber auch anders sehen: Dass vielle­icht ger­ade eine Per­son mit gle­ichgeschlechtlich­er Nei­gung wie Car­pen­ter eine beson­dere Sen­si­bil­ität für die homo­ero­tis­chen Texte der Antike hat­te. Auf alle Fälle sollte die Sicht Car­pen­ters wahrgenom­men werden.

Noch bedeu­ten­der als Elis­ar von Kupf­fer war für Car­pen­ter sich­er sein Lands­mann John Adding­ton Symonds (1840–1893), den er in «Ioläus» immer wieder ref­eren­ziert, und mit dem er auch einen per­sön­lichen Briefwech­sel pflegte. Der Poet und Lit­er­aturkri­tik­er Symonds hat als erster im englis­chsprachi­gen Raum nach­weis­lich den Begriff ‘homo­sex­uell’ ver­wen­det, und zwar in seinem 1883 pub­lizierten Buch «A Prob­lem in Greek Ethics». Dieses in der Geschichte der homo­sex­uellen Bewe­gung als Meilen­stein gel­tende Werk befasste sich – wie kön­nte es anders sein – mit der griechis­chen Antike. Das Wort ‘homo­sex­uell’ fällt gle­ich in den ersten Zeilen, die fol­gen­der­massen lauten:

«Für den Stu­den­ten der sex­uellen Inver­sion bietet das antike Griechen­land ein weites Feld für Beobach­tun­gen und Über­legun­gen. Seine Bedeu­tung wurde bish­er von den medi­zinis­chen und juris­tis­chen Autoren unter­schätzt, die sich nicht bewusst zu sein scheinen, dass wir nur hier in der Geschichte das Beispiel ein­er grossen und hochen­twick­el­ten Rasse haben, die homo­sex­uelle Lei­den­schaften nicht nur toleriert, son­dern für spir­ituell wertvoll gehal­ten und ver­sucht hat, diese zum Nutzen der Gesellschaft zu ver­wen­den.»[25]

In den for­ma­tiv­en ersten Jahrzehn­ten der mod­er­nen homo­sex­uellen Emanzi­pa­tions­be­we­gung wurde mit ganz ver­schiede­nen Begrif­flichkeit­en für die gle­ichgeschlechtliche Liebe operiert. Elis­ar von Kupf­fer ver­wen­dete Begriffe wie ‘Liebling­minne’ und ‘Fre­un­desliebe’, andere in Umlauf befind­liche Begriffe waren ‘sex­uellen Inver­sion’ oder ‘inter­me­di­ate Sex’. Der bekan­nte homo­sex­uelle Arzt und Sex­u­al­wis­senschaftler Mag­nus Hirschfeld (1868–1935) sprach vom ‘drit­ten Geschlecht’. Vor ihm noch hat­te Karl Hein­rich Ulrichs (1825–1895) Begriffe wie die ‘man­n­männlichen Liebe’ oder die des ‘Urn­ing’ geprägt. Hin­ter all diesen Wortschöp­fun­gen standen teil­weise ziem­lich unter­schiedliche Ansicht­en und Vorstel­lun­gen über das Wesen und die Ursachen der gle­ichgeschlechtlichen Ori­en­tierung. Schlussendlich durchge­set­zt hat sich das Wort ‘Homo­sex­u­al­ität’, dies jedoch gegen diverse Wider­stände inner­halb der Bewegung.

Es ist meines Eracht­ens doch bedeut­sam, dass die erste Ver­wen­dung des Begriffs ‘Homo­sex­u­al­ität’ im englis­chsprachi­gen Raum im direk­ten Zusam­men­hang mit dem antiken Griechen­land ste­ht. Symonds beze­ich­net die gle­ichgeschlechtliche Sex­u­al­ität im antiken Griechen­land als ‘homo­sex­uelle Lei­den­schaft’. Ein­mal mehr wird die klare Verbindung mit der griechis­chen Antike sicht­bar, welche die Pio­niere der homo­sex­uellen Bewe­gung am Ende des 19. Jahrhun­derts bewusst gesucht haben: griechis­che gle­ichgeschlechtliche Liebe war homo­sex­uelle Liebe.

