Kürzlich fand in Seoul der vierte Lausanne-Kongress statt. Das Motto lautete: „Let the Church declare and display Christ together.“ (mehr dazu) Anlass zu diesem Kongress war das 50jährige Jubiläum, seit sich 1974 über 2000 Personen aus 150 Nationen in Lausanne zum ersten internationalen Kongress für Weltevangelisation trafen. Das wichtigste Ergebnis der damaligen Konferenz – die Lausanner Verpflichtung – ist ein bedeutsames Dokument der jüngeren Kirchengeschichte. Aus der Entstehungsgeschichte von Lausanne 74 lassen sich entscheidende Lehren für unsere Zeit ziehen.
Ich mag die Lausanner Bewegung. Nicht nur habe ich zeitgleich mit der Lausanner Verpflichtung – im Juli 1974 – das Licht der Welt erblickt. Als Teilnehmer am Forum für Weltevangelisation in Pattaya 2004 durfte ich vor 20 Jahren selbst etwas Lausanne-Luft schnuppern.
In einer der neueren Geschichtsschreibungen über die evangelikale Bewegung stellt Prof. Thorsten Dietz in Bezug auf den ersten Lausanner Kongress von 1974 eine Frage, die mich auch interessiert:
«Worauf reagierte der Kongress? Von welchen vermeintlichen Fehlentwicklungen in den christlichen Kirchen bzw. der Gesellschaft insgesamt grenzte man sich ab?»[1]
Man kann über Geschichte und deren Bewertung unterschiedlicher Meinung sein. Vieles hängt dabei von der persönlichen Biografie und Weltanschauung ab. Im obigen Zitat gibt der Autor dem Leser jedenfalls bereits mit der Fragestellung eine Bewertung mit auf den Weg: Es ging bei Lausanne 74 scheinbar vor allem um Abgrenzung und um eine Reaktion auf wahrgenommene Fehlentwicklungen, die in Wirklichkeit gar keine waren.
Meine Einschätzung ist wesentlich optimistischer: Es gab triftige Gründe, welche Lausanne 74 zu einer notwendigen Konferenz machten. Und die Abgrenzungen, welche der Lausanner Bewegung zugrunde liegen, sind im Licht ihrer Wirkung und der Herausforderungen jener Zeit eigentlich nur positiv zu bewerten.
Es ist zwar eine Realität, dass Lausanne 74 Teil einer Absetzbewegung gegenüber schwierigen Entwicklungen der Ökumene im Allgemeinen und des Ökumenischen Rats der Kirchen[2] im Speziellen war. Stichworte dazu sind der Verlust zentraler Inhalte des christlichen Glaubens und teilweise Korruption bis in die höchsten Ebenen. Gleichzeitig hat diese Absetzbewegung – die man meinetwegen auch als Abgrenzung bezeichnen darf – eine sehr dynamische missionarische Bewegung gefördert und massgeblich dazu beigetragen, dass die evangelikale Bewegung heute neben dem Katholizismus die weltweit größte christliche Glaubensausprägung ist. Von einer vergleichbar dynamischen Wirkung ist der Ökumenische Rat der Kirchen weit entfernt. Lausanne 74 sagte berechtigterweise ‚nein‘ zu etwas, weil es richtigerweise zu etwas anderem ‚Ja‘ sagte.
Für mich ist die Lausanner Verpflichtung ein perfektes Beispiel dafür, wie durch Krisen ein vertieftes Verständnis des Evangeliums gewonnen werden kann und nötige Korrekturen Gestalt annehmen können. So möchte ich nachfolgend Einblicke geben in die Ereignisse und Umstände, welche zur Lausanner Verpflichtung geführt haben, warum ich der Überzeugung bin, dass es sie brauchte. Nicht zuletzt übertrage ich meine Erkenntnisse auf aktuell in der evangelikalen Welt drängende Fragen.
Die Lausanner Verpflichtung bekräftigt mutig zentrale Inhalte des christlichen Glaubens
Was hat die Lausanner Verpflichtung ausgemacht? Die Einleitung gibt einen guten Eindruck dessen, was den Urhebern auf dem Herzen lag:
«Gottes Wirken in unserer Zeit bewegt uns tief. Unser Versagen führt uns zur Buße. Die unvollendete Aufgabe der Evangelisation fordert uns heraus. Wir glauben, dass das Evangelium Gottes gute Nachricht für die ganze Welt ist. Durch Seine Gnade sind wir entschlossen, dem Auftrag Jesu Christi zu gehorchen, indem wir Sein Heil der ganzen Menschheit verkündigen, um alle Völker zu Jüngern zu machen.»[3]
Im Kern ging es bei der Lausanner Verpflichtung also um die Erfüllung des Missionsauftrags (vgl. Mt 28:18–20). Die ersten Artikel des Bekenntnisses bekräftigen den Glauben an den dreieinigen Gott (Art. 1), sie betonen die grosse Bedeutung der Bibel als dem «einzigen geschriebenen Wort Gottes» und sie betonen die Einzigartigkeit und Universalität von Jesus Christus als dem einzigen Mittler zwischen Gott und Menschen (Art. 3). Diese ersten drei Artikel formulieren die bewährten, traditionellen Glaubensüberzeugungen gegenüber den liberalen Glaubenssätzen, welche damals in vielen protestantischen Kirchen und auch in der Ökumene zunehmend bestimmend waren.
Es folgt im vierten Artikel das Bekenntnis zum Auftrag und Wesen der Evangelisation. Evangelisation wird dabei definiert als das Verbreiten der guten Nachricht, dass Jesus Christus «für unsere Sünden starb und von den Toten auferstand» und dass er «die Vergebung der Sünden und die befreiende Gabe des Geistes allen denen anbietet, die Busse tun und glauben.» Die Evangelisation der Welt verlange, dass «die ganze Gemeinde der ganzen Welt das ganze Evangelium» bringe – eine Formulierung, welche sich in der Folge zum Motto der Lausanner Bewegung mauserte. Die Gemeinde bilde dabei «die Mitte des weltumfassenden Planes Gottes» und sei Gottes «auserwähltes Werkzeug zur Verbreitung des Evangeliums». Wichtig sei die «Präsenz als Christen in der Welt» und ebenso eine Dialogfähigkeit, die «durch einfühlsames Hören zum Verstehen des anderen führt.»
In den darauffolgenden Artikeln des Bekenntnisses geht es um die soziale Verantwortung von Christen (Art. 5), die Rolle der Gemeinde in der Evangelisation (Art. 6), Fragen der Zusammenarbeit und Partnerschaft in der Evangelisation (Art. 7/8), die Dringlichkeit unerreichte Menschen mit dem Evangelium bekanntzumachen (Art. 9) und einiges mehr. Ein spezielles Anliegen ist das Gebet für verfolgte Christen und das Wirken auf deren Befreiung hin (Art. 13). Im letzten Abschnitt (Art. 15) wird der Glaube an die Wiederkunft von Jesus Christus in Macht und Herrlichkeit bekräftigt.
Wer sich intensiver mit der Vorgeschichte der Lausanner Verpflichtung befasst, wird bald realisieren, dass die Artikel sehr spezifisch auf damals aktuelle gesellschaftliche oder innerkirchliche Fragestellungen und Kontroversen reagierten. Der zentrale vierte Artikel um das Wesen von Evangelisation und Mission bildet dabei das Herzstück der Lausanner Verpflichtung. Er stellt sich dem damaligen Trend in der Ökumenischen Bewegung entgegen, Mission nur noch im Sinne eines diesseitigen Strebens nach mehr Gerechtigkeit oder sozialem Ausgleich zu betreiben. Die Verpflichtung reagiert aber auch auf wahrgenommene Missstände auf evangelikaler Seite, wie zum Beispiel einer christlichen Rückzugsmentalität oder mangelnder kultureller Sensibilität.
Welt im Umbruch, Christenheit im Umbruch, Mission im Umbruch
Die 1960er und frühen 1970er Jahre waren zweifellos eine Zeit großer gesellschaftlicher Umbrüche. Im Westen setze ein starker Kulturwandel ein: Werte der gesellschaftlichen Ordnung traten in den Hintergrund zugunsten der Freiheit des Einzelnen. Errungenschaften wie die Pille befeuerten die sexuelle Revolution. Die Gesellschaft pluralisierte sich zunehmend – auch in Fragen von Religion und Spiritualität. Gleichzeitig machten sich viele soziale Bewegungen daran, Rechte für bestimmte Bevölkerungsgruppen einzufordern: Gleichberechtigung für Schwarze, Frauenbewegung, Friedens- und Umweltbewegung oder auch Gay Liberation lauteten die Stichworte. An den Universitäten wurde zunehmend mehr demonstriert statt studiert. Mit vom Marxismus inspirierten Instrumenten wie Kritischer Theorie wurde die Gesellschaft nach Ungleichheiten durchleuchtet und mit oft zunehmender Militanz eine gerechtere Gesellschaft eingefordert.
Auf der Weltbühne brachte das Ende des kolonialen Zeitalters massive Umwälzungen im globalen Süden und bei den ehemaligen Kolonialherrschern ein grundlegendes Hinterfragen der eigenen Rolle und Geschichte. In allen Ecken der Welt waren revolutionäre Bewegungen am Wirken. Ein Ringen um globale Vorherrschaft zwischen den westlichen Staaten und dem kommunistischen Machtblock bestimmte das weltweite Geschehen. Der Wettlauf um die Eroberung des Weltalls war in voller Fahrt. Derweil machte das ‚Rote Buch‘ von Mao unter antikapitalistischen Studenten im Westen die Runde. Der Kampf der zwei grossen Machtblöcke wurde nur zu oft in Stellvertreterkriegen ausgefochten, sei es im Vietnam oder in den vielen Konflikten auf dem afrikanischen Kontinent.
