Am «Marsch fürs Läbe» spreche ich mit einem Journalisten über meine Überzeugung, dass bereits das ungeborenen Lebens einen hohen Wert in sich trägt. Sein Kommentar dazu lautet: «Das sagst du, weil du gläubig bist. Aber ICH bin neutral». Diese Aussage ist für mich eine Steilvorlage für eine spannende Diskussion über Weltanschauungen, denn eine «neutrale Sicht» auf die Welt gibt es nicht.
Jeder Mensch trägt eine «Brille», mit welcher er Ereignisse wertet und Entscheidungen trifft. Diese «Brille» wird Weltanschauung oder Metanarrativ genannt. Sie besteht aus unseren grundlegenden, oft intuitiven Überzeugungen, mittels derer wir die Welt sowie unseren Lebenssinn und unsere Zukunft sehen. [1]
Jeder ist Brillenträger
Die eigene Weltbild-Brille zu erkennen, ist gar nicht so einfach, denn mein Weltbild ist mein «normal». Auch wenn mir der Glaube an Jesus Christus sehr wichtig ist, so wird mein Weltbild immer eine Mischung aus Glaubensüberzeugungen und meinen eigenen kulturellen, familiären und gesellschaftlichen Prägungen bilden. Es bleibt damit eine meiner Lebensaufgaben, mein Denken und meine Überzeugungen immer mehr vom Evangelium prägen zu lassen, falsche Glaubenssätze loszulassen und zu ersetzen mit dem Guten, Schönen und Wahren, das Gott in dieser Welt vorhat (vgl. Römer 12:2).
Jede Kultur und jede einzelne Weltanschauung enthält deshalb sowohl wahre als auch falsche Aspekte. Paulus fordert die Glaubenden daher an dieser Stelle auf, ihre Überzeugungen immer wieder zu prüfen. So geschieht es immer wieder, dass durch das Lesen der Bibel, das Hören einer Predigt oder ein Gespräch unsere Augen geöffnet werden für eigene falsche oder schädliche Glaubenssätze. Es kann aber auch sein, dass wir durch Fragen unserer Umgebungskultur feststellen, dass wir unsere christliche Weltsicht noch einmal durchdenken müssen. Denn nicht jeder Aspekt von anderen Weltbildern ist falsch. Wenn die kritischen Theorien beispielsweise die Ausbeutung und die Verachtung von bestimmten Menschen kritisieren, stimmt die Bibel damit überein. Es ist entscheidend wichtig, dass Gottes Herz für die Unterdrückten auch meine Sicht auf die Welt prägt.
Eine Weltanschauung geht jedoch «ein Stockwerk tiefer» und fragt nach den fundamentalen Grundlagen, nach der grossen Geschichte hinter einer Überzeugung.
Die grossen Fragen der Menschheit
Jeder Mensch geht von bestimmte Grundannahmen oder Glaubenssätzen aus, welche die grossen Fragen der Menschheit beantworten: Gibt es Transzendenz, und wie sieht diese aus? Was ist der Mensch? Wie kann ein Mensch überhaupt etwas erkennen? Was ist das Grundproblem der Menschheit? Wie kann dieses gelöst werden? Was ist gutes und richtiges Handeln? Was ist das Ziel der menschlichen Geschichte? [2]
Unsere Antworten auf diese Fragen beschreiben unsere Weltanschauung. Unser Metanarrativ ist aber nicht nur einfach die Summe aller Antworten auf diese Fragen. Vielmehr handelt es sich bei dabei um eine grosse Geschichte (ein Narrativ), von welchem wir als Menschen glauben, ein Teil davon zu sein.