Karl Heinrich Ulrichs, Magnus Hirschfeld, Heinrich Hössli

Es ist der eben erwäh­nte Karl Hein­rich Ulrichs, der als Erster in der mod­er­nen Ära ein öffentlich­es ‘Com­ing out’ vol­l­zog. In zahlre­ichen Schriften entwick­elte der deutsche Jurist ab 1864 seine wis­senschaftlichen The­o­rien zur ‘man­n­männlichen Liebe’. Seine Haupt­the­se: Ho­mo­se­xua­li­tät oder eben die ‘man­n­männliche Liebe’ ist an­ge­bo­ren. Er war der Überzeu­gung, der männliche Homo­sex­uelle besitze eine weib­liche Seele in einem männlichen Körper.

Eine andere sein­er Begriff­ss­chöp­fun­gen für eine männliche Per­son, die homo­sex­uell ver­an­lagt ist, war der ‘Urn­ing’. Angeregt zu dieser Begriff­ss­chöp­fung wurde Ulrichs durch die Rede des Pau­sa­nias in Pla­tons Sym­po­sion[26] — wiederum ein griechis­ch­er Bezug.

Ziem­lich ein­drück­lich ist sein Com­ing-Out Brief an seine Schwest­er Luise aus dem Jahre 1862. Aus Platz­grün­den kann er hier nicht einge­hend besprochen wer­den. Nur soviel: Auch darin find­en wir den Bezug zu den antiken Griechen. Ulrichs vertei­digt seine Überzeu­gun­gen unter anderem wie folgt:

«Es gibt auch uranis­che Ehen, d. i. Nature­he, eheähn­liche Liebesver­hält­nisse. Im alten Griechen­land waren sie sehr ver­bre­it­et.»[27]

Ganz all­ge­mein lassen sich bei den mod­er­nen homo­sex­uellen Pio­nieren zwei Arten des Umgangs mit der griechis­chen Antike beobacht­en. Während sie für die einen so etwas wie eine utopis­tis­che Vision darstellte, diente sie anderen eher als Instru­ment, um Skep­tik­er zu überzeu­gen. Die griechis­che Antike war also Inspi­ra­tion und Apolo­gie. Ich ver­mute Ulrichs gehört eher in zweite Kat­e­gorie. Sein Argu­ment: Wenn wir heute die Anerken­nung von homo­sex­uellen Beziehun­gen ein­fordern, dann ste­hen wir in der guten Tra­di­tion der antiken Griechen.

Eben­falls in die apolo­getis­che Kat­e­gorie gehört wohl Mag­nus Hirschfeld. Hirschfeld argu­men­tierte als Arzt weniger mit kul­turellen als mit biol­o­gis­chen Erk­lärun­gen und ver­suchte die Homo­sex­u­al­ität, mit Dar­win als mod­ernem Gewährs­mann, in der Geschichte der Evo­lu­tion zu verorten[28].

Hirschfeld ver­fol­gte ein ehrgeiziges poli­tis­ches Ziel: die Aufhe­bung von § 175 des deutschen Strafge­set­zbuch­es, der sex­uelle Hand­lun­gen zwis­chen Per­so­n­en männlichen Geschlechts unter Strafe stellte. Die griechis­che Antike diente ihm als Beweis der hohen Moral und kul­tur­bilden­den Kraft gle­ichgeschlechtlich­er Anziehung. So gab er 1896 sein­er ersten schriftlichen Vertei­di­gung der Homo­sex­u­al­ität den Titel «Sap­pho and Socrates»[29] — als Gewährsleute für weib­liche bzw. männliche Homo­sex­u­al­ität. Der Rück­griff auf die Dich­terin von Les­bos und den Athen­er Philosophen sollte wohl seinen medi­zinis­chen Aus­führun­gen Nach­druck ver­lei­hen. Hirschfeld war auch wichtig, Homo­sex­u­al­ität in möglichst vie­len früheren bzw. frem­den Kul­turen nachzuweisen, was er u.a. in seinem 1000-seit­i­gen Buch «Die Homo­sex­u­al­ität des Mannes und des Weibes» auch aus­führlich tat. Ein Beispiel:

«Erst aus dem Studi­um der lit­er­arisch oft sehr ver­bor­gen liegen­den Über­liefer­un­gen erfahren wir, dass es sich hier nicht um Erschei­n­un­gen von Heute han­delt, son­dern um solche, die so weit zurück­re­ichen, als uns über­haupt Urkun­den zur Ver­fü­gung ste­hen… Ist doch die älteste Quelle, auf die wir in dem Kapi­tel Geschichte der Homo­sex­u­al­ität Bezug nehmen, ein ägyp­tis­ch­er Papyrus, seit dessen Abfas­sung vier­tausend­fünfhun­dert Jahre ver­flossen sind»[30]

Hirschfeld hätte heuti­gen The­olo­gen, die seinen antiken Helden die auf Liebe und natür­liche Ver­an­la­gung basierende gle­ichgeschlechtliche Beziehung absprechen wollen, ziem­lich sich­er entsch­ieden widersprochen.