Die westlich geprägte Christenheit und deren Missionsbewegungen wurden mit hineingerissen in all diese zum Teil berechtigten Fragestellungen, Konflikte und Entwicklungen ihrer Zeit. Wo und wie war Gott in ihrer Zeit am Wirken? Wie sollte aus christlicher Sicht auf Pluralisierung und Individualisierung reagiert werden? Wie sollten Gläubige sich zu den starken sozialen Bewegungen ihrer Zeit stellen? Sollten sie sich auf die Seite von revolutionären Bewegungen schlagen oder den Status Quo stützen? Was sollte die Christenheit mit ihrer eigenen, mit dem Kolonialismus verflochtenen Missionsgeschichte anfangen? Und wie sollte Mission in einer postkolonialen Ära aussehen?
Ökumenische Bewegung: Brennpunkt der Auseinandersetzung um Mission
Im Ringen um eine angemessene Missionsstrategie für die neue Zeit entwickelte sich in den 1960er Jahren der Ökumenische Rat der Kirchen zu einem Brennpunkt. Ein Blick in die Gründungskonferenz des Ökumenischen Rates der Kirchen (Amsterdam 1948) offenbart einen doch erstaunlichen Willen zur Mission der Ökumenischen Gründerfiguren:
«Während wir uns in diesem ökumenischen Rahmen mit Evangelisation befasst haben, hat uns das Gefühl der Dringlichkeit ergriffen. Wir haben etwas von der apostolischen Zeit wiedererlangt, als die Gläubigen überall hingingen, um das Wort zu predigen. Wenn das Evangelium wirklich eine Frage von Leben und Tod ist, scheint es unerträglich, dass irgendein Mensch auf der Welt sein Leben verbringen sollte, ohne jemals die Chance zu haben, es zu hören und zu empfangen.»[4]
Dieses Statement könnte ebenso gut aus der Feder eines evangelikalen Missionars oder Evangelisten stammen. «Mission» war neben »Einheit» und «Dienst» eines der drei zentralen Anliegen des ÖRK.[5] Der Fokus bei der Mission lag dabei auf der Evangelisierung unerreichter Menschengruppen und auf der Predigt des biblischen Wortes.
Spätestens in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre griff aber in vielen der etablierten Mainline Kirchen[6] und am Hauptsitz des ÖRK in Genf eine grundlegend veränderte Sicht auf das Wesen christlicher Mission um sich. Dieser neuen Sichtweise sollte an der vierten Vollversammlung im schwedischen Uppsala erstmals auch offiziell Ausdruck gegeben werden, was zu einer grossen Kontroverse führte und letztendlich wohl mit entscheidend war, dass sich die evangelikale Bewegung in Fragen der Mission und Evangelisation von der ökumenischen Bewegung abgesetzt hat.
Die neue ökumenische Sicht über Mission hat der Missionswissenschaftler Donald McGavran (1897–1990)[7], welcher in dieser Zeit die evangelikale Perspektive massgeblich mitprägte, folgendermassen beschrieben:
«Das Bild der „Neuen Mission“ ist komplex. Dennoch kann man sagen, dass ihr Kern in einer Auffassung von Mission als Humanisierung liegt – eine Humanisierung, auf die Menschen guten Willens in jeder Religion und jeder Ideologie drängen. Infolgedessen wird die ‚Bekehrung‘ von dieser Religion zu jener, vom Marxismus zum Christentum oder vom Shintoismus zum Presbyterianismus, weniger betont. […] Es wird nicht von Menschen anderer Religionen verlangt, ihren angestammten Glauben aufzugeben und Christen zu werden. […] „Mission als Humanisierung“ und „Evangelisation als unnötig“ sind grundlegende Elemente der Neuen Mission.»[8]
Diese zusammenfassende Darstellung macht klar, wie dramatisch anders die neue Sicht auf Mission war. Synkretismus (Religionsvermischung) und Universalismus (Allversöhnung) waren integrale Bestandteile dieser neuen Sicht von Mission. Die Predigt des biblischen Wortes und der Aufruf zur Versöhnung mit Gott traten ganz in den Hintergrund zugunsten innerweltlicher Versöhnung und dem Einsatz für eine gerechtere und sozialere Welt. Nochmals McGavran:
«In früheren Zeiten wurde Mission positiv als ‚Hinwendung zu Gott‘ beschrieben. Heute muss Mission als Befreiung des Menschen von allem, was ihn ausbeutet und unterdrückt, beschrieben werden. » [9]
McGavran identifiziert vier Faktoren, welche Bestimmend waren für die Krise des ‘alten’ und die Entstehung des ‘neuen’ Verständnisses von Mission:[10]
- Der Zusammenbruch der europäischen Weltreiche: Zwar hätte christliche Missionen nie als integrale Funktionen der Kolonialmächte funktioniert, jedoch seien die durch Kolonialmächte regierten Länder diejenigen gewesen, wo auch Mission möglich gewesen sei. Der Zusammenbruch der Kolonialstrukturen habe mancherorts zur Ausweisung von Missionaren geführt und den Eindruck erweckt, dass das Ende der Kolonialzeit auch das Ende von Mission in ihrer bisherigen Form bedeuten müsse.
- Das Aufkommen junger Kirchen: Es konnte nicht sein, dass die jungen Kirchen in den Kolonialgebieten weiterhin aus dem Westen kontrolliert wurden. Sie mussten in die Unabhängigkeit und Eigenverantwortung entlassen werden und die Beziehung zwischen Missionsgesellschaften und lokalen Kirchen neu durchbuchstabiert werden.
- Die massive Erosion des Glaubens an die Inspiration und Autorität der Bibel: Viele gebildete Christen seien durch liberale Theologie zur Überzeugung gelangt, dass die Bibel in keiner Art und Weise als autoritatives Buch gesehen werden könne. Die Bibel war nur eine Stimme unter vielen und in sich selbst wiederum nur eine polyphone Sammlung von menschlichen Gedanken über Gott. Der Pluralismus habe dadurch Einzug gehalten und andere Religionen waren nun auch Wege, durch die Gott in kleinerem oder grösserem Ausmass gesprochen hat.
- Die Verbreitung einer marxistischen Weltsicht: Die Verbreitung einer marxistischen Weltsicht wurde zunehmend verstärkt durch die vielen Länder, in denen marxistische Gruppierungen die Kontrolle über die Armee und die Regierung erlangten, und so ganze Nationen ihrem Willen unterwarfen. Da Marxisten für sich in Anspruch nahmen, die Vertreter des einfachen Volkes und Kämpfer für eine klassenlose Gesellschaft zu sein, präsentierten sie sich als die grossen Vorkämpfer gegen Ausbeutung, Imperialismus, Ungerechtigkeit, Armut und Unterdrückung. Christliche Kirchen und Missionen hätten dieses Narrativ aufgenommen und Mission neu inszeniert als «mächtige Kampagne gegen jede Form von Ausbeutung der Massen».
Auch aus dem deutschsprachigen Raum kam Kritik an den innerökumenischen Entwicklungen. Der deutsche Theologe Klaus Bockmühl (1931–1989)[11], damals in der Schweiz als Dozent auf St. Chrischona tätig, sah die Dinge ähnlich wie McGavran. In der neuen Missionstheorie seien «die Ansprüche der Welt wichtiger geworden als der Anspruch des Evangeliums». Es habe eine «Welle der Beeinflussung ökumenischer Theologie durch soziologische und neomarxistische Ideen gegeben». Wer nicht das Evangelium an den Anfang stelle, sondern den säkularen Menschen, werde auch «bei einem säkularisierten Evangelium landen». Das grösste Gebot sei in dieser neuen Missionstheorie «auf ihre zweite Hälfte reduziert worden»: liebe deinen Nächsten wie dich selbst (vgl. Lk 10:27).[12]
Theologische Konfliktpunkte
Genährt wurde die neue Sicht auf Mission von den theologischen Trends der 1960er. Aus Lateinamerika kamen erste Ansätze der Befreiungstheologie[13]. Diese liess sich auch von marxistischen Konzepten inspirieren und war daher problemlos anschlussfähig an die Ideen der Neuen Linken[14] und den revolutionären Bewegungen jener Zeit. Im Westen war derweil die humanistische «Gott ist tot»-Theologie[15] der letzte Schrei. Prozesstheologen[16], welche die Konzepte der Evolutionstheorie auf geistliche Dinge übertrugen, sahen in Gott ein wandelbares Wesen, dessen moralische Werte auch mit der Zeit gehen konnten. Theologen wie Paul Tillich (1886–1965)[17], Karl Barth (1886–1968)[18], Rudolf Bultmann (1884–1976)[19] oder auch die Lehren eines Teilhard de Chardin (1881–1955)[20] waren hoch im Kurs. Im Kontrast dazu stand die evangelikale Bewegung, welche in ihren theologischen Grundlagen konservativ war, sich aber mit grosser Dynamik entwickelte und auch in etablierten Kirchenverbänden teils beachtlichen Rückhalt hatte.
Die divergierenden theologischen Trends jener Jahre führten innerhalb der ökumenischen Bewegung zu sehr grundlegenden inhaltlichen Fragenstellungen in Bezug auf christliche Doktrin. McGavran beschreibt neben der fundamentalen Frage nach der Inspiration und Autorität der Bibel folgende Konfliktpunkte in der christlichen Lehre:[21]
- Das Wesen der Kirche: Hat die Kirche in sich einen Wert? Oder sollte sie lediglich als ein Instrument zur Weltverbesserung gesehen werden? Einige Protestanten seien der Ansicht, die institutionelle Kirche der Gegenwart müsse durch eine noch zu bestimmende neue Form von ‘Kirche’ abgelöst werden. Etwas völlig Neues würde aus dem ‘Kochtopf’ hervortreten, vielleicht eine neue Verbindung aller Glaubenssysteme. Menschen wie Ghandi oder Che Guevara seien möglicherweise die Evidenz von Gottes Wirken in der Welt und die Leitfiguren der neuen ‘Kirche’.
