Er gilt als Ikone der Musikgeschichte und musikalischer Ideengeber für Grössen wie Bob Dylan oder Led Zeppelin. Doch zeitlebens hatte Blind Willie Johnson als blinder Bettelmusiker allen Grund den Blues zu singen. 1918–1919 wird er Zeuge der spanischen Grippe, welche auch in den USA Millionen von Menschen dahinrafft. Doch trotzt schonungslosem Besingen des Elends sind seine Lieder voller Glaubenshoffnung. Seine natürlichen Augen können nicht sehen, doch seine geistlichen Augen sind weit offen.
Es gibt absolut keinen Grund, Blind Willie Johnson zu kennen — wenn da nicht diese rund 30 Songs wären, welche er zwischen 1927 und 1930 für Columbia Records einspielt. Abgesehen von den Liedern und einem einzigen Photo gibt es kaum gesicherte Informationen über seine Person. Aber Blind Willie wird trotzdem zu einem der einflussreichsten Pioniere des Blues.
So geht die Geschichte:
Blind Willie Johnson wird 1897 in Texas geboren. Im Alter von 5 Jahren soll er den Entschluss gefasst haben, ein Prediger des Wort Gottes zu werden. Um diese Zeit stirbt seine Mutter. Noch besitzt er das Augenlicht und bastelt sich seine erste Gitarre aus einer Zigarrenschachtel. Mit 7 Jahren wird er von seiner Stiefmutter während eines Streits mit seinem Vater mit einer ätzenden Flüssigkeit beworfen. Er erblindet und fängt an, den Familienunterhalt als Strassenmusiker mitzutragen. Neben seinem ‘Brotjob’ als Musiker bleibt das grosse Anliegen, das Evangelium zu verkünden. Zwischenzeitlich soll Johnson auch eine eigene Kirche betreut haben.
Zeitlebens bleibt er arm, durchlebt die Seuchenjahre der spanischen Grippe und die Herausforderungen von zwei Weltkriegen und der Weltwirtschaftskrise. 1945 wird sein Haus bei einem Brand zerstört. Ohne einen Zufluchtsort lebt Johnson weiter in den Ruinen seines Hauses, wo er an Malaria-Fieber erkrankt und stirbt. Gemäss seiner zweiten Ehefrau Angeline hatten sich die Krankenhäuser geweigert einen blinden Mann zu pflegen — wohl auch weil er schwarz war.
Die Tragik von Johnsons Geschichte wird überstrahlt von seinen Songs, seinem bahnbrechenden Slide-Gitarrenspiel und seiner rohen Stimme. Die Liste der prominenten Künstler welche in den kommenden Jahrzenten seine Songs interpretieren würden, ist lange: Bob Dylan, Led Zeppelin, Eric Clapton, Taj Mahal, Nick Cave, The White Stripes und viele weitere Künstler von Weltrang liessen sich von Blind Willie Johnson inspirieren und spielen seine Lieder ein.
