Welche Brille trägst du? Weltanschauungen und die kritischen Theorien

Lesezeit: 11 Minuten
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by Cornelia Schum | 20. Dez. 2024 | 2 comments

Am «Marsch fürs Läbe» spreche ich mit einem Jour­nal­is­ten über meine Überzeu­gung, dass bere­its das unge­bore­nen Lebens einen hohen Wert in sich trägt. Sein Kom­men­tar dazu lautet: «Das sagst du, weil du gläu­big bist. Aber ICH bin neu­tral». Diese Aus­sage ist für mich eine Steil­vor­lage für eine span­nende Diskus­sion über Weltan­schau­un­gen, denn eine «neu­trale Sicht» auf die Welt gibt es nicht. 

Jed­er Men­sch trägt eine «Brille», mit welch­er er Ereignisse wertet und Entschei­dun­gen trifft. Diese «Brille» wird Weltan­schau­ung oder Meta­nar­ra­tiv genan­nt. Sie beste­ht aus unseren grundle­gen­den, oft intu­itiv­en Überzeu­gun­gen, mit­tels der­er wir die Welt sowie unseren Lebenssinn und unsere Zukun­ft sehen. [1]

Jeder ist Brillenträger

Die eigene Welt­bild-Brille zu erken­nen, ist gar nicht so ein­fach, denn mein Welt­bild ist mein «nor­mal». Auch wenn mir der Glaube an Jesus Chris­tus sehr wichtig ist, so wird mein Welt­bild immer eine Mis­chung aus Glauben­süberzeu­gun­gen und meinen eige­nen kul­turellen, famil­iären und gesellschaftlichen Prä­gun­gen bilden. Es bleibt damit eine mein­er Leben­sauf­gaben, mein Denken und meine Überzeu­gun­gen immer mehr vom Evan­geli­um prä­gen zu lassen, falsche Glaubenssätze loszu­lassen und zu erset­zen mit dem Guten, Schö­nen und Wahren, das Gott in dieser Welt vorhat (vgl. Römer 12:2).

Jede Kul­tur und jede einzelne Weltan­schau­ung enthält deshalb sowohl wahre als auch falsche Aspek­te. Paulus fordert die Glauben­den daher an dieser Stelle auf, ihre Überzeu­gun­gen immer wieder zu prüfen. So geschieht es immer wieder, dass durch das Lesen der Bibel, das Hören ein­er Predigt oder ein Gespräch unsere Augen geöffnet wer­den für eigene falsche oder schädliche Glaubenssätze. Es kann aber auch sein, dass wir durch Fra­gen unser­er Umge­bungskul­tur fest­stellen, dass wir unsere christliche Welt­sicht noch ein­mal durch­denken müssen. Denn nicht jed­er Aspekt von anderen Welt­bildern ist falsch. Wenn die kri­tis­chen The­o­rien beispiel­sweise die Aus­beu­tung und die Ver­ach­tung von bes­timmten Men­schen kri­tisieren, stimmt die Bibel damit übere­in. Es ist entschei­dend wichtig, dass Gottes Herz für die Unter­drück­ten auch meine Sicht auf die Welt prägt.

Eine Weltan­schau­ung geht jedoch «ein Stock­w­erk tiefer» und fragt nach den fun­da­men­tal­en Grund­la­gen, nach der grossen Geschichte hin­ter ein­er Überzeugung.

Die grossen Fragen der Menschheit

Jed­er Men­sch geht von bes­timmte Grun­dan­nah­men oder Glaubenssätzen aus, welche die grossen Fra­gen der Men­schheit beant­worten: Gibt es Tran­szen­denz, und wie sieht diese aus? Was ist der Men­sch? Wie kann ein Men­sch über­haupt etwas erken­nen? Was ist das Grund­prob­lem der Men­schheit? Wie kann dieses gelöst wer­den? Was ist gutes und richtiges Han­deln? Was ist das Ziel der men­schlichen Geschichte? [2]

Unsere Antworten auf diese Fra­gen beschreiben unsere Weltan­schau­ung. Unser Meta­nar­ra­tiv ist aber nicht nur ein­fach die Summe aller Antworten auf diese Fra­gen. Vielmehr han­delt es sich bei dabei um eine grosse Geschichte (ein Nar­ra­tiv), von welchem wir als Men­schen glauben, ein Teil davon zu sein.