- Das Wesen der Bekehrung: Muss die Kirche wirklich das Evangelium predigen und die Menschen zu persönlicher Busse, Umkehr und Nachfolge Jesu aufrufen? Ein einflussreicher Flügel der Kirche sei aktuell der Ansicht, dies sei unnötig oder gar illegitim, sei doch die Aufgabe der Kirche die «Kooperation mit Gott in der Erschaffung einer humaneren Welt».
- Die kulturellen Elemente des Christentums: Was ist der kulturübergreifend unverhandelbare Kern des Christentums? Die bisherige Missionsbewegung sei unvermeidlicherweise eine Mischung aus neutestamentlichem Christentum und westlicher Kultur gewesen. Wie sollten die Missionen beispielsweise mit Polygamie oder hinduistischen Kastensystemen umgehen?
- Die Natur und Person von Christus: War Christus die zweite Person der Trinität, inkarniert in der Person Jesus von Nazareth, oder war er ein ‘kosmischer Christus’, der sich zu verschiedenen Zeiten durch ganz verschiedenen Menschen manifestiert habe, die unterschiedlichste ‘Wahrheiten’ von sich gegeben hätten? Konnte der ‘kosmische Christus’ demzufolge nicht auch in Krishna oder anderen religiösen Leuchtfiguren geehrt werden? Während Kreuzigung, Tod und Auferstehung Jesu von den meisten Christen akzeptiert würde, würden einige seinen Exklusivitätsanspruch ablehnen (Joh 14:6). Diese würden diesen Exklusivitätsanspruch einem Übereifer der ersten Christen zuschreiben. Für diese sei das Konzept eines «kosmischen Christus» der sich in verschiedensten Religionen manifestiere, der Ausweg aus einer christlichen Arroganz.
- Die Funktion des Heiligen Geistes: Wo und wie ist der Heilige Geist heute am Wirken? Das christliche Zeugnis sei, dass der Heilige Geist immer in Übereinstimmung mit der fleischgewordenen Offenbarung Gottes – Jesus Christus – handeln würde, von dem die Heilige Schrift wahrheitsgemäss berichte. Doch einige ‘avant-garde-Christen’ würden das Wirken des Heiligen Geistes lieber in den Revolutionen ihrer Tage sehen und Mao und Lenin als Diener des Geistes. Wenn das Geisteswirken aber mehr ausserhalb der Kirche als innerhalb zu suchen sei, dann würde dies auch den Bedarf nach Verkündigung von Kreuz und Auferstehung tangieren.
- Die Lehre des Universalismus: Werden einmal alle Menschen gerettet? Es sei ein zunehmender Trend, dass die historische Lehre der Kirche von einem ‘doppelten Ausgang’ (dass manche Menschen in den Himmel kommen, und andere in die Hölle) als engstirnig und intolerant betrachtet werde. Die Einstellung zu der Frage habe aber grossen Einfluss auf die Einstellung zu Mission.
- Der Auftrag zur Jüngerschaft: Wie halten wir es mit dem Befehl von Jesus Christus, «alle Nationen zu Jüngern» zu machen (Mt28:19)? Dieser Befehl werde teilweise unterschiedlich ausgelegt, teilweise ganz weg interpretiert.
- Die Praxis des Glaubens: Muss sich der Glauben im Alltag und im Handeln des Gläubigen auswirken? Die Bibel lehre klar, dass Gott ein Gott der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der Barmherzigkeit sei. Gott fordere sein ‘Haus’ auf, dieselben Tugenden zu manifestieren. Als neue Kreaturen Gottes, seien Christen angehalten, nicht mehr zu sündigen und allen Menschen Gutes zu erweisen. Christen seien das Salz der Erde und sollten sich deshalb für gerechte und barmherzige gesellschaftliche Rahmenbedingungen einsetzen. Die klassische evangelikale Position war dabei, dass nur veränderte Menschen (Evangelisation) eine veränderte Gesellschaft hervorbringen konnten.
Es liegt auf der Hand, dass solch grundlegende theologische Konfliktpunkte die ökumenische Bewegung vor grosse Herausforderungen stellte. Wie hat sie versucht, den ‘Laden’ zusammenzuhalten? Ich nehme drei Ansätze wahr:
Pluralisierung: Pluralisierung bedeutete, jeder theologischen Strömung etwas von dem zu geben, wonach sie suchte. Während sich evangelikale Christen zum Beispiel über für sie passendende Statements zu Mission in der ersten ÖRK-Vollversammlung freuen konnten, haben sich andere auf ihre ganz eigene inhaltliche Tradition in den ÖRK-Texten berufen können.[22]
Relativierung: Bewusst bedeutungsoffene, ‘ambigue’ Definitionen von Begrifflichkeiten schafften den Spielraum, in dem jeder seine eigene Definition hineinlesen konnte. Bildlich gesprochen könnte man sagen: ‘Scharfe Messer’ waren verboten, nur stumpfe zugelassen, damit sicher niemandem weh getan wurde. Natürlich waren bedeutungsoffene Definitionen auch ein guter Ausgangpunkt, um grundlegende Umdeutungen in die Wege zu leiten, wie dies zum Beispiel beim Thema ‘Mission’ versucht wurde.[23]
Ablenkung: Anstelle von doktrineller Einheit wurde nach neuen Bereichen gesucht, welche der Ökumene Zusammenhalt geben konnten, zum Beispiel das gemeinsame soziale Engagement oder das Pflegen von traditionellen oder neuen kirchlich-liturgischen Elementen.
Sicher gehören gewisse Kompromisse zu grösseren Sammelbewegungen dazu. Es liegt aber auch auf der Hand, dass die beschriebenen 3 Strategien kaum eine dynamische missionarische Bewegung beflügeln konnten. Pluralisierung bedeutet, dass gleichzeitig ‘in alle Richtungen’ gezogen werden kann. Stumpfe Messer tun niemandem weh, sie erfüllen aber auch ihre Funktion nicht mehr. Die Abwertung von zentralen Kernpunkten des Glaubens zugunsten von peripheren Aspekten führt zu einer inneren Aushöhlung.
Karl F. Henry (1913–2003)[24] – Vordenker und Mastermind der Evangelikalen Bewegung – kommentierte diese Vorgänge innerhalb der Ökumene folgendermassen:
«Was evangelikale Christen zutiefst beunruhigt, ist, dass die Leiter der Ökumene sich immer noch nicht bewusst sind, dass Einigkeit in Lehre und Mission der eigentliche Schlüssel zur christlichen Einheit ist. In Ermangelung eines theologischen Konsenses und eines evangelistischen Engagements scheinen sich ökumenische Vordenker zunehmend auf politische Ziele zu konzentrieren, in der Hoffnung, dass diese ein verbindendes Element sein könnten.»[25]
Es wäre falsch, die damalige Kritik an Entwicklungen innerhalb des ÖRK als rein evangelikale Angelegenheit zu sehen. Tatsächlich gab es auch im Herzen der Nachkriegszeit-Ökumene und in den etablierten Kirchen gewichtige Stimmen, welche auf problematische Entwicklungen und Aspekte hinwiesen. John Mackay (1889–1983)[26], Präsident Emeritus des Princeton Theological Seminary warnte vor einer Bürokratisierung der Ökumenischen Bewegung.[27] Ian Henderson, Professor für Systematische Theologie an der Universität Glasgow wies auf die grosse Bedeutung von Machtdynamiken innerhalb der Ökumene hin. Er beleuchtete auch die Tatsache, dass die Ökumenische Bewegung als Einheitsbewegung unausweichlich auch ausschliessende Wirkung hatte auf alle, welche sich nicht mit deren Annahmen und Strukturen anfreunden konnten.[28] Paul Ramsey (1913–1988)[29],Professor für Religion an der Princeton University, kritisierte die Vorgänge um die einseitige Verurteilung des US-Einsatzes im Vietnam.[30] Der Schweizer Emil Brunner (1889–1966) wies darauf hin, dass eine institutionelle Einheit innerhalb der protestantischen Bewegung unmöglich sei, weil die verschiedenen Kirchen unvereinbare und antithetische formative Prinzipien verkörpern würden.[31]
Auch der in ÖRK-Kreisen zunehmend salonfähige Synkretismus wurde von prominenten Exponenten der Ökumene kritisiert. Zu den Kritikern gehörten zum Beispiel der populäre Missiologe Lesslie Newbigin (1909–1998).[32] Die prominenteste Stimme war jedoch sicher Willem Visser ‘t Hooft (1900–1985)[33]. Dieser war ab 1948 der erste Generalsekretär des ÖRK und über viele Jahre hinweg eine prägende Figur der Bewegung. In seinem Buch «No other Name» (1963) kritisierte er den Trend zum Synkretismus und Bestrebungen nach einer neuen «Weltreligion».[34] Als quasi letzter Akt seines Wirkens im ÖRK sprach er 1968 zu Beginn der vierten Vollversammlung in Uppsala über den Auftrag der Ökumenischen Bewegung und rief dabei eindrücklich auf zu einer Versöhnung des vertikalen und horizontalen Aspektes des Glaubens:
«Ein Christentum, das seine vertikale Dimension verloren hat, hat sein Salz verloren, und ist nicht nur in sich selbst fade und kraftlos, sondern auch der Welt unnütz. Hingegen würde ein Christentum, das infolge seiner Konzentration auf die vertikale Dimension seine Verantwortung für das Gemeinschaftsleben vernachlässigen würde, die Inkarnation verleugnen, die Liebe Gottes zur Welt, die sich in Christus dargestellt hat.»[35]
Ökumenischer Showdown 1968 in Uppsala
Andere Evangelikale stellten die ökumenische These in Frage, dass die Mission der Gemeinde Jesu durch die vielen Spaltungen beeinträchtig worden sei. Donald Mc Gavran kam nach einer Untersuchung der Fusion diverser protestantischer Kirchen zur «Church of South India» zum Schluss, die Fusion habe keine Auswirkungen auf das Gemeindewachstum gehabt. Die These, dass das fragmentierte Christentum eine schnellere Weltevangelisation behindere, könne nicht belegt werden.[37]
Die Ökumene war entstehungsgeschichtlich weitgehend ein Kind der evangelikal geprägten Missionsbewegung des 19. Jahrhunderts. Doch in den 1960er Jahren fühlten sich viele in der Ökumene engagierte Evangelikale zunehmend an den Rand gedrängt. Karl F. Henry gab einen guten Einblick in dieses Empfinden: Die ökumenische Haltung gegenüber evangelikalen Repräsentanten sei von «höflicher Toleranz» geprägt, während man sie gleichzeitig «geschickt ausmanövriere».[38] Es gebe keine substanzielle Glaubensgemeinschaft, welche in den Machtstrukturen der Ökumene derart unterrepräsentiert sei wie die Evangelikalen.[39] Zudem würden gewisse ökumenische Funktionäre versuchen, «jeglichen evangelikalen Widerspruch als radikalen Fundamentalismus zu stigmatisieren».[40]
Mit deutlichen Worten weist Henry auch auf die Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Ökumene nach mehr struktureller Gerechtigkeit und der Realität innerhalb des ökumenischen Machtapparates:
«Die Ironie der gegenwärtigen ökumenischen Zwangslage liegt in der Tatsache, dass die Ökumenische Bewegung, die sich leidenschaftlich mehr für die Veränderung sozialer Strukturen als für die Erlösung des Einzelnen einsetzt, wenig Bereitschaft zeigt, ihre eigenen kirchlichen Strukturen einer Beurteilung zu unterziehen.»[41]
Als Wasserscheide zwischen dem traditionellen und neuem Missionsverständnis sowie zwischen der evangelikalen und der Ökumenischen Bewegung kann die vierte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Uppsala, 1968, gesehen werden. Dort wurde in der Sektion II über die Erneuerung der Mission debattiert. Der Entwurf zum Sektionsbericht war im Vorfeld unter der Federführung der Genfer Zentrale vorbereitet worden. Wichtige Grundlagen waren bereits 1966 durch die ‚Weltkonferenz über Kirche und Gesellschaft‘ in Genf gelegt worden. Die Konferenz hatte Kirchen unter anderem dazu aufgerufen, sich «aktiver für eine weltweite revolutionäre Opposition gegen das kapitalistische politische und wirtschaftliche System einzusetzen»[42]. Nun galt es, radikale Inhalte dieser Couleur in angebrachter Form den Delegierten der Weltkonferenz in Uppsala zu verkaufen. Richtig gelingen wollte dies nicht. Es gab massiven Widerspruch.