Die einzige erhaltene Photografie von Blind Willie Johnson
Blind Willie Johnsons Songs zeichneten sich aus durch einen ungefilterten Blick auf die notvolle Realität seines eigenen Lebens und der Welt um ihn herum. Da fehlt jegliche ‘Zuckerwatte’, da sind Wohlfühlmomente fehl am Platz. So rauh wie seine Lebensrealität war auch sein Singen. Doch gleichzeitig war seine Musik ein Spiegel seines tiefen und unerschütterlichen Glaubens — eines Glaubens, welcher auch in Zeiten der Seuche bei Gott Halt und Perspektive findet. Gleich in zwei Liedern thematisiert er die spanische Grippe: “Jesus is coming soon — Jesus kommt bald” und “God Don’t Never Change — Gott verändert sich nicht”
Jesus is coming soon
Well, we done told you, our God’s done warned you, Jesus comin soon
We done told you, our God’s done warned you, Jesus comin soonIn the year of 19 and 18, God sent a mighty disease
It killed many a‑thousand, on land and on the seasGreat disease was mighty and the people were sick everywhere
It was an epidemic, it floated through the airThe doctors they got troubled and they didn’t know what to do
They gathered themselves together, they called it the Spanish’in’ fluSoldiers died on the battlefield, died in the counts too
Captain said to the lieutenant, “I don’t know what to do”Well, God is warning the nation, He’s a‑warnin them every way
To turn away from evil and seek the Lord and prayWell, the nobles said to the people, “You better close your public schools,
until the events of death has ending, you better close your churches too”Read the book of Zacharias, bible plainly says
Said the people in the cities dyin, account of they wicked waysTextübersetzung
God Don’t Never Change
Yes God, God don’t never change
He’s God, always will be GodGod in the middle of the ocean
God in the middle of the sea
The help of the great creator
Truly been a God to me
Hey God, God don’t never change
God, always will be GodGod in creation
God when Adam fell
God way up in heaven
God way down in hell
He’s God, God don’t never change
God, always will be GodSpoke to the mountain
Said how great I am
Want you to get up this mornin’
Skip around like a lamb
Well he’s God, God don’t never change
God, always will be GodGod in the time of sickness
God in the doctor too
In the time of the influenza
He truly was a God to you
Well he’s God, God don’t never change
He’s God, always will be GodGod in the pulpit
God way down at the door
He’s God in the amen corner
God all over the floor
Well he’s God, God don’t never change
God, always will be GodTextübersetzung
Das erste Lied “Jesus is coming soon” präsentiert Gott als den, der die Menschen auf viele Art und Weise zu Busse und Umkehr ruft — auch durch die spanische Grippe: “Ja, Gott warnt die Nation, er warnt sie auf alle möglichen Arten / Sich vom Bösen abzuwenden und den Herrn zu suchen im Gebet / Nun, wir haben’s euch gesagt, und Gott hat euch gewarnt, Jesus kommt bald”
Das zweite Lied “God Don’t Never Change” zeichnet ein erweiteres Gottesbild wenn Johnson singt: “Gott in Zeiten der Kranheit / Gott ebenso im Arzt / In der Zeit der Influenza / War er wahrlich ein Gott für dich / Nun er ist Gott, Gott verändert sich nie / Er ist Gott, wird immer Gott sein”.
Für Johnson war klar — Gott wirkt und spricht durch die Seuche zum Menschen, aber er wirkt auch durch den Arzt, der dem Menschen hilft. Menschliche Hilfe sieht Johnson genauso als von Gott gelenkt, wie er auch die Seuche als Instrument Gottes wahrnimmt. Beides nutzt Gott um dem Menschen zu helfen und ihn mit seiner Vergänglichkeit und den Konsequenzen seiner bösen Wege zu konfrontieren.
Die krassen natürlichen Realitäten des Lebens werden für Johnson stets aufgewogen durch die übernatürlichen Realitäten eines transzendenten Gottes, der in Raum und Zeit hineinwirkt — nicht immer so wie der Mensch es sich wünschen würde, aber dennoch immer planvoll, zielgerichtet und verlässlich.
Viele Theologen von heute würden eine solche Sicht auf Gott, wie wir sie beim blinden Bluesman vorfinden, als naiv und gar fehlgeleitet abtun. Der Einfluss des Naturalismus auf das Weltbild der Menschen und Theologen verlangt danach, Gott und die Welt nur in natürlichen Kategorien zu erklären. Übernatürliches Eingreifen und Reden Gottes wird als problematisch gesehen, ein Gott der sich einer Seuche bedienen würde erst recht! Was in den natürlichen Kategorien dieser Welt nicht erklärbar ist, hat für diese Welt dann auch keine Bedeutung oder Relevanz.