Die Bibel erzählt uns diese grosse Geschichte, welche damit begin­nt, dass der dreieinige ewige Gott alles wun­der­bar geschaf­fen hat. Dass er Mann und Frau als sein Eben­bild und sein geliebtes Gegenüber gebildet hat mit dem Auf­trag, den Garten zu bebauen und bewahren. Aber die Sünde hat vieles zer­stört, die tiefe Beziehung zu Gott ging in die Brüche, und damit auch die Beziehun­gen zu Mit­men­schen, Umwelt und sich selb­st. Doch hier begin­nt Gottes gross­er Ret­tungs­plan für diese Welt, der seinen Höhep­unkt darin hat, dass Gott selb­st auf die Erde kommt, zeigt wie wahres Leben aussieht und durch seinen Tod und seine Aufer­ste­hung alles neu macht: Die Beziehung zu Gott und dadurch auch zu Mit­men­schen, zur Welt und zu sich selb­st. Wer Gott ver­traut, wird Teil von Gottes Kön­i­gre­ich, das sich in dieser Welt aus­bre­it­et, bis Jesus wiederkommt, das Böse endgültig besiegt und die Erde per­fekt neu machen wird.

Diese grosse Geschichte gibt uns plau­si­ble Antworten darauf, wer Gott ist und wer wir Men­schen sind. Sie spricht über das Grund­prob­lem der Men­schheit und wie es gelöst wird. Sie zeigt das grosse Ziel und unseren Platz in Gottes Rettungsplan.

Jede Weltan­schau­ung stellt eine in sich selb­st (mehr oder weniger) stim­mige Geschichte zur Ver­fü­gung, wie man die grossen Fra­gen der Men­schheit beant­worten und damit die Welt ver­ste­hen kann. Auf den ersten Blick sind die Reli­gio­nen für diese Fra­gen zuständig. Aber auch nicht-religiöse Men­schen beant­worten diese Fra­gen für sich. Eine typ­is­che athe­is­tis­che Grun­dan­nahme lautet beispiel­sweise: «Alles Leben ist durch zufäl­lige Prozesse ent­standen.» Diese Grun­dan­nahme lässt sich let­ztlich nicht beweisen, obwohl Evo­lu­tions­bi­olo­gen natür­lich Hin­weise für die Evo­lu­tion­s­the­o­rie präsen­tieren kön­nen. Genau­so lässt sich auch die christliche Sicht der Schöp­fung nicht beweisen (auch wenn es sehr plau­si­ble Gründe für diese Überzeu­gung gibt), son­dern sie bleibt let­ztlich eine Glauben­saus­sage. Mir per­sön­lich half es als Jugendliche sehr, zu real­isieren, dass alle Men­schen Glaubenssätze haben – nicht nur ich als exo­tis­che Christin.

Wahrschein­lich haben die meis­ten Men­schen (auch die meis­ten Chris­ten) ihre Grun­dan­nah­men nie so genau reflek­tiert. Vielmehr tra­gen sie einen bun­ten Strauss aus Glaubenssätzen mit sich herum, welche sich dur­chaus auch wider­sprechen kön­nen. Die Ursache für die inneren Wider­sprüche von Weltan­schau­un­gen und Ide­olo­gien liegt darin, dass sie nicht der Wirk­lichkeit (der Wahrheit) entsprechen. Ich bin zutief­st überzeugt, dass das christlich-bib­lis­che Meta­nar­ra­tiv wahr, und damit in sich kohärent und kon­sis­tent, ist. Doch als Chris­ten ken­nen wir nicht nur die wahre, son­dern auch die schön­ste und men­schen­fre­undlich­ste Geschichte, welche tiefen Sinn und Hoff­nung schenkt.