Die prominenteste Figur des Widerstandes war John Stott (1921–2011)[43]. Stott, der sechs Jahre später zur Mastermind der Lausanner Verpflichtung werden würde, gehörte zum einflussreichen evangelikalen Flügel der Anglikanischen Kirche Englands. Das offizielle Protokoll fasst seinen Kommentar zum Entwurf Sektion II mit folgenden Worten zusammen:
«Pfarrer J. R. W. Stott, Berater (Kirche von England), fand in dem Bericht keine Sorge um den geistlichen Hunger des Menschen vergleichbar mit dem, was über physischen Hunger und Armut gesagt wurde. Das wichtigste Anliegen der Kirche betreffe die Millionen Menschen, die ohne Christus verderben. «Der ökumenische Rat bekennt Jesus als Herrn. Der Herr sendet seine Kirche, um die frohe Botschaft zu verkündigen und Jünger zu gewinnen. Ich kann nicht sehen, dass die Vollversammlung bemüht ist, diesem Auftrag zu folgen. Der Herr Jesus Christus weinte über die Stadt, die ihn nicht angenommen hatte. Ich sehe diese Versammlung keine solche Tränen vergiessen.»[44]
Stott war nicht der Einzige, der Kritik am Entwurf übte. Der Bericht sei wirr und ohne klare Struktur, monierte ein Vertreter aus Südindien. Ins gleiche Horn blies ein Vertreter aus Schottland. Ein Vertreter aus dem Kongo vermisste Bezüge zur Bibel. Letztendlich wurde der Entwurf von der Vollversammlung abgelehnt und an die Sektion II zurückgewiesen mit dem Auftrag einer Überarbeitung.[45]
Doch auch die überarbeitete Schlussversion brachte nicht wirklich eine Verbesserung. Scheinbar wurden diverse Änderungen, auf die man sich geeinigt hatte, doch nicht aufgenommen. Diverse neue Einschübe wirkten deplatziert. Am Ende kursierten gar unterschiedliche Versionen des Endberichtes, je nachdem ob man die englische oder die deutsche Fassung las.[46]
Aus einem Schriftverkehr zwischen Stott und dem deutschen Theologen Peter Beyerhaus geht hervor, dass bei Teilnehmern wie John Stott der Eindruck entstand, die administrative Spitze des ÖRK würde alles in ihrer Macht tun, um den Schlusstext in Richtung ihrer eigenen vorgefassten Leitidee zu beeinflussen. Stott schreibt:
«Ich denke du hast recht, dass die Genfer Mitarbeiter als Lobbygruppe funktioniert haben. Sie haben sicher diesen Eindruck vermittelt. Ich war selbst sehr irritiert, als ich den finalen Bericht zu Uppsala 68 gelesen habe, weil es in vielen Belangen von dem abgewichen ist, was ich erwartet habe. Diverse Änderungsanträge von evangelikaler Seite, auf die wir uns meines Wissens geeinigt hatten, wurden nicht aufgenommen.»[47]
Stott macht in einer schriftlichen Auswertung nach der Konferenz aber auch klar, dass das Anliegen der Konferenz, Armut und Ungerechtigkeit entgegenzutreten, bei ihm durchaus auf offene Ohren gestossen ist:
«Die Versammlung war mit dem Hunger, der Armut und den Ungerechtigkeiten der heutigen Welt beschäftigt. Ich selbst war tief bewegt und herausgefordert. Und ich möchte nicht, dass dies geschmälert wird. Was mich beunruhigt hat, ist, dass ich kein vergleichbares Mitgefühl oder Interesse für den spirituellen Hunger der Millionen Menschen fand, die nicht evangelisiert wurden.»[48]
Funktionäre mit verborgener Agenda
Ein junger evangelikaler Theologe, der 1968 unbefangen über die Vollversammlung in Uppsala reflektieren konnte, war Harold Brown (1933–2007).[49] Brown, der in späteren Jahren zu einer wichtigen Figur in der Pro-Life Bewegung wurde, publizierte unmittelbar nach der Konferenz in Uppsala eine kritische Analyse über den Zustand des Protestantismus. Sein Buch «The Protest of a Troubled Protestant» (deutsch: «Protest eines beunruhigten Protestanten»), fand nicht nur im englischsprachigen Raum anklang, es wurde auch umgehend auf Deutsch übersetzt und im Brunnen Verlag publiziert.
Für Brown war klar, dass der ÖRK in Uppsala nur unter Preisgabe seines prophetischen Mandats und des evangelistischen Zeugnisses ein gewisses Mass an kirchlicher Einheit erreichen konnte:
«Der Weltkirchenrat kann – wie seine 4. Konferenz gezeigt hat – eine weltliche Macht nur dann kritisieren, wenn diese Kritik von den Vertretern eben jener Macht im Weltkirchenrat angeführt wird. So verurteilte die Konferenz von Uppsala zwar die Vereinigten Staaten in Vietnam, aber nicht die UdSSR in der Tschechoslowakei. […] Ein zugedrücktes Auge gegen die Verfolgungen in und durch die Sowjetunion ist vielleicht der Preis, den der Weltkirchenrat für die Anwesenheit der russischen Brüder zahlen musste.»[50]
Während die Vertreter von US-Kirchen also bereitwillig Kritik an ihrem Staat zuliessen oder gar wünschten, war Kritik bei Vertretern aus dem sogenannten Ostblock nicht gewünscht. Just während der Konferenz in Uppsala war Russland seine Truppen am Zusammenziehen, um den Prager Frühling gewaltsam niederzuschlagen. In diese Situation hinein konnte der ÖRK jedoch nicht hineinsprechen, weil das die russischen Vertreter vergrault hätte. Der Einsatz der Ökumene für Frieden und Gerechtigkeit war also selektiv und damit unglaubwürdig. Der Mut des Weltkirchenrats gehe gerade so weit, so Brown, «jedem Land das zu sagen, was seine eigenen Delegierten hören wollen».
Eine ähnliche Befangenheit zeigte sich beim Thema Christenverfolgung. Richard Wurmbrand (1909–2001)[51], selbst über Jahre aktiv in der ökumenischen Bewegung engagiert, dann aber viele Jahre um des Glaubens willen in Rumänien inhaftiert und gefoltert, wurde die Teilnahme an der Konferenz verweigert. Er wollte auf das Schicksal verfolgter Christen und Christinnen hinter dem Eisernen Vorhang aufmerksam machen. Das ging nicht. Browns lakonischer Kommentar dazu:
«Natürlich lieben es die gut gepflegten Sowjetdelegierten nicht, wenn man ihnen sagt, dass in kommunistischen Gefängnissen zahllose Christen festgehalten werden, deren Zusammenarbeit mit ihrer Regierung nicht so gut ist wie die der Uppsala-Delegierten.»