Die Bibel erzählt uns diese grosse Geschichte, welche damit beginnt, dass der dreieinige ewige Gott alles wunderbar geschaffen hat. Dass er Mann und Frau als sein Ebenbild und sein geliebtes Gegenüber gebildet hat mit dem Auftrag, den Garten zu bebauen und bewahren. Aber die Sünde hat vieles zerstört, die tiefe Beziehung zu Gott ging in die Brüche, und damit auch die Beziehungen zu Mitmenschen, Umwelt und sich selbst. Doch hier beginnt Gottes grosser Rettungsplan für diese Welt, der seinen Höhepunkt darin hat, dass Gott selbst auf die Erde kommt, zeigt wie wahres Leben aussieht und durch seinen Tod und seine Auferstehung alles neu macht: Die Beziehung zu Gott und dadurch auch zu Mitmenschen, zur Welt und zu sich selbst. Wer Gott vertraut, wird Teil von Gottes Königreich, das sich in dieser Welt ausbreitet, bis Jesus wiederkommt, das Böse endgültig besiegt und die Erde perfekt neu machen wird.
Diese grosse Geschichte gibt uns plausible Antworten darauf, wer Gott ist und wer wir Menschen sind. Sie spricht über das Grundproblem der Menschheit und wie es gelöst wird. Sie zeigt das grosse Ziel und unseren Platz in Gottes Rettungsplan.
Jede Weltanschauung stellt eine in sich selbst (mehr oder weniger) stimmige Geschichte zur Verfügung, wie man die grossen Fragen der Menschheit beantworten und damit die Welt verstehen kann. Auf den ersten Blick sind die Religionen für diese Fragen zuständig. Aber auch nicht-religiöse Menschen beantworten diese Fragen für sich. Eine typische atheistische Grundannahme lautet beispielsweise: «Alles Leben ist durch zufällige Prozesse entstanden.» Diese Grundannahme lässt sich letztlich nicht beweisen, obwohl Evolutionsbiologen natürlich Hinweise für die Evolutionstheorie präsentieren können. Genauso lässt sich auch die christliche Sicht der Schöpfung nicht beweisen (auch wenn es sehr plausible Gründe für diese Überzeugung gibt), sondern sie bleibt letztlich eine Glaubensaussage. Mir persönlich half es als Jugendliche sehr, zu realisieren, dass alle Menschen Glaubenssätze haben – nicht nur ich als exotische Christin.
Wahrscheinlich haben die meisten Menschen (auch die meisten Christen) ihre Grundannahmen nie so genau reflektiert. Vielmehr tragen sie einen bunten Strauss aus Glaubenssätzen mit sich herum, welche sich durchaus auch widersprechen können. Die Ursache für die inneren Widersprüche von Weltanschauungen und Ideologien liegt darin, dass sie nicht der Wirklichkeit (der Wahrheit) entsprechen. Ich bin zutiefst überzeugt, dass das christlich-biblische Metanarrativ wahr, und damit in sich kohärent und konsistent, ist. Doch als Christen kennen wir nicht nur die wahre, sondern auch die schönste und menschenfreundlichste Geschichte, welche tiefen Sinn und Hoffnung schenkt.
Die kritischen Theorien als Weltanschauung
In einem früheren Artikel habe ich die Grundannahmen der kritischen Theorien (bzw. woken Ideologien) vorgestellt. [3] Meine Beobachtung ist, dass sich insbesondere kluge und warmherzige junge Menschen, welche etwas gegen die Ungerechtigkeit dieser Welt bewirken möchten, von diesen Ideen angezogen fühlen. Manche verlieren dabei Stück für Stück ihren Glauben, weil die kritischen Theorien ein Metanarrativ, also eine Art Ersatzreligion bilden. Durch diese neuen Grundideen kann der christliche Glauben an manchen Stellen plötzlich unlogisch, wenn nicht gar unmoralisch, erscheinen.