Über 1000 Seit­en: Mag­nus Hirschfeld, Die Homo­sex­u­al­ität des Mannes und des Weibes, 2. Auflage 1920, Bild: Peter Bruderer

Heute wird Hirschfeld als gross­er Held gefeiert. Strassen wer­den nach ihm benan­nt. Dabei schreck­te er nicht vor dubiosen medi­zinis­chen Exper­i­menten zurück. Er verabre­ichte männlichen Rat­ten Östro­gen[31], beteiligte sich an der Trans­plan­ta­tion von Hoden eines het­ero­sex­uellen Mannes auf einen homo­sex­uellen im Ver­such, diesen von sein­er ungewün­scht­en Nei­gung zu heilen und damit eine hor­monelle oder biol­o­gis­che Ursache für Homo­sex­u­al­ität nachzuweisen[32]. Er war in den Ver­such ein­er chirur­gis­chen Geschlecht­sumwand­lung von Ainar Wegen­er in Lili Elbe – die Geschichte wurde in The Dan­ish Girl ver­filmt – involviert, die mit dem Tod der Per­son endete.[33]

Zum Schluss mein­er Beleuch­tung his­torisch­er Fig­uren scheint es angezeigt, dass ich als Schweiz­er noch auf Hein­rich Hössli (1784–1864) zu sprechen komme. Es ist meines Wis­sens nicht bekan­nt ist, ob Hössli selb­st homo­sex­uell ver­an­lagt war oder nicht. Doch sein 1836 pub­liziertes Buch mit dem Titel «Eros, Die Män­ner­liebe der Griechen, ihre Beziehun­gen zur Geschichte, Erziehung, Lit­er­atur und Geset­zge­bung aller Zeit­en» wurde eine höchst ein­flussre­iche Quelle für die damals noch nicht lancierte homo­sex­uelle Emanzi­pa­tions­be­we­gung. Hössli zeigte darin beispiel­haft, wie die ‘Män­ner­liebe’ des Hel­lenis­mus apolo­getisch ver­w­ertet wer­den kön­nte für eine neue Zeit. Hier ein Ein­blick in seine Gedankengänge. Er schreibt hier konkret über ‘Män­ner­liebe’:

«Schon die griechis­che Lit­er­atur allein bietet unzäh­lige Beweise für das Vorhan­den­sein und die Wahrheit ein­er Natur, welche die Griechen, sein gross­es Volk und seine Zeit, in ihren Eros mit seinem ganzen Kreis des Wis­senschaftlichen, Kun­stvollen und Religiösen zur tief­sten Leben­sid­ee in Gesetz und Sit­ten her­vorge­hoben und geläutert haben.»[34]

Hössli, ein Fa­bri­kant aus dem Glarn­er­land ohne höhere human­is­tis­che Bil­dung, avancierte zum früh­esten Impuls­ge­ber für die Queer-Stud­ies und west­lichen Sex­u­al­itäts-Diskurse unser­er Tage, indem er anhand der Würdi­gung antik­er pan­sex­ueller Kul­tur die Natür­lichkeit und Sit­tlichkeit von Homo­sex­u­al­ität zu begrün­den suchte.

Sich­er trug auch die damals neu erwachte, von archäol­o­gis­chen Auf­brüchen und dem Neok­las­sizis­mus befeuerte Vor­liebe für die Antike dazu bei, dass Hössli und die auf ihn fol­gen­den Pio­niere um die Jahrhun­der­twende ein für ihre Ideen empfänglich­es, empathis­ches Lesepub­likum fan­den.[35] Der Hel­lenis­mus war in Mode, was ein guter Nährbo­den für die zaghaften Anfänge der mod­er­nen homo­sex­uellen Bewe­gung war.

Natur oder Kultur?