Richard Wurmbrand war in der Wahrnehmung der Funktionäre des ÖRK ein lästiger Störenfried. In unzähligen Briefen und Appellen an den ÖRK hatte er, der 1964 im Rahmen einer Amnestie die Ausreise in den Westen gestattet worden war, auf das Schicksal verfolgter Christen und der Untergrundkirche in kommunistischen Ländern aufmerksam machen wollen. Dabei hatte er unter anderem auch die waghalsige Behauptung geäussert, dass diverse Funktionäre des ÖRK sowie Delegierte der Generalversammlung in Wirklichkeit nichts anderes als sowjetische Agenten waren. Wurmbrand nannte auch Namen. So bezichtigte er Erzbischof Nikodim (1929–1978)[52], der im ÖRK eine zunehmend wichtige Rolle spielte[53], ein KGB Agent zu sein.[54]
Solche Dinge kamen in den Genfer Chefetagen nicht sehr gut an. In einem Brief warf der damalige Generalsekretär des ÖRK, Eugene C. Blake (1906–1985)[55] Wurmbrand vor, er würde aus seiner persönlichen Erfahrung «allgemeingültige Beschuldigungen gegen Leiter der Kirche machen». Ja, Wurmbrands Briefe liessen «den Sieg der Liebe über den Hass» vermissen.[56]
Die Sache hatte einen Haken. Denn Erzbischof Nikodim war nicht nur gemäss der Vorstellungswelt von Wurmbrand ein Agent. Nikodim war tatsächlich KGB-Spion. Wurmbrand wollte man in den 1960er Jahren nicht glauben. Doch als sich mit dem Ende des Kalten Krieges in den 1990er Jahren neue Wissensquellen aufschlossen, wurde der Umfang sichtbar, mit dem der KGB die Hierarchie der Orthodoxen Kirche Russlands und auch deren Vertreter im ÖRK bestimmt hat.
Sehr aufschlussreich war dabei das sogenannte Mitrokhin Archiv [57], welches die gezielte Infiltration kirchlicher Strukturen durch den KGB detailliert nachzeichnet.[58] So sei der Beitritt der Orthodoxen Kirche zum ÖRK 1961 in enger Abstimmung mit dem KGB erfolgt. In der Publikation der Archivinhalte wird folgende Bilanz gezogen:
«KGB-Agenten im ÖRK waren bemerkenswert erfolgreich darin, diesen davon abzubringen, der religiösen Verfolgung im Sowjetblock ernsthafte Aufmerksamkeit zu schenken, und ihn stattdessen davon zu überzeugen, sich auf die Sünden des imperialistischen Westens zu konzentrieren.»[59]
Die Lausanner Bewegung ist das Ergebnis eines innerevangelikalen Diskurses
War Beyerhaus tatsächlich diese kontroverse, spaltende Figur? Ich weiss es nicht. Ich habe den Vorteil, dass ich mich einigermassen unbefangen mit deutscher evangelikaler Geschichte befassen kann. Zugegeben: Der Text der Frankfurter Erklärung spricht eine sehr deutliche Sprache. Er benennt nicht nur wofür die Initianten waren, sondern auch wogegen sie sich stellten. Letzten Endes macht die Frankfurter Erklärung aber nichts anderes, als grundlegende Differenzen mit deutscher Präzision herauszuarbeiten. Historisch gesehen hat die Kirche immer auch die Figuren gebraucht, welche am Status Quo gerüttelt haben, welche, wie man bei uns in der Schweiz so schön sagt, «mit dem Volk Deutsch geredet haben». Die klare Sprache und das Reden in Kontrasten, wie wir es in der Frankfurter Erklärung vorfinden, wurde von gewichtigen evangelikalen Figuren auf dem internationalen Parkett als durchaus hilfreich empfunden.[67]
Auch die Frankfurter Erklärung hat übrigens «das entschlossene Eintreten aller Kirchen für Gerechtigkeit und Frieden» bejaht. Sie forderte aber eine Priorisierung der evangelistischen Wortverkündigung, was ja insgesamt betrachtet auch der ursprünglichen Philosophie des ÖRK entsprochen hat. Wer sich etwas eingehender mit der Frankfurter Erklärung befassen will, sollte auch das kleine Büchlein «Humanisierung» von Beyerhaus lesen.[68] Darin macht Beyerhaus eine äusserst differenzierte Analyse der Situation. Er betont die Notwendigkeit einer wechselseitigen innerchristlichen Korrektur. Er kritisiert nicht nur die Fehlentwicklungen im ÖRK, sondern er spricht auch von berechtigten Einwänden gegenüber gewissen evangelikalen Konzeptionen. Er prangert evangelikalen «Paternalismus» in der Missionspraxis an, welcher seine Ursache in einem «Idealdenken» in Bezug auf die eigene kirchliche Gestalt habe. Er mahnt die Evangelikalen: «Nicht nur Seelen, sondern auch die gerechten Taten der Heiligen werden eingehen in die kommende Herrlichkeit.» Er spricht von der evangelikalen Gefahr, sich «einem geschlossenen theologischen System zu verschreiben», aufgrund dessen man die Weltgeschichte mit ihren neuen, spezifischen Herausforderungen «nicht wirklich in den Blick» bekommt. Er warnt vor der Gefahr einer «radikal dualistischen Schau von ewiger Seligkeit und ewiger Verdammnis», bei der soziale Fragen leicht bedeutungslos werden. Die von Gott geliebte und gewollte Schöpfung würde bei diesem Denken in «fast manichäisch[69] anmutendem Heilsdualismus» übersehen. Die Antwort – so Beyerhaus — könne nicht sein, «dass man die sozial-ethischen Fragen, je leidenschaftlicher sie gestellt werden, umso trotziger ignoriert».[70]
Als eigentliche Initialzündung für Lausanne 74 muss sicher der Weltkongress für Evangelisation in Berlin (1966) gesehen werden. Diese von Billy Graham (1918–2018) initiierte und unter der Schirmherrschaft des evangelikalen Magazins Christianity Today durchgeführte Konferenz brachte Menschen aus 100 Nationen zusammen und legte die Grundlage für ein globales Netzwerk, auf dem Lausanne 74 dann aufbauen konnte. Billy Graham war mit der ökumenischen Bewegung durchaus vertraut. So hatte er als Beobachter für «Youth für Christ» an der ersten Vollversammlung des ÖRK im Jahre 1948 teilgenommen.[71]
Die an der Berliner Konferenz verabschiedete Resolution macht das Ziel der Teilnehmer klar. Sie wollten «nicht weniger als die Evangelisation der Menschheit in dieser Generation» vollbringen. Die Resolution macht klar, was sie unter dem Evangelium versteht: «Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferweckt worden ist, am dritten Tage nach der Schrift» (1Kor 15:3–4), Ebenso wird geklärt, was man unter Evangelisationen meint, nämlich «verurteilte und verlorene Sünder zu überzeugen, ihr Vertrauen in Gott zu setzen durch Annahme von Christus als Retter…». Diese Botschaft wollte man gemeinsam einer Menschheit bringen, welche sich in «geistlicher Revolte und moralischem Chaos» befindet.[72]
Die Erklärung zur Berliner Konferenz hat Kritik geerntet, weil sie es unterliess, sich zur ‘sozialen Frage’ zu äussern. Tatsächlich lag der Fokus der Konferenz auf der zentralen Bedeutung persönlicher Evangelisation.
In einem Votum an der Konferenz fasste William Pannell (1929–2024)[73], ein afroamerikanischer Evangelist aus Detroit, den Stand der Dinge in der sozialen Frage gut zusammen: Von der Schrift her sei es klar, dass veränderte Individuen der einzige Weg seien, eine Gesellschaft zum Guten zu verändern. Diese traditionelle Sicht könne und werde aber auch dazu missbraucht, eben gar nichts zu unternehmen.[74]
In seinem in Buchform erschienenen Kommentar zur Konferenz betonte Karl F. Henry, die Evangelikalen dürften sich «auf keinen Fall aus der Welt in ein Ghetto-Christentum zurückziehen, welches die sozialen Implikationen des Evangeliums ignoriert».[75] Er machte zugleich aber deutlich, dass innerhalb der Bewegung noch keine Einigkeit vorhanden sei, wie das christliche soziale Anliegen idealerweise angegangen werden könne.[76] Henry sieht jedoch in folgenden 3 Punkten eine innerevangelikale Übereinstimmung:
- Wo immer ein Mass an Freiheit für das Evangelium existiere, sollte diese Freiheit maximal zur Erfüllung des Missionsauftrages genutzt werden.
- Die Kraft zur Veränderung der menschlichen Natur und zur Transformation einer Gesellschaft liege voll und ganz im Evangelium, nicht in politischer oder säkularer Macht
- Politische Macht hat sich historisch gesehen als mehrheitlich korrupt und feindselig gegenüber den Ansprüchen Gottes erwiesen.
Im Zusammenhang mit dem dritten Punkt (Korruption politischer Macht) herrsche dann aber Uneinigkeit darüber, ob der Einsatz für Menschenrechte in Regierung und Gesetz deshalb eine Energieverschwendung und Ablenkung von dem Hauptauftrag der Missionierung sei oder nicht. Die evangelikale Vision einer neuen Gesellschaft sei eine messianische und an die Erwartung der Rückkehr von Jesus Christus in Herrlichkeit gebunden. Darin liege auch ein gewisses Misstrauen begründet gegenüber weltlicher Macht und Versuchen, aus einer nicht erneuerten menschlichen Natur eine gerechte Gesellschaft abzuleiten. Henry macht klar, dass hier noch eine wichtige Diskussion geführt werden müsse.[77]
In einer Frage mit grosser sozialer Implikation hat sich Berlin 1966 dennoch mit grossem Nachdruck festgelegt, nämlich in der Frage der Unterscheidung von Menschen aufgrund von Rasse oder Hautfarbe:
«Wir lehnen die Vorstellung ab, dass Menschen aufgrund einer Unterscheidung nach Rasse oder Farbe ungleich sind. Im Namen der Schrift und von Jesus Christus verurteilen wir Rassismus, wo immer dieser sichtbar wird.»[78]
Diese vorangegangenen Einblicke bringen hoffentlich zum Ausdruck, wie vielfältig, angeregt und durchaus auch selbstkritisch die in Bezug auf Mission drängenden Fragen innerevangelikal diskutiert wurden. Mein Eindruck ist, dass auch ganz unabhängig von der Ökumenischen Bewegung intensiv, differenziert und im Lichte des Zeitgeschehens diskutiert wurde. Lausanne 74 war damit auch nicht einfach eine Konferenz der «Abgrenzung», vielmehr bildete sie den Abschluss einer intensiven Phase evangelikaler Identitätssuche.