Die kritischen Theorien als Weltanschauung

In einem früheren Artikel habe ich die Grun­dan­nah­men der kri­tis­chen The­o­rien (bzw. wok­en Ide­olo­gien) vorgestellt. [3] Meine Beobach­tung ist, dass sich ins­beson­dere kluge und warmherzige junge Men­schen, welche etwas gegen die Ungerechtigkeit dieser Welt bewirken möcht­en, von diesen Ideen ange­zo­gen fühlen. Manche ver­lieren dabei Stück für Stück ihren Glauben, weil die kri­tis­chen The­o­rien ein Meta­nar­ra­tiv, also eine Art Ersatzre­li­gion bilden. Durch diese neuen Grun­dideen kann der christliche Glauben an manchen Stellen plöt­zlich unl­o­gisch, wenn nicht gar unmoralisch, erscheinen.

Es ist nicht so ein­fach, die grosse Geschichte der kri­tis­chen The­o­rien zu erzählen. Mit der Bibel besitzen wir Chris­ten einen Kanon, eine verbindliche Samm­lung von heili­gen Schriften, die uns unsere grosse Geschichte erzählt. Die kri­tis­chen The­o­rien hinge­gen bilden ein bre­ites Phänomen mit ver­schieden­sten Strö­mungen. Weil man sich nicht auf die eine «heilige Schrift» berufen kann, wür­den Aktivis­ten der kri­tis­chen The­o­rien ihre grosse Geschichte ein wenig unter­schiedlich for­mulieren. Es ist jedoch eine Geschichte, die davon erzählt, dass der Men­sch sich in einem Sys­tem find­et, welch­es von Ungerechtigkeit geprägt ist, weil die Men­schen, welche an der Macht sind (bewusst oder unbe­wusst) alles dafür tun, um ihre Macht zu erhal­ten. Der Men­sch ist damit in erster Lin­ie ein «Pro­dukt» sein­er Iden­tität, welche ihn zu einem Gewin­ner oder einem Ver­lier­er in diesem Sys­tem macht. Die Auf­gabe des Men­schen beste­ht daher darin, sich für Gerechtigkeit einzuset­zen, indem beste­hende Macht­sys­teme unter­graben und Unter­drück­te ermächtigt werden.

Kritische Theorien: Radikale Dekonstruktion kombiniert mit starren Glaubenssätzen

Die kri­tis­chen The­o­rien haben ihre Wurzeln in der Frank­furter Schule der ersten Hälfte des 20. Jahrhun­derts. Eine Gruppe von marx­is­tis­chen Philosophen und Wis­senschaftern schloss sich 1923 zusam­men, um zu ergrün­den, weshalb der Kap­i­tal­is­mus sich als so wider­stands­fähig erweist. Einige Jahre später, nach den Schreck­en des 2. Weltkrieges, sucht­en sie berechtigter­weise nach ein­er Erk­lärung dafür, wie eine zivil­isierte Nation wie Deutsch­land sich so leicht ein­er bar­barischen Dik­tatur unter­w­er­fen kon­nte. Dazu knüpfen die Denker an Hegel, Marx und Freud an: Die Ideen von Marx besagen, dass sich jede herrschende Klasse Struk­turen erschafft, welche ihre Macht legit­imieren und erhal­ten. Freuds The­o­rie ergänzt, dass eine Zivil­i­sa­tion nur durch Unter­drück­ung sex­ueller Bedürfnisse sta­bil bleiben kann. Die Denker der Frank­furter Schule sowie auch franzö­sis­che post­mod­erne Denker (z.B. bei Theodor W. Adorno oder Her­bert Mar­cuse) fol­gern daraus, dass die sex­uelle Befreiung auch zu ein­er poli­tis­chen Befreiung führen muss. Sie kom­men zum Schluss, dass die tra­di­tionelle Fam­i­lie mit ihrer bürg­er­lich-christlichen Sex­ual­moral die Ursache dafür ist, dass Kinder zu gefügi­gen und unter­wür­fi­gen Indi­viduen erzo­gen wer­den, welche keinen Wider­stand leis­ten, son­dern sich neuen Autoritäten unter­w­er­fen wollen. Daher wird aus ihrer Sicht poli­tis­che Befreiung erst möglich, wenn die «Unter­drück­ung» durch Kern­fam­i­lie und Reli­gion abgeschafft wird und es zur sex­uellen Befreiung kommt.