Noch ein let­zter, für das Ver­ständ­nis der in diesem Artikel vorgestell­ten Per­sön­lichkeit­en wichtiger Hin­weis: Die Lek­türe ihrer Schriften zeigt, wie sie jew­eils das kul­turelle Erbe der griechis­chen Antike in unter­schiedlich­er Weise in ihre eigene Lebenswelt inte­gri­ert haben. Leute wie Elis­ar von Kupf­fer, Adolf Brand oder John Car­pen­ter kamen richtigge­hend ins Schwel­gen und woll­ten die KULTUR Griechen­lands qua­si in ihre eigene Zeit imple­men­tieren. Demge­genüber haben sich Per­so­n­en wie Karl Hein­rich Ulrichs oder Mag­nus Hirschfeld auf die alten Griechen berufen, um eine The­o­rie der Homo­sex­uellen NATUR zu begründen.

Freilich war der gemein­same Kampf um die Entkrim­i­nal­isierung von homo­sex­uellen Hand­lun­gen eine starke Verbindung zwis­chen diesen bei­den Kreisen. Abge­se­hen davon gab es aber auch ziem­lich grundle­gende Differenzen.

Aus: Eduard von May­er, Pom­pe­ji in sein­er Kun­st, 1904, Bild: Peter Bruderer

Die Vertreter der ‘Kultur’-Seite störten sich an ein­er möglichen Pathol­o­gisierung von Homo­sex­u­al­ität durch den evo­lu­tions­bi­ol­o­gis­chen und medi­zinis­chen Blick Hirschfelds. Sie sahen die Geschlechtlichkeit des Men­schen weniger durch die Natur vorherbes­timmt als durch Kul­tur geformt. Sex­u­al­ität sahen sie eher als etwas Flu­ides an, auf einem bre­it­en Spek­trum angelegt zwis­chen Het­ero- und Homo­sex­uell. Bene­dict Friedlän­der etwa ging davon aus, dass der Men­sch gle­ichzeit­ig zu ein­er gle­ichgeschlechtlichen und ein­er gegengeschlechtlichen Anziehung fähig war:

«Bei den alten Kul­turvölk­ern wurde es für ein eben­so men­schlich­es, eben­so natür­lich­es, eben­so moralis­ches und eben­so häu­figes Vorkomm­nis ange­se­hen, wenn jemand einen schö­nen Jüngling liebte, wie wenn der Gegen­stand sein­er Liebessehn­sucht ein weib­lich­es Wesen war. Im All­ge­meinen sah man es als triv­iale Wahrheit an, dass der Mann bei­der Rich­tun­gen des Liebe­striebes fähig war[36]

Die Debat­te zwis­chen bei­den Grun­dan­nah­men beste­ht bis heute. Mag­nus Hirschfeld prägte mit seinen The­o­rien sich­er die bre­ite Öffentlichkeit. Seine Sicht auf sex­uelle Ori­en­tierung als Ver­an­la­gung und eine mehr oder weniger leben­shin­der­liche, aber die men­tale Gesund­heit nicht notwendi­ger­weise belas­tende Spielart der Natur lieferte die besseren Argu­mente für die Entkrim­i­nal­isierung von Homo­sex­u­al­ität.

Doch die Vertreter der Kul­tur-Frak­tion ste­hen keineswegs auf der Ver­lier­er­seite. Ihre Konzepte find­en etwa Ein­gang in The­o­rien wie die des Begrün­ders der mod­er­nen Sex­olo­gie Alfred Kin­sey (1894–1956). Die nach ihm benan­nte ‘Kin­sey Skala’[37] pos­tulierte auf der Basis ein­er umfan­gre­ichen Umfrage, dass Men­schen nicht in exk­lu­sive het­ero­sex­uelle oder homo­sex­uelle Kat­e­gorien passen. Zudem sind die Konzepte der Vertreter der Kul­tur-Frak­tion äusserst Anschlussfähig an aktuelle The­men wie Gen­der-Flu­id­ität oder nicht­binär­er Geschlecht­si­den­tität.[38]

Persönliches Fazit

Es ist klar, dass ich mit dem vor­liegen­den Streifzug durch die ersten Jahrzehnte der mod­er­nen homo­sex­uellen Bewe­gung nur die Ober­fläche angekratzt habe. Da liegt Stoff für die eine oder andere Dok­torar­beit. Diese müssen aber andere mit mehr Zeitres­sourcen und weit­erge­hen­den his­torischen Ken­nt­nis­sen schreiben. Um den Umfang des Beitrages zu begren­zen habe ich z.B. bewusst darauf verzichtet, Texte aus der Antike zu zitieren oder zu kom­men­tieren. Mir lag nicht daran, zu erörtern, WAS in der Antike geschrieben wurde, son­dern WIE die Antike von der ersten Gen­er­a­tion der homo­sex­uellen Emanzi­pa­tions­be­we­gung wahrgenom­men wurde.