Es war auch ein Bewusstsein vorhanden, dass die evangelikale Bewegung selbst einen theologischen Nachholbedarf hat. Klaus Bockmühl schrieb treffend, es gebe bei den Evangelikalen halt keine zentralen Autoritäten oder ein Büro, welches die gemeinsame Sicht definieren oder kommunizieren würde. Die gemeinsame Sicht sei zwar durchaus vorhanden, aber sie müsse im Rahmen von disziplinierter theologischer Arbeit formuliert und kommuniziert werden.[79] Lausanne hat dazu einen wesentlichen Beitrag geleitet.
In seinem Buch zu Berlin 1966 machte Karl F. Henry zum Schluss klar, dass entscheidende Jahre für die Evangelikale Bewegung und auch die Ökumene bevorstanden:
«Ich bin der festen Überzeugung, dass die nächsten zehn Jahre – das Jahrzehnt zwischen heute und Ende 1975 – sowohl für die konziliare Ökumene als auch für das evangelikale Christentum von entscheidender Bedeutung sind. Wenn die konziliare Ökumene das evangelikale Zeugnis weiterhin unterdrückt und verhindert, dass es einen prägenden ökumenischen Einfluss gewinnt, dann kann die konziliare Ökumene nur als zurückgebliebene Form des Christentums versinken. Und wenn evangelikale Christen nicht über ihre vielfältigen Gräben hinweg von Herz zu Herz, von Wille zu Wille und von Geist zu Geist zusammenkommen und ihre Loyalität gegenüber dem auferstandenen Herrn der Kirche nicht vertiefen, könnten sie bis zum Jahr 2000 zu einem Kult in der Wildnis in einer säkularen Gesellschaft werden, der nicht mehr öffentliche Bedeutung hat als die alten Essener in ihren Höhlen am Toten Meer. In jedem Fall würde die diese tragische Unterdrückung des Evangeliums die moderne Zivilisation einem neuen dunklen Zeitalter überlassen.»[80]
Im Rückspiegel der Geschichte wissen wir: Die Ankündigung von Henry ging auf wunderbare Weise in Erfüllung, einschliesslich des zeitlichen Rahmens! Ein äusserst lebhafter innerevangelikaler Diskurs fand schlussendlich im Lausanner Kongress 1974 und der damit verbundenen Verpflichtung eine ausgereifte Antwort. Es lohnt sich auch heute noch, den Text der Verpflichtung zu studieren und zu Herzen zu nehmen.
Persönliche Reflektion
Ich hoffe, dass dieser Exkurs in die Entstehungszeit der Lausanner Bewegung hilfreich war. Vieles könnte an dieser Stelle vertieft werden. Und natürlich gab es auch im Anschluss an Lausanne 74 eine Fortsetzungsgeschichte, diverse Fragestellungen oder gar pointierte innerevangelikale Kritik.[81] Eines der weiterhin viel diskutierten Lausanne-Themen war sicher die Beziehung von Verkündigung und sozialer Verantwortung.[82] Ich verzichte aus Gründen des Umfangs bewusst auf eine inhaltliche Bearbeitung der Diskussion nach Lausanne 74.
Die Generation, welche damals in der Entwicklung der Lausanner Verpflichtung federführend war, ist mittlerweile verstorben. Aber bestimmt gibt es viele Personen, welche an den damaligen Entwicklungen noch näher dran sind als ich. Es würde mich freuen, von ihnen zu hören, ob sie meine Wahrnehmung teilen und wo sie allenfalls zu anderen Einschätzungen kommen.
Wie eingangs erläutert sehen die einen in der Lausanner Verpflichtung eine eigentlich unnötige Abgrenzung gegenüber der ökumenischen Bewegung jener Zeit. Sie tun dies möglicherweise, weil sie sich selbst der humanistischen Umformung des Christentums, der Selbstsäkularisierung der Kirche und der Umdeutung von Mission in rein soziale Kategorien verschrieben haben. Ich meine, für die Abgrenzung von schlechten Entwicklungen bei gleichzeitiger eigener dynamischer Wirkungsgeschichte muss sich die Lausanner Bewegung auch fünfzig Jahre nach ihrer Geburt in keiner Weise entschuldigen.
Heute wird in vielen Medien die evangelikale Gemeinschaft gerne als eine dargestellt, welche an sozialen Fragen kaum interessiert ist, die Menschen nur als ‘Bekehrungsobjekte’ sieht oder in Bezug auf das Weltgeschehen von apokalyptischen ‘Wahnvorstellungen’ bestimmt ist.[83] Während man solche Mentalitäten unter dem grossen evangelikalen Schirm auf jeden Fall findet, so sind sie mir in den hunderten von Seiten, welche ich studiert habe, eher als Phänomen begegnet, welches von den evangelikalen Leitungspersönlichkeiten kritisch beurteilt wurden. So war es beispielsweise ein explizites Hauptziel der Wheaton Konferenz 1966, eine «unbiblische Isolation von der Welt» zu hinterfragen.[84]
Die einseitige Darstellung der Evangelikalen hat Tradition. Karl F. Henry stellte bereits 1967 fest, dass man die Evangelikalen gerne als eine gegenüber dem sozialen Anliegen feindselig eingestellte Gemeinschaft darstelle. Dies sei eine bewusste Karikatur «mit langer Tradition in progressiv-aktivistischen Kreisen».[85] Ich denke Henry hat recht. Seine Feststellung scheint leider auch heute noch Gültigkeit zu haben, wie mein Bruder in seinem Artikel «Wenn Evangelikale Brunnen bauen» dokumentiert.
Lausanne 74 hat sicher dem sozialen Anliegen innerhalb der evangelikalen Bewegung ganz neu zu Geltung verholfen. Denn gerade in den USA hatte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die sogenannte ‘Fundamentalist-modernist’-Kontroverse[86] dazu geführt, dass theologisch konservative Christen, im Bestreben, sich von der liberalen Theologie der ‘Social-Gospel’ Bewegung[87] zu distanzieren, sich auch vom durchaus evangelikalen Erbe der sozialen Verantwortungsübernahme verabschiedet haben. Hier brachte Lausanne 74 wichtige Korrekturen. Gleichzeitig legte die Verpflichtung ein griffiges theologisches Fundament, welches den problematischen theologischen Trends innerhalb der Ökumene eine klare Absage erteilte.
Es wäre gleichzeitig verfehlt, Lausanne 74 als Geburtsstunde evangelikalen sozialen Engagements zu sehen. Gelebt wurde die christliche Barmherzigkeit zu allen Zeiten, auch von Evangelikalen in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Beispielsweise sind bekannte Hilfswerke wie Compassion oder World Vision in den 1950er Jahren durch Evangelisten gegründet worden. Meine Eltern, über Jahrzehnte hinweg als evangelikal geprägte Missionare unterwegs, haben auch nicht auf Lausanne 74 gewartet, um den leiblichen Nöten von Menschen zu begegnen. 1972 traf man sie in Eritrea an, wo sie während der tragischen Wollo Hungerstnot das taten, was getan werden musste: möglichst vielen Menschen Essen zu geben.
Fest steht: Für mich ist die Lausanner Verpflichtung ein grossartiges Beispiel dafür, wie durch Krisen ein vertieftes Verständnis des Evangeliums gewonnen werden kann, nötige Korrekturen Gestalt annehmen können und der Same für neues Wachstum und neue Dynamik gesät werden kann. Bei Lausanne 74 brauchte es dafür sowohl Zugpferde wie Billy Graham, integrierende Figuren wie John Stott, als auch möglicherweise kontroversere Beteiligte wie Beyerhaus.
Im Lichte meiner Erörterungen muss auch die ketzerische Frage gestellt werden, wo denn nun heute die wahre christliche Einheit gelebt wird. Mir scheint, dass in der Lausanner Bewegung wesentliche Anliegen und Inhalte der ursprünglichen Ökumene weiterleben – Inhalte, welche der ÖRK zunehmend aus seiner Mitte verbannt oder zur Unkenntlichkeit umgedeutet hat. Sicher ist: Mit Lausanne 74 wurde die evangelikale Bewegung endgültig zu einer bedeutenden internationalen Bewegung in bester Tradition der apostolischen Zeit und der sozial engagierten Missions- und Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts.
Es braucht zudem auch heute gründliche, klare, liebevolle, biblische und christuszentrierte Reaktionen auf die Ideologien unserer Zeit. Viele der Ideologien, welche heute um uns werben, sind nur mutierte Formen der Ideen, welche schon vor 50 Jahren um die Kirche geworben haben. Deshalb dürfen wichtige Lehren aus der Entstehungsgeschichte der Lausanner Bewegung nicht vergessen werden. Evangelikale müssen den Mut aufbringen, falsche Ideologien zu benennen aus Liebe zur wahren ‘Ideologie’ – zur göttlichen Sicht auf die Welt und die Realität.
Die vergangenen Jahre haben im deutschsprachigen Raum auch grössere innerevangelikale Spannungen gebracht (Stichwort: ‘Postevangelikalismus’). Ein Stückweit hat sich innerhalb der evangelikalen Bewegung im Westen eine ähnliche Situation ergeben, wie es die Ökumene in den 1960ern hatte: Es gibt grundlegende theologische Konfliktpunkte und Leiter stellen sich die Frage, wie der ‘Laden’ zusammengehalten werden kann. Ich stelle mit Unruhe fest, dass viele evangelikale Leiter dabei mit ähnlichen Strategien operieren wollen wie die Ökumene der 1960er: ‘Pluralisierung’, ‘Relativierung’ oder ‘Ablenkung’ sollen helfen. Man möchte den verschiedensten Stimmen Raum geben, selbst wenn diese Stimmen in grundlegend verschiedene Richtungen ziehen. Man sucht die Ambiguitätstoleranz, welche aber auch Raum für Manipulation eröffnet. Man versucht, grundlegende inhaltliche Differenzen mit ritualisierten gemeinsamen Handlungen, wie zum Beispiel emotionalen Lobpreis-Events, zu überbrücken.