Ein Beispiel für solches ‘zeitgemässes’ Denken zeigt sich im aktuellen Oster-Interview von Gottfried Locher, Präsident der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz:
«Jesus ist am Kreuz umgebracht worden, real und brutal. Seine Auferstehung an Ostern ist eine andere Art von Wahrheit. Auf dieser Erde regieren Fakten. Corona lässt sich nicht wegbeten.»
Von den Osterereignissen lässt sich nur der Tod von Jesus in den Kategorien der Natur erklären. Die Auferstehung benötigt hingegen eine Erklärung die übernatürlich ist. Deshalb scheint für Gottfried Locher die Auferstehung nicht weiter von Bedeutung zu sein, wenn es um die harten Realitäten und Fakten dieser Welt geht, zu der Tod, Leid und auch Corona gehören. Auch Gebete, welche um ein übernatürliches Eingreiffen Gottes in die natürlichen Geschehnisse bitten, müssen wirkungslos sein. Das sind die folgerichtigen Schlüsse einer Theologie, welche unter der Fuchtel des Naturalismus agiert.
Wer Gott seiner übernatürlichen Kapazitäten entledigt, dem verbleibt nur die Hoffnung auf das Hier und Jetzt. Der Glaube reduziert sich auf Ethik, Moral und die Hoffnung auf etwas mehr Gutmenschentum und Liebe auf Planet Erde.
Um eines klarzustellen: Blind Willie Johnson hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, in einer besseren Welt zu leben. Doch vielleicht war der blinde Blues Musiker in dieser Sache der bessere Realist als die Weltverbesserungs-Philosophen unserer Zeit. Vielleicht erlebte Johnson klarer als wir das menschliche Unvermögen zum Guten (Mk 7:21, Rö 7:19). Vielleicht war er sich auch besser im Klaren, dass ihm eine Verbesserung der äusseren Umstände das Augenlicht doch nicht zurückgeben würde, welches ihm einst geraubt worden war.
Wer den Glauben auf Ethik und Moral reduziert, übersieht eben wesentliche Aspekte, welche der Utopie eines gerechten und liebevollen Diesseits im Wege stehen. Giuseppe Gracia thematisiert zwei dieser Aspekte in einem aktuellen Artikel in der NZZ am Sonntag.
Zum einen bringt die menschliche Freiheit diesem täglich die Möglichkeit zum Guten wie auch zum Bösen. Menschliche Integrität und Güte sind auch nicht vererbbar. Gracia bringt dies auf den Punkt:
«Die wachsende Erkenntnis der Strukturen und Materie führt zu verbesserter Forschung, zu einer vergrösserten Beherrschung von Natur und Technik. Aber im Bereich des moralischen Bewusstseins? Nein, wenn es um die Entscheidungen des Einzelnen geht, kann es kein vergleichbares Wachstum geben. Aus dem einfachen Grund, weil die Freiheit des Menschen immer wieder neu ist.”
Zum anderen vermag Weltverbesserung in der Gegenwart vergangenes Unrecht nicht wegzuwischen. Gracia zitiert in diesem Zusammenhang den Philosophen Theodor Adorno. Adorno schreibt, dass eine wirklich gerechte Welt eine ist, «in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern das unwiderruflich Vergangene ebenfalls widerrufen wäre.» Deshalb gilt auch: so lange der Tod das letzte Wort hat, ist letztendlich keine Gerechtigkeit für alle Menschen möglich.
Album-Cover, 1929
Blind Willie Johnson braucht keine perfekte und gerechte Welt für sein Glück. Aber er braucht eine Welt, in welcher Leid und Tod nicht das letzte Wort haben. Er braucht eine Welt, in welcher Gottes übernatürliches Eingreifen und Einwirken eine Realität und nicht nur eine irrelevante ‘andere Wahrheit’ ist. Er braucht einen Gott, von dem er sicher ist, dass er eines Tages wirkliche Gerechtigkeit schaffen würde – und damit auch Gerechtigkeit für das Leid, das ihm zugefügt worden war. Er braucht einen Gott, der nicht nur in den Gedanken und Gefühlen einiger Menschen auferstanden ist, sondern einen Gott der leiblich-real auferstanden ist – und damit reale Hoffnung auf die leibliche Wiederherstellung seines eigenen entstellten Körpers gibt.