Dabei hat sich mir meine Aus­gangs­these klar bestätigt, wenn auch mit gewis­sen Aus­d­if­feren­zierun­gen. Die griechisch anmu­tende Aus­gestal­tung des Elis­ar­i­on, welche der Aus­gangspunkt für meine Recherche war, war jeden­falls kein Zufall. Vielmehr war sie einge­bet­tet in eine homophile Kul­tur, welche sehr bewusst in der griechis­chen Antike Inspi­ra­tion und Ori­en­tierung gesucht und gefun­den hat. Diese Inspi­ra­tion lässt sich mit unter­schiedlichen Schw­er­punk­ten, Inten­sitäten und Funk­tion­al­itäten durch die gesamte erste Phase der mod­er­nen homo­sex­uellen Emanzi­pa­tions­be­we­gung verfolgen.

Aus: Eduard von May­er, Pom­pe­ji in sein­er Kun­st, 1904, Bild: Peter Bruderer

Natür­lich präsen­tiert sich die homo­sex­uelle Bewe­gung in unseren Tagen etwas anders als vor 100 Jahren. Die mod­erne homo­sex­uelle Bewe­gung blickt heute auf ihre eigene, 150-Jährige Geschichte zurück und muss nicht ‚bei Adam und Eva’, sprich Sap­pho und Sokrates anknüpfen, son­dern kann sich eben auf einen Ulrichs, einen Hirschfeld oder einen Car­pen­ter berufen. Sie hat eigene iden­titätss­tif­tende Ereignisse wie die Stonewall-Unruhen von 1969 in der Time­line. Sie kann sich auf die The­o­rien der Unter­drück­ungs­geschichte wie sie Marx­is­mus und kri­tis­che The­o­rie liefern, berufen und auf viele andere Argu­mente mehr. Trotz­dem ist die Kul­tur, welche die Pio­niere des 19. und frühen 20. Jahrhun­derts aufleben lassen woll­ten, sehr wohl präsent. Man kön­nte sog­ar argu­men­tieren, dass die Visio­nen von Elis­ar von Kupf­fer und Zeitgenossen in unseren Tagen ihre Ver­wirk­lichung sehen: Die Ablö­sung eines schein­bar intol­er­an­ten christlichen ‘Bar­baris­mus’ durch eine neue und schein­bar tol­er­ante ‘griechis­che Zeit’ der sex­uellen Vielfalt scheint mit der aktuellen Dom­i­nanz von LGBT+ Tat­sache zu werden.

Klar ist für mich auch, dass neben der griechis­chen Antike noch andere kul­turelle und weltan­schauliche Kräfte Ein­fluss auf die Pio­niere der Homo­sex­uellen Emanzi­pa­tion ausübten. John Car­pen­ter zog beispiel­sweise 1891 mit seinem Part­ner zusam­men, nach­dem er zuvor Indi­en und Sri Lan­ka bereist hat­te und dort auch gle­ichgeschlechtliche Rit­uale miter­lebt hat­te.[39] Der ‘Klar­is­mus’ von Elis­ar von Kupf­fer und Eduard von May­er war unter anderem von neure­ligösen Strö­mungen wie der Theoso­phie bee­in­flusst. Solche weit­eren Ein­flussfak­toren tun jeden­falls der über­ra­gen­den Stel­lung der ‘alten Griechen’ in den Schriften und im Wirken homo­sex­ueller Pio­niere keinen Abbruch.