Ich glaube nicht, dass diese Strategien zielführend sind, wenn die Differenzen grundlegender Natur sind. Die evangelikale Bewegung in unseren Breitengraden sollte sich neu ihres inhaltlichen Kerns und ihres Auftrags im Klaren werden, wenn sie eine dynamische Bewegung sein möchte. Es liegt wohl gerade in der Klarheit bezüglich der zentralen Glaubensfragen, welche auf einem hohen Vertrauen in die Heilige Schrift aufgebaut hat, dass die Lausanner Bewegung eine inklusive Bewegung werden konnte, welche Glaubensprägungen verschiedenster Couleur auf einer gemeinsamen Basis vereint hat.[88] Sich des inhaltlichen Kerns neu klar zu werden bedeutet, auch den Mut zu haben, gewissen Entwicklungen und Haltungen eine Absage zu erteilen. Es bedeutet auch, vernachlässigte Mandate neu in den Blick zu nehmen, wie dies Lausanne 74 mit der Neubelebung des sozialen Anliegens getan hat.
Was die Gegenwart und Zukunft betrifft so muss zum Schluss festgestellt werden: Die weltweite Christenheit tanzt heute nicht mehr zum Takt der westlichen Kirchen, sondern zur Musik des globalen Südens. Die Christenheit des globalen Südens scheint herzlich wenig Interesse an humanistischer «Gott ist tot»-Theologie zu haben, wie sie Eliten westlicher Kirchen in den 1960ern gefeiert haben. Das ist gut so! Aber auch die Christenheit des globalen Südens hat wohl ihre ganz eigenen Versuchungen. Deshalb brauchen wir einander.
Wir dürfen wissen: Der wahre Herr der Kirche ist Jesus Christus selbst. Er wird das gute Werk vollenden, welches er angefangen hat. (Phil 1:6)
Bilder:
Billy Graham Center Archives / Lausanne Movement
Fussnoten:
[1] Thorsten Dietz, Menschen mit Mission – Eine Landkarte der evangelikalen Welt, 2022, S69
[2] https://www.oikoumene.org/de
[3] https://lausanne.org/de/statement/lausanner-verpflichtung
[4] World Council of Churches, The Message and Reports of the First Assembly of the World Council of Churches, 1948, S40, meine Übersetzung
[5] Vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen, Uppsala 68 spricht – Sektionsberichte Ökumenischer Rat der Kirchen, S19
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Mainline_Church
[7] https://en.wikipedia.org/wiki/Donald_McGavran
[8] Donald McGavran (ed.), The Conciliar-Evangelical Debate: The Crucial Documents, 1964–1976, 1977, S381, meine Übersetzung
[9] Donald McGavran (ed.), The Conciliar-Evangelical Debate: The Crucial Documents, 1964–1976, 1977, S385, meine Übersetzung
[10] Donald McGavran (ed.), The Conciliar-Evangelical Debate: The Crucial Documents, 1964–1976, 1977, S382-85
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Klaus_Bockm%C3%BChl
[12] Klaus Bockmühl, Theological Assesments of the Ecumenical/Evangelical Schism, abgedruckt in: Donald McGavran (ed.), The Conciliar-Evangelical Debate: The Crucial Documents, 1964–1976, 1977, S350-358
[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Befreiungstheologie
[14] https://de.wikipedia.org/wiki/Neue_Linke
[15] https://de.wikipedia.org/wiki/Gott-ist-tot-Theologie
[16] https://de.wikipedia.org/wiki/Prozesstheologie
[17] https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Tillich
[18] https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Barth
[19] https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Bultmann
[20] https://de.wikipedia.org/wiki/Pierre_Teilhard_de_Chardin
[21] Donald McGavran (ed.), The Conciliar-Evangelical Debate: The Crucial Documents, 1964–1976, 1977, S12-20
[22] Zum Beispiel verurteilte bereits Amsterdam 1948 einen ‘laissez-faire’ Kapitalismus – ein Ansatzpunkt um westliche Nationen zu kritisieren und sozialistische Konzepte als ‘christliche Alternative’ ins Spiel zu bringen. Vgl. World Council of Churches, The Message and Reports of the First Assembly of the World Council of Churches, 1948, S54
[23] Arthur Johnston beschreibt solche Vorgänge in seinem Buch «The Battle for World Evangelism», 1978: «The evangelical ‘literalism’ of biblical interpretation, systematic theology and propositional truth were replaced by a progressive and existential theology – that, which the church believes. The style of theology became “descriptive”, in order to unite Christian Churches whose Theology was “definitive” and, consequently, divisive» S117
[24] https://en.wikipedia.org/wiki/Carl_F._H._Henry
[25] Carl F. Henry, Evangelicals at the Brink of Crisis — Significance of the World Congress on Evangelism, 1967, S92, meine Übersetzung
[26] https://en.wikipedia.org/wiki/John_A._Mackay
[27] Mackay, Christian reality & Appearance, 1969, S85-89
[28] Ian Henderson, Power without Glory – A study in Ecumenical Politics, 1967
[29] https://en.wikipedia.org/wiki/Paul_Ramsey_(ethicist)
[30] Paul Ramsey, Who Speaks for the Church?, 1967, ab S82
[31] Emil Brunner, The Christian Doctrine of the Church, Faith and the Consummation, 1962, S127-128, Wiedergegeben aus: Harold Lindsell (ed.), The Church’s Worldwide Mission, 1966, Covertext, meine Übersetzung
[32] https://en.wikipedia.org/wiki/Lesslie_Newbigin — Vergleiche sein Buch A faith for this one world?, 1961
[33] https://en.wikipedia.org/wiki/Willem_Visser_%27t_Hooft
[34] W.A. Visser ‘t Hooft, No other Name, 1963
[35] Peter Beyerhaus, Humanisierung – einzige Hoffnung der Welt?, 1970, S49-50
[36] Vgl. Dazu den Aufsatz von Dr. Vernon Mortenson für den Missionkongress in Wheaton, 1966, publiziert in: Harold Lindsell (ed.), The Church’s Worldwide Mission, 1966, S 168–169
[37] Harold Lindsell, Ecumenical Merger and Mission; Publiziert in: Christianity Today, Mrz 1962
[38] Carl F. Henry, Evangelicals at the Brink of Crisis — Significance of the World Congress on Evangelism, 1967, S89, meine Übersetzung
[39] Carl F. Henry, Evangelicals at the Brink of Crisis — Significance of the World Congress on Evangelism, 1967, S91, meine Übersetzung
[40] Carl F. Henry, Evangelicals at the Brink of Crisis — Significance of the World Congress on Evangelism, 1967, S92, meine Übersetzung
[41] Carl F. Henry, Evangelicals at the Brink of Crisis — Significance of the World Congress on Evangelism, 1967, S83, meine Übersetzung
[42] https://www.oikoumene.org/news/geneva-1966-ethical-challenges-still-relevant-today
[43] https://en.wikipedia.org/wiki/John_Stott
[44] Ökumenischer Rat der Kirchen, Upsala 68 spricht – Sektionsberichte Ökumenischer Rat der Kirchen, S25-25
[45] Ökumenischer Rat der Kirchen, Upsala 68 spricht – Sektionsberichte Ökumenischer Rat der Kirchen, S25-25
[46] Peter Beyerhaus, Humanisierung – einzige Hoffnung der Welt?, 1970, S21
[47] Peter Beyerhaus, Humanisierung – einzige Hoffnung der Welt?, 1970, S20, meine Übersetzung
[48] Donald McGavran (ed.), The Conciliar-Evangelical Debate: The Crucial Documents, 1964–1976, 1977, S382-85, meine Übersetzung
[49] https://en.wikipedia.org/wiki/Harold_O._J._Brown
[50] Harold Brown, Kirche im Ausverkauf? Protest eines beunruhigten Protestanten, 1970, S202-203
[51] https://en.wikipedia.org/wiki/Richard_Wurmbrand
[52] https://en.wikipedia.org/wiki/Nikodim_Rotov#Bibliography / Nikodim war ab 1964 der Patriarch von Leningrad.
[53] Nikodim würde 1975 gar als seiner von 6 ÖRK-Präsidenten gewählt werden. Siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/World_Council_of_Churches
[54] Richard Wurmbrand, Wurmbrandbriefe, 1972, S81
[55] https://en.wikipedia.org/wiki/Eugene_Carson_Blake
[56] Richard Wurmbrand, Wurmbrandbriefe, 1972, S127
[57] https://en.wikipedia.org/wiki/Mitrokhin_Archive
[58] Christopher Andrew, Vasili Mitrokhin, The Mitrokhin Archive – The KGB in Europe and the West, 1999, S634-661
[59] Christopher Andrew, Vasili Mitrokhin, The Mitrokhin Archive – The KGB in Europe and the West, 1999, S637, meine Übersetzung
[60] The International Review of Missions, Vol LV, 1966, S477
[61] The International Review of Missions, Vol LV, 1966, S458-476
[62] The International Review of Missions, Vol LV, 1966, S480-481
[63] The International Review of Missions, Vol LV, 1966, S481, meine Übersetzung
[64] https://www.theologische-links.de/downloads/mission/frankfurter_erklaerung.html
[65] Der Text wurde auf Englisch und Finnisch übersetzt. Vgl: Peter Beyerhaus, Humanisierung – einzige Hoffnung für die Welt?, 1970, S3
[66] Thorsten Dietz, Menschen mit Mission – Eine Landkarte der evangelikalen Welt, 2022, S88
[67] Donald McGavran attestierte der Frankfurter Erklärung, sie sei sich „in großartiger Weiser der gegenwärtigen Weltlage und der heissen Fragen zur Mission bewusst“. Sie sei in hoher Weise „theologisch Kompetent“ und schäle die Kontraste zwischen alter und neuer Missionsphilosophie heraus. Vgl. Donald McGavran (ed.), The Conciliar-Evangelical Debate: The Crucial Documents, 1964–1976, 1977, S283, meine Übersetzung
[68] Peter Beyerhaus, Humanisierung – einzige Hoffnung für die Welt?, 1970
[69] Auf Mani (216–274) zurückgehend, der einen radikalen Dualismus von Gut und Böse, Licht und Finsternis sowie eine radikale Abwertung des natürlich Geschaffenen, des Leibes, vertrat.