Mit anderen Worten: Die ganze Welt wird durch die «Brille» von Macht und Unter­drück­ung betra­chtet. Die Lösung, um sich von den herrschen­den Macht­struk­turen zu befreien, wird daher in der Dekon­struk­tion von allen Werten und Nor­men, welche bish­er den Mächti­gen dienen, gese­hen. [4]

Die Dekon­struk­tion begin­nt mit der Frage, ob man über­haupt etwas wis­sen kann. Die Haup­tkri­tik dieser Denker ist, dass Wahrheit­en und (wis­senschaftliche) Erken­nt­nisse oft nur die eige­nen Werte bestäti­gen, mit Feind­bildern arbeit­en und damit dem Machter­halt von Eliten dienen. Daher wer­den Objek­tiv­ität und Neu­tral­ität hin­ter­fragt, und es wird angezweifelt, dass man über­haupt Wahrheit erken­nen kann. Auch die Sprache sowie die Medi­en wer­den kri­tisch betra­chtet, weil sie der Elite grossen Ein­fluss ver­schaf­fen können.

Aus der Beobach­tung her­aus, dass gewis­sen Grup­pen beson­ders viel Macht haben (Stich­wort: alter weiss­er Mann), soll an Kat­e­gorien wie Rasse, Reli­gion und Geschlecht gerüt­telt wer­den. Dies hat beispiel­sweise mas­sive Auswirkun­gen auf die Sicht auf die Geschlechter. Es kommt zu ein­er fun­da­men­tal­en Auftren­nung von biol­o­gis­chem Kör­p­er und dem inneren Wesen ein­er Per­son. Die Fem­i­nistin Simone de Beau­voir for­mulierte: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“. [5] Später wer­den diese Gedanken von Judith But­ler weit­er radikalisiert. Das sozial emp­fun­dene Gen­der wird damit völ­lig vom biol­o­gis­chen Sex [6] getren­nt. Das sub­jek­tive Gefühl wird weit über der biol­o­gis­chen Real­ität verord­net. Frei­heit bedeutet damit eine voll­ständi­ge Selb­ster­schaf­fung mit dem Ziel, die «Tyran­nei» von Biolo­gie und Fam­i­lie zu zerschlagen.

Während die frühen post­mod­er­nen Denker vor allem mit Hin­ter­fra­gen und Dekon­stru­ieren beschäftigt sind, befriedigt dies die späteren Forsch­er (ab den 1990ern) nicht mehr. Sie wollen poli­tisch aktiv wer­den, sie wollen Machtver­hält­nisse nicht nur ankrei­den, son­dern umkehren. Sie wollen die Unter­drück­ten ermächti­gen und eine gerechtere Welt schaf­fen. Aus der reinen Dekon­struk­tion im Elfen­bein­turm wird nun Aktivis­mus, der von kri­tis­chen Denkern als Social Jus­tice oder Iden­tität­spoli­tik beze­ich­net wird.

Die Aktivis­ten stell­ten fest, dass es für die Iden­tität­spoli­tik wenig Nutzen hat zu zeigen, dass es keine objek­tive Wahrheit gibt. Aus poli­tis­chen Grün­den müssen Fak­ten geschaf­fen wer­den. Neu rück­ten daher Erken­nt­nisse von Men­schen ins Zen­trum, welche unter Unter­drück­ung lei­den. Weil sie beim «Machter­hal­tungsspiel» nicht mit­machen, sollen inter­sek­tionell stark benachteiligte Men­schen (wie z.B. Peo­ple of Colour, LGBTQ+, Mus­lime, behin­derte oder kranke Men­schen etc.) einen viel unver­fälschteren Blick auf die Wirk­lichkeit haben. So laut­en die neuen poli­tisch motivierten Axiome: «Unter­drück­ten muss man glauben» und «weisse Män­ner müssen schweigen».