Weit­ere Inspri­ra­tionsquellen ergänzen das Bild, wie z.B. wissenschafts­religiöse Bewe­gun­gen, Theoso­phie, östliche Spir­i­tu­al­ität… Bild: Peter Bruderer

Was die aktuelle Diskus­sion unter den The­olo­gen anbe­langt, die ich anfangs geschildert habe, so hat sich meine Wahrnehmung doch deut­lich verän­dert. Ich sehe sie jet­zt ein stück­weit als eine kün­stliche und isolierte Diskus­sion, die der Real­ität nicht wirk­lich gerecht wird. Denn his­torisch gese­hen hat die mod­erne homo­sex­uelle Bewe­gung MIT den antiken Griechen argu­men­tiert und nicht gegen sie. Ob nun die Grün­der­fig­uren der mod­er­nen homo­sex­uellen Bewe­gung die griechis­che KULTUR wieder aufleben lassen woll­ten, oder ob sie die griechis­che Antike für den Nach­weis ein­er homo­sex­uellen NATUR beige­zo­gen haben: Bei­de Ansätze ste­hen in klarem Wider­spruch zum Bemühen der erwäh­n­ten The­olo­gen-Gilde, antike gle­ichgeschlechtliche Liebe von ihrer mod­er­nen Aus­prä­gung zu entkoppeln.

Warum wer­den die klas­sis­chen Argu­mente der Begrün­der der mod­er­nen homo­sex­uellen Emanzi­pa­tions­be­we­gung den ‘Bibel-Fre­un­den’ voren­thal­ten? Vielle­icht hat die The­olo­gen-Gilde diese gar nicht studiert? Ich ver­mute das dürfte bei vie­len der Fall sein. Doch zumin­d­est der The­ologe Thorsten Dietz scheint sich ein­ge­le­sen zu haben. In einem Vor­trag erwäh­nt er gewisse Bezüge zur Antike bei den mod­er­nen schwulen Pio­nieren. Dies jedoch nur, um diese Bezug­nah­men als fehlgeleit­ete Ver­suche dazustellen. Ich finde, hier wer­den diese Pio­niere ger­ade nicht ernst genom­men, egal ob ihre his­torischen Rück­bezüge nun fehler­be­haftet waren oder nicht. Tat­sache ist: Diese Bezüge waren für sie wed­er belan­g­los noch unbe­deu­tend. Sie waren fun­da­men­tale Bestandteile ihrer Argu­men­ta­tio­nen und ihrer gesellschaftlichen Visionen.

Vielle­icht ist es let­zendlich so, dass der Zweck die Mit­tel heiligt, wenn es darum geht, kon­ser­v­a­tive Chris­ten zu überzeu­gen. Da dür­fen his­torische Fak­ten auch mal rel­a­tiviert oder unter­schla­gen wer­den, wenn es der Sache dient. Aus mein­er Sicht gelingt der Ver­such nicht, ‘fromme’ kon­ser­v­a­tive Chris­ten auf diese Weise zu überzeu­gen. Grundbe­din­gung ‘A’, welche einen wesentlichen Unter­schied zwis­chen antik­er und mod­ern­er Aus­prä­gung von gle­ichgeschlechtlich­er Sex­u­al­ität pos­tuliert, ste­ht auf äusserst wack­e­li­gen Beinen, hält den Real­itäten meines Eracht­ens nicht stand. Daraus fol­gt: Die Aus­sagen der Bibel müssen – zumin­d­est für Chris­ten, die sich an ihr ori­en­tieren wollen – wieder mit diesen ver­schiede­nen Real­itäten aus­gelebter Homo­sex­u­al­ität in Zusam­men­hang gebracht werden.

Damit bin ich am Schluss mein­er kleinen Forschungsreise ange­langt. Für mich hat sich einiges gek­lärt. Es bleiben natür­lich auch offene Fra­gen. Ich hoffe zumin­d­est, dass dieser Beitrag einen inter­es­san­ten und trans­par­enten Ein­blick in die Anfänge der mod­er­nen homo­sex­uellen Bewe­gung geboten hat. Das soll­ten hof­fentlich alle schätzen kön­nen, unab­hängig von the­ol­o­gis­chen Posi­tion­ierun­gen und Diskussionen.

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Titel­bild: Peter Bruderer

Fuss­noten:

[1] Bis vor weni­gen Jahrzehn­ten war eine pos­i­tive Bew­er­tung von gle­ichgeschlechtlichen sex­uellen Beziehun­gen im Chris­ten­tum undenkbar, wie z.B. das Buch «Unchang­ing Wit­ness» gut aufzeigt: https://www.amazon.de/Unchanging-Witness-Consistent-Christian-Homosexuality/dp/1433687925/ref=sr_1_1?__mk_de_DE=ÅMÅŽÕÑ&crid=1KEW14T0YLTZX&keywords=unchanging+witness+fortson&qid=1693824283&sprefix=unchanging+witness+fortson%2Caps%2C136&sr=8–1
[2] https://www.facebook.com/reel/253344637585463
[3] https://youtu.be/VLf-umCdAkg?feature=shared&t=3650
[4] https://www.centerforfaith.com/blog/did-consensual-same-sex-sexual-relationships-exist-in-biblical-times-a-response-to-matthew
[5] Eduard von May­er, Pom­pe­ji in sein­er Kun­st, 1904, S50
[6] Elis­ar v. Kupf­fer (hrg.), Lieblingsminne und Fre­un­desliebe in der Weltlit­er­atur, 1900, S2
[7] Elis­ar v. Kupf­fer (hrg.), Lieblingsminne und Fre­un­desliebe in der Weltlit­er­atur, 1900, S2
[8] Elis­ar v. Kupf­fer (hrg.), Lieblingsminne und Fre­un­desliebe in der Weltlit­er­atur, 1900, S4
[9] Elis­ar v. Kupf­fer (hrg.), Lieblingsminne und Fre­un­desliebe in der Weltlit­er­atur, 1900, S7
[10] Elis­ar v. kupf­fer (hrg.), Lieblingsminne und Fre­un­desliebe in der Weltlit­er­atur, 1900, S8
[11] mit­tel­hochdeutsch für „Liebe“
[12] Adolf Brand, Über unsere Bewe­gung, Der Eigene 1889, Nr. 2, S100-101, Zitiert und Über­set­zt aus: Har­ry Oost­er­huis, Hubert Kennedy (Ed.), Homo­sex­u­al­i­ty and Male Bond­ing in Pre-Nazi Ger­many, S3
[13] Bene­dict Friedlän­der, Die Renais­sance des Eros Uran­ios, 1908, S259
[14] Bene­dict Friedlän­der, Die Renais­sance des Eros Uran­ios, 1908, S5
[15] Bene­dict Friedlän­der, Die Renais­sance des Eros Uran­ios, 1908, S11
[16] Prof. Dr. Hans Licht, Sit­tengeschichte Griechen­lands, Neu-Bear­beitung 1959, S23 (Ein­leitung durch Her­bert Lewandowsky)
[17] Aus­gaben der Zeitschrift der Kreis kön­nen unter fol­gen­dem Link einge­se­hen wer­den: https://www.e‑periodica.ch/digbib/volumes?UID=kre-003
[18] Der Kreis, Jan­u­ar 1943, Ein­se­hbar: https://www.e‑periodica.ch/digbib/view?pid=kre-003%3A1943%3A11%3A%3A6#12
[19] Der Kreis, Dezem­ber 1967, Ein­se­hbar: https://www.e‑periodica.ch/digbib/view?pid=kre-003%3A1967%3A35%3A%3A471#483
[20] Erwäh­nenswert sind: Love’s Com­ing of Age (1896) mit einem Kapi­tel zum The­ma; The Inter­me­di­ate Sex (1912); Inter­me­di­ate Types among Prim­i­tive Folk (1914)
[21] Edward Car­pen­ter, Inter­me­di­ate Types among Prim­i­tive Folk, 1914, S87-88, meine Übersetzung
[22] Per­sön­liche Quelle
[23] Edward Car­pen­ter, Ioläus, 1902, S4, meine Übersetzung
[24] Edward Car­pen­ter, Ioläus, 1902, S67, meine Übersetzung
[25] John Adding­ton Symonds, A Prob­lem in Greek Ethics, 1901, S1, meine Übersetzung
[26] Ulrichs zitiert den Entsprechen­den Abschnitt als pro­gram­ma­tis­chen Vorspann zu sein­er ersten, unter dem Namen Uranus geplanten Zeitschrift, 1870, Vgl: Karl Heinz Ulrichs, Forschun­gen über das Räth­sel der man­n­männlichen Liebe, I‑V, Her­aus­gegeben von Hubert Kennedy, 1994, Vorwort
[27] Karl Heinz Ulrichs, Forschun­gen über das Räth­sel der man­n­männlichen Liebe, I‑V, Her­aus­gegeben von Hubert Kennedy, 1994, S46
[28] Vgl. Har­ry Oost­er­huis, Hubert Kennedy (Ed.), Homo­sex­u­al­i­ty and Male Bond­ing in Pre-Nazi Ger­many, S2
[29] https://bildsuche.digitale-sammlungen.de/index.html?c=viewer&l=en&bandnummer=bsb00089681&pimage=00005&v=100&nav=
[30] Mag­nus Hirschfeld, Die Homo­sex­u­al­ität des Mannes und des Weibes, 2. Auflage 1920, IX
[31] Robert Beachy, Gay Berlin, 2014, S173-174
[32] Robert Beachy, Gay Berlin, 2014, S175
[33] https://mh-stiftung.de/biografien/lili-elbe/
[34] Hein­rich Hössli, Eros, Die Män­ner­liebe der Griechen, ihre Beziehun­gen zur Geschichte, Erziehung, Lit­er­atur und Geset­zge­bung aller Zeit­en, 1836, S125
[35] https://en.m.wikipedia.org/wiki/Greek_Revival_architecture
[36] Bene­dict Friedlän­der, Die Renais­sance des Eros Uran­ios, 1908, S6
[37] https://de.wikipedia.org/wiki/Kinsey-Skala
[38] https://de.wikipedia.org/wiki/Nichtbin%C3%A4re_Geschlechtsidentit%C3%A4t#genderfluid
[39] Von einem solchen Rit­u­al berichtet Car­pen­ter im Buch From Adam’s Peak to Ele­phan­ta: Sketch­es in Cey­lon and India, 1912