Es ist nicht so einfach, die grosse Geschichte der kritischen Theorien zu erzählen. Mit der Bibel besitzen wir Christen einen Kanon, eine verbindliche Sammlung von heiligen Schriften, die uns unsere grosse Geschichte erzählt. Die kritischen Theorien hingegen bilden ein breites Phänomen mit verschiedensten Strömungen. Weil man sich nicht auf die eine «heilige Schrift» berufen kann, würden Aktivisten der kritischen Theorien ihre grosse Geschichte ein wenig unterschiedlich formulieren. Es ist jedoch eine Geschichte, die davon erzählt, dass der Mensch sich in einem System findet, welches von Ungerechtigkeit geprägt ist, weil die Menschen, welche an der Macht sind (bewusst oder unbewusst) alles dafür tun, um ihre Macht zu erhalten. Der Mensch ist damit in erster Linie ein «Produkt» seiner Identität, welche ihn zu einem Gewinner oder einem Verlierer in diesem System macht. Die Aufgabe des Menschen besteht daher darin, sich für Gerechtigkeit einzusetzen, indem bestehende Machtsysteme untergraben und Unterdrückte ermächtigt werden.
Kritische Theorien: Radikale Dekonstruktion kombiniert mit starren Glaubenssätzen
Die kritischen Theorien haben ihre Wurzeln in der Frankfurter Schule der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine Gruppe von marxistischen Philosophen und Wissenschaftern schloss sich 1923 zusammen, um zu ergründen, weshalb der Kapitalismus sich als so widerstandsfähig erweist. Einige Jahre später, nach den Schrecken des 2. Weltkrieges, suchten sie berechtigterweise nach einer Erklärung dafür, wie eine zivilisierte Nation wie Deutschland sich so leicht einer barbarischen Diktatur unterwerfen konnte. Dazu knüpfen die Denker an Hegel, Marx und Freud an: Die Ideen von Marx besagen, dass sich jede herrschende Klasse Strukturen erschafft, welche ihre Macht legitimieren und erhalten. Freuds Theorie ergänzt, dass eine Zivilisation nur durch Unterdrückung sexueller Bedürfnisse stabil bleiben kann. Die Denker der Frankfurter Schule sowie auch französische postmoderne Denker (z.B. bei Theodor W. Adorno oder Herbert Marcuse) folgern daraus, dass die sexuelle Befreiung auch zu einer politischen Befreiung führen muss. Sie kommen zum Schluss, dass die traditionelle Familie mit ihrer bürgerlich-christlichen Sexualmoral die Ursache dafür ist, dass Kinder zu gefügigen und unterwürfigen Individuen erzogen werden, welche keinen Widerstand leisten, sondern sich neuen Autoritäten unterwerfen wollen. Daher wird aus ihrer Sicht politische Befreiung erst möglich, wenn die «Unterdrückung» durch Kernfamilie und Religion abgeschafft wird und es zur sexuellen Befreiung kommt.
Mit anderen Worten: Die ganze Welt wird durch die «Brille» von Macht und Unterdrückung betrachtet. Die Lösung, um sich von den herrschenden Machtstrukturen zu befreien, wird daher in der Dekonstruktion von allen Werten und Normen, welche bisher den Mächtigen dienen, gesehen. [4]
Die Dekonstruktion beginnt mit der Frage, ob man überhaupt etwas wissen kann. Die Hauptkritik dieser Denker ist, dass Wahrheiten und (wissenschaftliche) Erkenntnisse oft nur die eigenen Werte bestätigen, mit Feindbildern arbeiten und damit dem Machterhalt von Eliten dienen. Daher werden Objektivität und Neutralität hinterfragt, und es wird angezweifelt, dass man überhaupt Wahrheit erkennen kann. Auch die Sprache sowie die Medien werden kritisch betrachtet, weil sie der Elite grossen Einfluss verschaffen können.
Aus der Beobachtung heraus, dass gewissen Gruppen besonders viel Macht haben (Stichwort: alter weisser Mann), soll an Kategorien wie Rasse, Religion und Geschlecht gerüttelt werden. Dies hat beispielsweise massive Auswirkungen auf die Sicht auf die Geschlechter. Es kommt zu einer fundamentalen Auftrennung von biologischem Körper und dem inneren Wesen einer Person. Die Feministin Simone de Beauvoir formulierte: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“. [5] Später werden diese Gedanken von Judith Butler weiter radikalisiert. Das sozial empfundene Gender wird damit völlig vom biologischen Sex [6] getrennt. Das subjektive Gefühl wird weit über der biologischen Realität verordnet. Freiheit bedeutet damit eine vollständige Selbsterschaffung mit dem Ziel, die «Tyrannei» von Biologie und Familie zu zerschlagen.