Die Aktivis­ten stell­ten auch fest, dass es für poli­tis­che Verän­derun­gen nichts bringt zu zeigen, dass Rasse oder Geschlecht nur the­o­retis­che Kon­struk­te sind, die man dekon­stru­ieren kann. Im Gegen­teil, um poli­tis­che Wirk­samkeit zu erre­ichen, lautet das neue Axiom, dass Iden­tität­skat­e­gorien in den Mit­telpunkt des Aktivis­mus gestellt wer­den müssen (obwohl es diese ihrer Mei­n­ung nach fak­tisch gar nicht gibt). Nur so kön­nen sich unter­drück­te Min­der­heit­en gegen­seit­ig bestärken und gegen Ungerechtigkeit ankämpfen. [7]

Deshalb beste­hen die kri­tis­chen The­o­rien aus ein­er wider­sprüch­lichen Kom­bi­na­tion von radikaler Dekon­struk­tion und star­ren Axiomen. Ein­er­seits wer­den Nor­men und Vorstel­lun­gen rig­oros hin­ter­fragt. Ander­er­seits wer­den neue fixe Glauben­sätze aufgestellt. Einige dieser Axiome, welche nicht hin­ter­fragt wer­den dür­fen, laut­en: Das sub­jek­tive Gefühl ist wichtiger als biol­o­gis­che Real­itäten; die unter­drück­erischen Kat­e­gorien sind haupt­säch­lich fest­gelegt auf het­ero­sex­uelle, weisse, christliche, gesunde Män­ner; Tol­er­anz gilt nur den Unter­drück­ten; die Def­i­n­i­tion von Gut und Böse läuft ent­lang der Lin­ie von Grup­peniden­titäten; alle Nor­men, welche die Machteliten stützen (kön­nten) sind abzulehnen (ins­beson­dere Ehe, Fam­i­lie und christlich­er Glauben); die Wirk­lichkeit wird durch die Sprache erschaf­fen etc. Diese Glaubenssätze fol­gen zu einem grossen Teil nicht «logisch» aus der The­o­rie, son­dern sie sind prag­ma­tisch so gewählt, dass sie den Zie­len der Iden­tität­spoli­tik dienen. Dieser Prag­ma­tismus führt dazu, dass die Glaubenssätze der kri­tis­chen The­o­rie in vie­len Punk­ten selb­st­wider­sprüch­lich sind. [8] Das Ziel der Social Jus­tice ist wichtiger als die innere Kohärenz der Weltan­schau­ung.

Wie hilft uns dieses Wissen in der Praxis?

Die Weltan­schau­ungs-Brille der kri­tis­chen The­o­rien zu ken­nen, kann uns dabei helfen, unsere Kirchen weise durch gesellschaftliche Verän­derun­gen hin­durch zu navigieren.