Blind Willie Johnson hat diese Perspektive eines transzendenten, ewigen und handelnden Gottes. Es mag kein modisches Gottesbild sein. Und seiner Theologie mangelt es vielleicht auch der Eloquenz, welche wir uns heute wünschen. Aber es spricht für den blinden Mann aus Texas, dass er trotz grösster Schicksalsschläge, Ausgrenzung, Armut und Benachteiligung tieferen Frieden kannte als so mancher von uns. “Praise God I’m satisfied — Gottlob ich bin glücklich”, singt er auf der Platte, während er gleichzeitig Seuche und Tod besingt.
Johnson wollte nie nur den Blues singen, sondern den Gospel-Blues. Denn in allen harten Realitäten des Lebens kannte er noch eine andere reale Wahrheit — die seines auferstandenen Herrn und Erlösers: Jesus Christus. Seine natürlichen Augen mögen blind gewesen sein. Doch seine geistlichen Augen waren weit offen.
Praise God I’m satisfied
Praise God I’m satisfied,
For me he bled and died,
Well I’m glad to know that he loved me so,
For me he was crucified
Lord I’m satisfied,
For me he bled and died,
Well I’m glad to know that he loved me so,
Praise God I’m satisfied.Up on the mountain dreary
I wandered sad and alone,
And how well my Saviour found me,
For to claim me for His own.
Placed His arms about me,
And he drawed me to His side, all right,
I might be a child of His,
Praise God I’m satisfiedWell it gave me joy and gladness,
For the clouds He rolled away.
While am I left on earth singin’ His praises,
How glad I am today.
Oh such a need had sinners,
For me he bled and died, bled and died, all right,
Now I know I’m a child of His,
Praise God I’m satisfied.Textübersetzung
Anmerkung des Autoren:
Jeder hat seine eigenen musikalischen Ikonen. Meine persönliche Bekanntschaft mit der Musik von Blind Willie Johnson erfolgte erstmalig durch das Bluesprojekt Kaiser/Mansfield von 1990 und durch die 94er Interpretation von ‘Nobody’s Fault But Mine’ durch die 77’s. Danke!
https://m.youtube.com/watch?feature=youtu.be&v=bhN4M4aS50U
Nicht unerwähnt bleiben dürfte meiner Meinung nach der Song “The Soul of a man”, welcher Scorsese zu einer Dokumentation über den Blues inspiriert hat. In diesem Zusammenhang wäre sicher auch die Version von Bruce Cockburn zu nennen, welche auf “Nothing but a burning light” zu hören ist. Dieser Albumtitel ist sinnnigerweise ebenfalls eine Zeile aus diesem Song. Ich finde es auch bemerkenswert, dass Blind Willie — obwohl Prediger — in diesem Song die Frage offen lässt. absolute Aussagen zum Glauben sucht man auch bei Bruce Cockburn vergeblich, vermutlich mit ein Grund, weshalb er den Song ausgesucht hat.
Danke Rolf. Wusste nicht das Bruce einen Song von ihm interpretiert hat.
Yes! OHHHHH Yes! Danke mien Bruder! ‑Glenn
Thanks for reacting, Glenn.
Sorry the article is only in German up till now…
Herzlichen Dank für diesen spannenden Text, lieber Peter! Der Musiker war mir gänzlich unbekannt. Auch im Streamingdienst von Apple ist keine Musik von ihm zu finden.
Danke Peter. Auf Spotify ist die ganze Sammlung abrufbar: https://open.spotify.com/artist/5kO4xdEKLuHHHPreu3UmkZ?si=zRiplTmiRaWvnpZY-rkE5Q