Während die frühen postmodernen Denker vor allem mit Hinterfragen und Dekonstruieren beschäftigt sind, befriedigt dies die späteren Forscher (ab den 1990ern) nicht mehr. Sie wollen politisch aktiv werden, sie wollen Machtverhältnisse nicht nur ankreiden, sondern umkehren. Sie wollen die Unterdrückten ermächtigen und eine gerechtere Welt schaffen. Aus der reinen Dekonstruktion im Elfenbeinturm wird nun Aktivismus, der von kritischen Denkern als Social Justice oder Identitätspolitik bezeichnet wird.
Die Aktivisten stellten fest, dass es für die Identitätspolitik wenig Nutzen hat zu zeigen, dass es keine objektive Wahrheit gibt. Aus politischen Gründen müssen Fakten geschaffen werden. Neu rückten daher Erkenntnisse von Menschen ins Zentrum, welche unter Unterdrückung leiden. Weil sie beim «Machterhaltungsspiel» nicht mitmachen, sollen intersektionell stark benachteiligte Menschen (wie z.B. People of Colour, LGBTQ+, Muslime, behinderte oder kranke Menschen etc.) einen viel unverfälschteren Blick auf die Wirklichkeit haben. So lauten die neuen politisch motivierten Axiome: «Unterdrückten muss man glauben» und «weisse Männer müssen schweigen».
Die Aktivisten stellten auch fest, dass es für politische Veränderungen nichts bringt zu zeigen, dass Rasse oder Geschlecht nur theoretische Konstrukte sind, die man dekonstruieren kann. Im Gegenteil, um politische Wirksamkeit zu erreichen, lautet das neue Axiom, dass Identitätskategorien in den Mittelpunkt des Aktivismus gestellt werden müssen (obwohl es diese ihrer Meinung nach faktisch gar nicht gibt). Nur so können sich unterdrückte Minderheiten gegenseitig bestärken und gegen Ungerechtigkeit ankämpfen. [7]
Deshalb bestehen die kritischen Theorien aus einer widersprüchlichen Kombination von radikaler Dekonstruktion und starren Axiomen. Einerseits werden Normen und Vorstellungen rigoros hinterfragt. Andererseits werden neue fixe Glaubensätze aufgestellt. Einige dieser Axiome, welche nicht hinterfragt werden dürfen, lauten: Das subjektive Gefühl ist wichtiger als biologische Realitäten; die unterdrückerischen Kategorien sind hauptsächlich festgelegt auf heterosexuelle, weisse, christliche, gesunde Männer; Toleranz gilt nur den Unterdrückten; die Definition von Gut und Böse läuft entlang der Linie von Gruppenidentitäten; alle Normen, welche die Machteliten stützen (könnten) sind abzulehnen (insbesondere Ehe, Familie und christlicher Glauben); die Wirklichkeit wird durch die Sprache erschaffen etc. Diese Glaubenssätze folgen zu einem grossen Teil nicht «logisch» aus der Theorie, sondern sie sind pragmatisch so gewählt, dass sie den Zielen der Identitätspolitik dienen. Dieser Pragmatismus führt dazu, dass die Glaubenssätze der kritischen Theorie in vielen Punkten selbstwidersprüchlich sind. [8] Das Ziel der Social Justice ist wichtiger als die innere Kohärenz der Weltanschauung.
Wie hilft uns dieses Wissen in der Praxis?
Die Weltanschauungs-Brille der kritischen Theorien zu kennen, kann uns dabei helfen, unsere Kirchen weise durch gesellschaftliche Veränderungen hindurch zu navigieren.