Wie ich schon weit­er oben pos­tuliert habe, sind nicht alle Erken­nt­nisse der kri­tis­chen The­o­rien falsch. Durch ihre Brille von Macht und Ungerechtigkeit analysieren kri­tis­che Forsch­er The­men rund um Unter­drück­ung und Iden­tität sehr detail­liert. Oft wer­den diese The­men in der Folge von der Gesellschaft an die Kirchen herange­tra­gen. Hier heisst es, erst­mals hinzuhören und Not zu erken­nen. Danach sollen wir diese Anliegen prüfen und nach­forschen, wo sie ihren Platz in Gottes gross­er Geschichte haben, und uns fra­gen, was der Auf­trag unser­er Kirche in diesem speziellen Bere­ich ist. Ein Beispiel dafür ist die The­matik von Macht­miss­brauch und Manip­u­la­tion. Weil das The­ma (durch den Ein­fluss der kri­tis­chen The­o­rien) in der Gesellschaft wichtig wurde, richt­en nun auch Chris­ten ver­mehrt ihren Fokus darauf. Tat­säch­lich ist es ver­heerend, wie viele Kirchen, Beziehun­gen oder Ehen durch Macht­miss­brauch zer­stört wer­den. Deshalb hat auch Jesus ein­dringlich über dienende Führung gesprochen (z.B. in Matthäus 20, 20–28). Während Chris­ten mit Aktivis­ten der kri­tis­chen The­o­rien übere­in­stim­men, dass Macht­miss­brauch grossen Schaden anrichtet, wählen sie auf­grund ihrer unter­schiedlichen Weltan­schau­un­gen ver­schiedenar­tige Lösungsan­sätze. Der woke Ansatz, um Macht­miss­brauch ent­ge­gen­zuwirken, beste­ht vor allem darin, ver­let­zte und unge­hörte Men­schen zu Wort kom­men zu lassen und bish­er unter­vertrete­nen Grup­pen Führungsrollen zuzugeste­hen. Aber dies ist eine verkürzte Lösung, welche aus ein­er verkürzten Weltan­schau­ung stammt, und deshalb keine echte Verän­derung brin­gen wird. Im Gegen­teil, sie kann sog­ar grossen Schaden anricht­en. Ich sehe beispiel­sweise in der Real­ität kaum Hin­weise darauf, dass Min­der­heit­en generell bessere Men­schen sind als die «alten weis­sen Män­ner», wenn sie an die Macht kom­men. Der Grund dafür ist, dass Macht­miss­brauch viel bre­it­ere Ursachen hat und daher auch ganzheitlich­er gelöst wer­den muss. Es lohnt sich daher, die «grossen Fra­gen» an dieses The­ma zu stellen, um eine ver­tiefte christlich-bib­lis­che Welt­sicht davon zu erhal­ten: Wie ist Gottes Charak­ter? Was ler­nen wir beispiel­sweise von der Dreieinigkeit oder von Jesus über den «göt­tlichen Führungsstil»? Wie hat sich Gott die Gemein­schaft der Men­schen ursprünglich vorgestellt, und was sind die Fol­gen der Sünde? Wie sieht Gottes Erlö­sungs­plan für Gemein­schaft und Macht aus? Welch­es grosse Ziel ver­fol­gt Gott durch Leitung? Diese Fra­gen helfen uns dabei, prak­tis­che Fra­gen zu klären: Welch­es sind gemäss der Bibel charak­ter­liche und prak­tis­che Voraus­set­zun­gen dafür, dass jemand führen darf? Welche Per­son dient in unser­er momen­ta­nen Sit­u­a­tion Gottes Reich am meis­ten? Was schützt Men­schen ganzheitlich davor, manip­u­la­tiv zu wer­den? Wie kön­nen wir als Gemeinde eine Kul­tur fördern, in der Manip­u­la­tion nicht belohnt wird? Im Umgang mit ver­let­zten Men­schen stellen sich Fra­gen wie: Darf man bei uns über Schwieriges sprechen? Wo ist ein sicher­er Rah­men dafür? Wie kön­nen wir als Kirchen ein «Raum der Gnade» sein? Was hil­ft ver­let­zten Men­schen, um heil zu wer­den? Was hil­ft der ganzen Gemeinde, um inner­lich zu wach­sen? Was kön­nen wir tun, damit diese Prozesse unserem grossen Auf­trag dienen, dass alle Men­schen Gott als Vater ken­nen ler­nen dürfen?

Das Meta­nar­ra­tiv der kri­tis­chen The­o­rien zu ken­nen, hil­ft uns aber auch in der Kom­mu­nika­tion mit Men­schen, welche von den kri­tis­chen Ide­olo­gien ange­zo­gen wer­den. Wenn Men­schen begin­nen, die grossen Fra­gen der Men­schheit aus Sicht der kri­tis­chen The­o­rien zu beant­worten, dann empfind­en sie bib­lis­che Wahrheit­en zunehmend als eng oder sog­ar als has­ser­füllt und schädlich. Diese Denkmuster zu erken­nen, hil­ft uns dabei, die Schön­heit, Plau­si­bil­ität und Tragfähigkeit der grossen Geschichte Gottes mit dem Einzel­nen und der Welt aufzuzeigen.