[70] Peter Beyerhaus, Humanisierung – einzige Hoffnung für die Welt?, 1970, S37
[71] W. A. Visser ‘T Hooft (ed.), The First Assembly of the World Council of Churches – The Official Report, 1948, S260
[72] Carl F. Henry, Evangelicals at the Brink of Crisis — Significance of the World Congress on Evangelism, 1967, S1‑6
[73] https://www.fuller.edu/posts/in-memoriam-william-e-pannell/
[74] Carl F. Henry, Evangelicals at the Brink of Crisis — Significance of the World Congress on Evangelism, 1967, S70
[75] Carl F. Henry, Evangelicals at the Brink of Crisis — Significance of the World Congress on Evangelism, 1967, S76
[76] Carl F. Henry, Evangelicals at the Brink of Crisis — Significance of the World Congress on Evangelism, 1967, S55
[77] Carl F. Henry, Evangelicals at the Brink of Crisis — Significance of the World Congress on Evangelism, 1967, S68-69.
[78] Carl F. Henry, Evangelicals at the Brink of Crisis — Significance of the World Congress on Evangelism, 1967, S4, meine Übersetzung
[79] Klaus Bockmühl, Theological Assesments of the Ecumenical/Evangelical Schism, abgedruckt in: Donald McGavran (ed.), The Conciliar-Evangelical Debate: The Crucial Documents, 1964–1976, 1977, S350-358
[80] Carl F. Henry, Evangelicals at the Brink of Crisis — Significance of the World Congress on Evangelism, 1967, S110-111, meine Übersetzung
[81] In seinem einflussreichen Buch «The Battle for World Evangelisation» lobte Autor Arthur Johnson 1978 die Ergebnisse von Lausanne 74, übte aber auch pointiert Kritik. Eines seiner Hauptkritikpunkte war, dass die Lausanner Verpflichtung zwar der Autorität und Inspiration der Schrift neu zur Geltung verholfen habe, es aber unterlassen habe, sich zur Bedeutung der Tradition zu äussern. Diese Unterlassung sei darin begründet gewesen, dass man die Verpflichtung gegenüber Katholiken, Orthodoxen und Anglikanern annehmbarer machen wollte. Siehe: Arthur Johnson, The Battle for World Evangelisation, 1978, S292. John Stott reagierte auf die Kritik von Johnson mit einem offenen Brief, welches in Christianity Today in der Januarausgabe 1979 publiziert wurde: https://www.christianitytoday.com/1979/01/conerstone-battle-for-world-evangelism/
[82] Vgl. Dazu zum Beispiel: Klaus Bockmühl (Hrsg.), Verkündigung und soziale Verantwortung, 1983
[83] Vgl. z.B. den Podcast „DAS WORT & DAS FLEISCH | 2. Die große Scheidung: Die Evangelikalen und die Ökumene“, ab ca. Min 48: https://youtu.be/cO4gQfARccE?feature=shared&t=2871
[84] Harold Lindsell (ed.), The Church’s Worldwide Mission, 1966, Covertext, meine Übersetzung
[85] Carl F. Henry, Evangelicals at the Brink of Crisis — Significance of the World Congress on Evangelism, 1967, S56
[86] https://en.wikipedia.org/wiki/Fundamentalist%E2%80%93modernist_controversy
[87] https://de.wikipedia.org/wiki/Social_Gospel
[88] Vergleiche dazu: Arthur Johnson, The Battle for World Evangelisation, 1978, S300
Das einzige, was wirklich gegen “Reformbewegungen” wie seinerzeit die liberale Theologie oder heute den Postevangelikalismus hilft sind Menschen, die ihre Beziehung zu Jesus aktiv, ehrlich und bodenständig leben und Kirchen (egal welcher Richtung), die genau das fördern. Wo Menschen Gott erleben, werden solche Konzepte nicht landen können. Natürlich gibt es immer Verlierer dieser Modeerscheinungen. Zuerst die Traditionalisten, denen das Lebendige abhanden gekommen ist. Rituale, denen das Leben fehlt, sind sehr leicht durch neue, “attraktivere” Rituale ersetzbar. Am Ende verlieren aber auch die “Reformierer” selbst. Weil sich jene, die sich dort hingezogen fühlen aber gleichzeitig auch ehrlich nach Gott suchen, enttäuscht abwenden werden. Und die anderen werden sich irgendwann irgendeinem neuen “heißen” Trend zuwenden und die ehemaligen “Reformierer” als “veraltet” und “uninteressant” verlassen. Beispiele dafür gab es in den vergangenen 20 Jahren zuhauf. Vom einst so hochgejazzten “Worthaus” habe ich bspw. schon lange nichts mehr gehört. Und wer erinnert sich noch, was es mit der “Emerging Church” auf sich hatte?
Wie Einheit funktionieren kann ohne den Kern der Botschaft von Jesus aufzugeben, hat in Österreich der ehemalige “Runde Tisch”, heute “Weg der Versöhnung”, vorgelebt. Die dort angesprochene “Ökumene des Herzens” ist eben kein lauwarmer Minimalkompromiss, sondern meint, dass man einander grundsätzlich vertraut im Sinne von Römer 14 (“warum verurteilst du deinen Bruder, weil er sich anders verhält”?), aber auch 1. Korinther 13,12 (“alle unsere Erkenntnis ist bruchstückhaft”). Das heißt ganz praktisch: Man gesteht es einander zu, dass die unterschiedlichen Auffassungen zwischen den Konfessionen aus Glauben (“alles, was nicht aus Glauben kommt, ist Sünde”) und dem Guten Willen heraus entstand, Jesus bestmöglich nachzufolgen. Und wir beziehen das Wort von Paulus über die “bruchstückhafte” Erkenntnis immer auch auf uns selbst und sind uns dessen bewusst, dass wir selbst aus der Perspektive von Jesus möglicherweise um nichts weniger “falsch liegen” als unser Gegenüber, mit dessen Theologie bzw. Glaubenspraxis wir Mühe haben. Natürlich ist dieser Weg noch lange nicht zu Ende. Wenn man sich aber ansieht, welche Kirchen in Österreich unter dem gemeinsamen Dach der staatlich anerkannten “Freikirchen Österreichs” firmieren, zeigt das anschaulich, was schon erreicht wurde. Hier übrigens der Link zum Buch zum 25-Jahr-Jubiläum, dass das alles viel besser und ausführlicher erklärt: https://versoehnung.net/Story/Buch/
Ein letzter Punkt, der mir sehr wichtig ist: Auch wenn einigen der ÖRK oder das Wort “Ökumene” nicht unter die Nase gehen, sehe ich Einheit für uns als Nachfolger von Jesus als eine Pflicht und keine Möglichkeit. Für mich sind Johannes 17,21 und 23 unmissvertständliche Aufforderungen. Eine gespaltene Kirche, in der sich Konfessionen und Gruppen feindselig gegenüberstehen, kann Jesus vor der Gesellschaft nicht glaubwürdig darstellen. Wenn es einem Teil der Kirche schlecht geht, ist das kein Grund zur Schadenfreude sondern schadet der ganzen Kirche aus (1. Kor. 12,26). Aus meiner Sicht haben wir am Ende keine andere Wahl als uns um Einheit zu bemühen. Eine Einheit, die nicht die eigene Kirche, sondern Christus in den Mittelpunkt stellt. Wo es zuallererst darum geht, dass Menschen zu Jesus finden und nicht darum, die eigenen Reihen zu füllen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich erleben durfte, welche Kraft Gottes man erleben kann, wenn wir als Christen auf diese Weise Einheit leben. Das hinterlässt einen tiefen Eindruck bei all jenen, die Gott fern stehen und verleiht der Botschaft von Jesus eine Glaubwürdigkeit, die sie sonst nicht haben könnte (Joh. 13,35; 17,21+23).
Hallo “yumiyoshi”. Danke fürs lesen des Artikels und fürs teilen deiner Gedanken.
Meine Wahrnehmung in Bezug auf die progressive Szene ist, dass sie sich ausgefächert hat. Es gibt heute diverse Influencer, Blogger, Podcaster, welche im Fahrwasser von Worthaus um Aufmerksamkeit buhlen. Worthaus selbst — da stimme ich dir zu — scheint ein Stückweit an Bedeutung verloren zuhaben.
Das Anliegen nach Einheit trage ich gerne mit und versuche das seit vielen Jahren lokal und regional zu leben. Pflege und Schutz der Einheit muss auch Pflege und Schutz der Kernwahrheiten des Christentums bedeuten (Bsp 1Kor 15,3–5).
Herzlich, Peter
Ich habe mit großem Interesse diese umfangreichen Ausführungen gelesen. Gibt einen guten Überblick über ein paar besondere Jahrzehnte. Als 1956er kam ich durch den Cevi zum Glauben, hatte einen Kleber ‘One way Jesus Christ’ auf der Windjacke, las Bücher von Wurmbrand (Gefoltert für Christus) und bemerkte als junger Christ, dass die Kirche nicht wirklich lebendig war. Von der Lausanner Bewegung hörte ich erst später, aber sie hat wohl Viele inspiriert, dem wahren Evangelium treu zu bleiben. Die von dir beschriebenen Kräfte des Liberalismus/Humanismus etc nehmen leider weiter zu. — Vermutlich hilft dies aber erst recht, sich entschieden Gottes Heilsplan hinzuwenden.
Lieber Wolfgang, Danke fürs lesen und teilen deiner Gedanken!