Wie ich schon weiter oben postuliert habe, sind nicht alle Erkenntnisse der kritischen Theorien falsch. Durch ihre Brille von Macht und Ungerechtigkeit analysieren kritische Forscher Themen rund um Unterdrückung und Identität sehr detailliert. Oft werden diese Themen in der Folge von der Gesellschaft an die Kirchen herangetragen. Hier heisst es, erstmals hinzuhören und Not zu erkennen. Danach sollen wir diese Anliegen prüfen und nachforschen, wo sie ihren Platz in Gottes grosser Geschichte haben, und uns fragen, was der Auftrag unserer Kirche in diesem speziellen Bereich ist. Ein Beispiel dafür ist die Thematik von Machtmissbrauch und Manipulation. Weil das Thema (durch den Einfluss der kritischen Theorien) in der Gesellschaft wichtig wurde, richten nun auch Christen vermehrt ihren Fokus darauf. Tatsächlich ist es verheerend, wie viele Kirchen, Beziehungen oder Ehen durch Machtmissbrauch zerstört werden. Deshalb hat auch Jesus eindringlich über dienende Führung gesprochen (z.B. in Matthäus 20, 20–28). Während Christen mit Aktivisten der kritischen Theorien übereinstimmen, dass Machtmissbrauch grossen Schaden anrichtet, wählen sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Weltanschauungen verschiedenartige Lösungsansätze. Der woke Ansatz, um Machtmissbrauch entgegenzuwirken, besteht vor allem darin, verletzte und ungehörte Menschen zu Wort kommen zu lassen und bisher untervertretenen Gruppen Führungsrollen zuzugestehen. Aber dies ist eine verkürzte Lösung, welche aus einer verkürzten Weltanschauung stammt, und deshalb keine echte Veränderung bringen wird. Im Gegenteil, sie kann sogar grossen Schaden anrichten. Ich sehe beispielsweise in der Realität kaum Hinweise darauf, dass Minderheiten generell bessere Menschen sind als die «alten weissen Männer», wenn sie an die Macht kommen. Der Grund dafür ist, dass Machtmissbrauch viel breitere Ursachen hat und daher auch ganzheitlicher gelöst werden muss. Es lohnt sich daher, die «grossen Fragen» an dieses Thema zu stellen, um eine vertiefte christlich-biblische Weltsicht davon zu erhalten: Wie ist Gottes Charakter? Was lernen wir beispielsweise von der Dreieinigkeit oder von Jesus über den «göttlichen Führungsstil»? Wie hat sich Gott die Gemeinschaft der Menschen ursprünglich vorgestellt, und was sind die Folgen der Sünde? Wie sieht Gottes Erlösungsplan für Gemeinschaft und Macht aus? Welches grosse Ziel verfolgt Gott durch Leitung? Diese Fragen helfen uns dabei, praktische Fragen zu klären: Welches sind gemäss der Bibel charakterliche und praktische Voraussetzungen dafür, dass jemand führen darf? Welche Person dient in unserer momentanen Situation Gottes Reich am meisten? Was schützt Menschen ganzheitlich davor, manipulativ zu werden? Wie können wir als Gemeinde eine Kultur fördern, in der Manipulation nicht belohnt wird? Im Umgang mit verletzten Menschen stellen sich Fragen wie: Darf man bei uns über Schwieriges sprechen? Wo ist ein sicherer Rahmen dafür? Wie können wir als Kirchen ein «Raum der Gnade» sein? Was hilft verletzten Menschen, um heil zu werden? Was hilft der ganzen Gemeinde, um innerlich zu wachsen? Was können wir tun, damit diese Prozesse unserem grossen Auftrag dienen, dass alle Menschen Gott als Vater kennen lernen dürfen?