Über den Kanal

Peter Bruderer

Peter Bruderer, Jahrgang 1974, als Kind von Missionaren in Afrika aufgewachsen, seit 1986 in der Schweiz. 1998 war Peter Gründungsmitglied der erwecklichen 'Godi'-Jugendarbeit in Frauenfeld, welche er bis 2013 prägte. Heute arbeitet er als Projektleiter im kirchlichen und gemeinnützigen Bereich. Ein zweites Standbein ist die Arbeit als Architekt. Peter lebt mit seiner Familie in Frauenfeld, Schweiz.

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Kommentare zu diesen Beitrag

4 Comments

  1. Thomas

    Hi lieber Peter,

    sehr inter­es­sant, vie­len Dank für Deine Mühe !
    Ich finde es unheim­lich schwierig als Het­ero-Men­sch, zu diesem The­ma einen aus­ge­wo­ge­nen Zugang zu bekommen…
    Ich möchte nie­man­den verurteilen, nicht aus­gren­zen, nicht men­schen­feindlich sein… und ander­er­seits möchte ich trotz­dem gerne Gottes Willen ken­nen und verstehen…

    Ich frage mich daher :
    Soll ich hier konkrete moralis­che Kon­se­quen­zen ziehen und wenn ja, welche ?
    Ist allein schon die homo­sex­uelle Nei­gung eine Hamar­tia (=Tat­sünde) oder nur deren prak­tis­ches Ausleben ?

    Was wäre denn jew­eils die drastis­chste und die mildeste Konsequenz ?
    Gemein­deauss­chluss von Betrof­fe­nen ana­log zu 1. Kor 5 ?
    Die Homo­sex­u­al­ität „weg­beten“ ?
    An Keuschheit appellieren ?

    Das sind Fra­gen die ich mir immer wieder stelle als ver­heirateter Het­ero­mann, der seine Sex­u­al­ität laut Bibel wohl „gottge­fäl­lig“ in sein­er Ehe ausleben darf… was Homo­sex­uellen ja anscheinend ver­wehrt zu sein scheint…

    Müsste ich es daher wie der Phar­isäer in Luk 18,11 machen und Gott dafür danken ? ( wohl eher nicht… aber wer ist nicht geneigt so zu denken…wenn wir mal ehrlich sind…?)

    Beste Grüsse !
    Thomas

    Reply
    • Peter Bruderer

      Hal­lo Thomas
      Danke für deine Rück­mel­dung und deinen Rück­fra­gen. Hast du die kür­zlich erschiene­nen Artikel meines Brud­ers schon gele­sen über Kirche als ‘Raum der Gnade’? Vielle­icht find­est du dort ein paar Ansatzpunk­te. Hier geht es zum ersten der drei Artikel: https://danieloption.ch/featured/kirche-als-raum-der-gnade‑1–3/

      Reply
  2. Daniel

    Ein­mal mehr beweist du deine kri­tis­ches Denken und deine Recherchefähigkeit­en, Bele­sen­heit und vieles mehr. Her­zlichen Dank für diesen erhel­len­den Artikel zur Diskussion.

    Reply
    • Peter Bruderer

      Vie­len Dank, Daniel. Es war tat­säch­lich eine sehr inter­es­sante Recherche.

      Reply

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