Das Metanarrativ der kritischen Theorien zu kennen, hilft uns aber auch in der Kommunikation mit Menschen, welche von den kritischen Ideologien angezogen werden. Wenn Menschen beginnen, die grossen Fragen der Menschheit aus Sicht der kritischen Theorien zu beantworten, dann empfinden sie biblische Wahrheiten zunehmend als eng oder sogar als hasserfüllt und schädlich. Diese Denkmuster zu erkennen, hilft uns dabei, die Schönheit, Plausibilität und Tragfähigkeit der grossen Geschichte Gottes mit dem Einzelnen und der Welt aufzuzeigen.
Ich versuche bewusst, mein jeweiliges Predigtthema in die «grosse Geschichte» einzureihen. Ich zeige dabei, wie sich Gott dieses Thema ursprünglich gedacht hat, wie es heute um diese Thematik steht oder weshalb heute in diesem Bereich Probleme auftauchen und wie Gottes Erlösungsplan für dieses Thema oder dieses Problem aussieht. Dieses Vorgehen hilft der ganzen Gemeinde sprachfähiger zu werden, egal ob ihre Freunde und Arbeitskollegen Muslime sind, ein buddhistisch-esoterisches Weltbild haben oder mit den kritischen Theorien sympathisieren.
In seelsorgerlichen Gesprächen kann es genauso helfen, Schwierigkeiten im Licht von Gottes grosser Geschichte zu sehen: Wo ist der Platz für Leid, für Tod, für Ungerechtigkeit? Was lehren uns die Themen rund um Beziehungen und Sexualität über Gott, den Menschen und den grossen Erlösungsplan?
Mir gefällt ausserdem der Ansatz von Timothy Keller, welcher immer wieder säkulare Glaubenssätze in seine Predigten aufnahm. Er veranschaulichte, weshalb diese Glaubenssätze Hoffnungen in Menschen wecken und wie eine «gute Nachricht» klingen. Er zeigte aber auch, inwiefern diese Glaubenssätze widersprüchlich, unwahr oder schädlich sind. Wir haben eine viel bessere Geschichte! [9] Es macht auch Sinn, bewusst Begriffe aufzugreifen, die in den kritischen Theorien eine wichtige Rolle spielen. Insbesondere «grosse» Begriffe müssen von uns Christen zurückerobert werden. Denn Worte wie Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit oder Unterdrückung haben eine unterschiedliche Bedeutung, je nach dem, ob wir sie in ein christliches oder eine kritisches Metanarrativ einordnen.
Fazit
Wir alle sind Brillenträger. Und unsere Brillen brauchen immer wieder Korrektur. Oft erkennen wir unsere Brillen erst, wenn Themen oder Anliegen an uns herangetragen werden, über die wir bisher noch kaum nachgedacht haben oder die uns triggern. Wenn wir lernen, die Weltanschauungen unserer Umgebung zu verstehen, hilft uns dies zuallererst, selbst klarer zu sehen. Gefragt ist weder blinde Anpassung an die Umgebungskultur noch Rückzug von der «bösen Welt», sondern ein neuer Durchblick, wie Gott diese Themen sieht, und wie wir als Gemeinde in unserer Stadt und in unserer Kultur Reich Gottes leben können. Dies wird uns dabei helfen, sprachfähig darin zu werden, weshalb das Evangelium auch heute noch die bestmögliche Botschaft ist. Es hilft uns in der Seelsorge und bei Entscheidungen, den Blick auf Gottes gute Pläne zu richten. Und in der Folge werden wir erkennen, wie wir selbst immer mehr überwältigt sind davon, dass wir Teil der allerbesten Geschichte sein dürfen.
Eigentlich ist dies alles nichts Neues. Bereits Paulus war sich bewusst, wie wichtig der Blick auf die grosse Geschichte ist. Er hat für die Gemeinden gebetet, dass sie den Durchblick behalten können, damit Gottes Kraft überall sichtbar wird. Und deshalb ist das auch mein tägliches Gebet:
Vater der Herrlichkeit,
Gib uns den Geist der Weisheit und Offenbarung,
Dich zu erkennen.
Erleuchte die Augen unseres Herzens, damit wir sehen,
zu welch grossartiger Hoffnung Du uns berufen hast,
wie reich die Herrlichkeit ist, die auf uns wartet
und wie überwältigend gross die Kraft, mit der Du heute in uns wirkst.
Es ist dieselbe Kraft,
die Christus aus den Toten auferweckt hat.
(Epheser 1, 17–20 als Gebet formuliert)
[1] Sire (2020), Universe Next Door, 20.
[2] Es gibt unterschiedliche Aufzählungen von Weltbildfragen. Ich habe mich hier an Sire (2020) sowie Shenvi und Sawyer (2023), Critical Dilemma, orientiert.
[3] Link: Wer erklärt mir bitte «Queers for Palestine»? – Ein Überblick über die kritischen Theorien › Daniel https://danieloption.ch/geschichte/imperialismus/wer-erklaert-mir-bitte-queers-for-palestine-ein-ueberblick-ueber-die-kritischen-theorien/Option
[4] Diese Gedanken stammen zum grössten Teil von Trueman (2022), Der Siegeszug des modernen Selbst, 269–322.
[5] Simone de Beauvoir (2005), Das andere Geschlecht, 334.
[6] Es wird zwischen dem biologischen Geschlecht (sex) und dem sozialen Geschlecht (gender) unterschieden. Gender kann auch Rollenbild oder empfundenes Geschlecht bedeuten.
[7] Der Themenbereich rund um Identität ist sehr komplex und an vielen Stellen widersprüchlich. Dieses Thema wird in einem späteren Artikel vertieft behandelt.
[8] Pluckrose und Lindsay (2022), Zynische Theorien, 211. Spannend ist, dass Pluckrose zwar die «Weltbild-Brille» der kritischen Theorien erkennt, bei ihrem liberales Weltbild aber selbst einen blinden Fleck hat: «Religionen und viele theoretische Konstruktionen sind tatsächlich Metanarrative, aber der Liberalismus und die Wissenschaft sind es nicht.» (274)
[9] Keller, Timothy (2017), Predigen, 93. Die Kapitel 4 und 5 enthalten eine spannende Vertiefung dieses Ansatzes.
Die Diskussion über das “Skandal des Kreuzes” wird oft missverstanden, besonders wenn behauptet wird, progressive Christen würden diesen umgehen. Tatsächlich versuchen viele, die tiefere Bedeutung des Kreuzes zu erfassen, indem sie Liebe, Gnade und soziale Gerechtigkeit betonen. Diese Ansätze sind keine Ablehnung des Kreuzes, sondern erweitern das Verständnis dessen, was es für das heutige Leben bedeutet. Die Aussage, das Evangelium sei im progressiven Christentum nur ein „Entspannungstee mit frommem Bodensatz“, verkennt die Komplexität und die transformative Kraft des Evangeliums, die auch soziale Ungerechtigkeiten anspricht. Zudem scheinen ethische Dimensionen des Glaubens, wie soziale Gerechtigkeit, im Autorennarrativ weniger wichtig zu sein, obwohl sie für viele progressive Christen zentral sind.
Herausragender Artikel, der die von Timothy Keller verwendete Methode der “Cultural Apologetics” in den deutschen Sprachraum trägt.
Dieser Artikel über die “Kritischen Theorien” verdient eine hohe Verbreitung im orthodox-evangelikalen Raum. Denn er ist ein Musterbeispiel dafür, wie Christen mit einer u.a. von Nancy Pearcey entwickelten christlichen “World View”-Analyse andere Weltanschauungen dekonstruieren können.
Er zeigt vorbildlich, wie man herausarbeitet, dass die von diesen Ideologien geweckten falschen Hoffnungen immer wieder enttäuschen werden und dass im Gegensatz dazu das Evangelium eine “Schönheit, Plausibilität und Tragfähigkeit” hat, die uns “nach Hause” kommen läßt.