Ich ver­suche bewusst, mein jew­eiliges Predigt­the­ma in die «grosse Geschichte» einzurei­hen. Ich zeige dabei, wie sich Gott dieses The­ma ursprünglich gedacht hat, wie es heute um diese The­matik ste­ht oder weshalb heute in diesem Bere­ich Prob­leme auf­tauchen und wie Gottes Erlö­sungs­plan für dieses The­ma oder dieses Prob­lem aussieht. Dieses Vorge­hen hil­ft der ganzen Gemeinde sprach­fähiger zu wer­den, egal ob ihre Fre­unde und Arbeit­skol­le­gen Mus­lime sind, ein bud­dhis­tisch-eso­ter­isches Welt­bild haben oder mit den kri­tis­chen The­o­rien sympathisieren.

In seel­sorg­er­lichen Gesprächen kann es genau­so helfen, Schwierigkeit­en im Licht von Gottes gross­er Geschichte zu sehen: Wo ist der Platz für Leid, für Tod, für Ungerechtigkeit? Was lehren uns die The­men rund um Beziehun­gen und Sex­u­al­ität über Gott, den Men­schen und den grossen Erlösungsplan?

Mir gefällt ausser­dem der Ansatz von Tim­o­thy Keller, welch­er immer wieder säku­lare Glaubenssätze in seine Predigten auf­nahm. Er ver­an­schaulichte, weshalb diese Glaubenssätze Hoff­nun­gen in Men­schen weck­en und wie eine «gute Nachricht» klin­gen. Er zeigte aber auch, inwiefern diese Glaubenssätze wider­sprüch­lich, unwahr oder schädlich sind. Wir haben eine viel bessere Geschichte! [9] Es macht auch Sinn, bewusst Begriffe aufzu­greifen, die in den kri­tis­chen The­o­rien eine wichtige Rolle spie­len. Ins­beson­dere «grosse» Begriffe müssen von uns Chris­ten zurücker­obert wer­den. Denn Worte wie Liebe, Frei­heit, Gerechtigkeit oder Unter­drück­ung haben eine unter­schiedliche Bedeu­tung, je nach dem, ob wir sie in ein christlich­es oder eine kri­tis­ches Meta­nar­ra­tiv einordnen.

Fazit

Wir alle sind Bril­len­träger. Und unsere Brillen brauchen immer wieder Kor­rek­tur. Oft erken­nen wir unsere Brillen erst, wenn The­men oder Anliegen an uns herange­tra­gen wer­den, über die wir bish­er noch kaum nachgedacht haben oder die uns trig­gern. Wenn wir ler­nen, die Weltan­schau­un­gen unser­er Umge­bung zu ver­ste­hen, hil­ft uns dies zuallererst, selb­st klar­er zu sehen. Gefragt ist wed­er blinde Anpas­sung an die Umge­bungskul­tur noch Rück­zug von der «bösen Welt», son­dern ein neuer Durch­blick, wie Gott diese The­men sieht, und wie wir als Gemeinde in unser­er Stadt und in unser­er Kul­tur Reich Gottes leben kön­nen. Dies wird uns dabei helfen, sprach­fähig darin zu wer­den, weshalb das Evan­geli­um auch heute noch die best­mögliche Botschaft ist. Es hil­ft uns in der Seel­sorge und bei Entschei­dun­gen, den Blick auf Gottes gute Pläne zu richt­en. Und in der Folge wer­den wir erken­nen, wie wir selb­st immer mehr über­wältigt sind davon, dass wir Teil der allerbesten Geschichte sein dürfen.

Eigentlich ist dies alles nichts Neues. Bere­its Paulus war sich bewusst, wie wichtig der Blick auf die grosse Geschichte ist. Er hat für die Gemein­den gebetet, dass sie den Durch­blick behal­ten kön­nen, damit Gottes Kraft über­all sicht­bar wird. Und deshalb ist das auch mein täglich­es Gebet:

Vater der Herrlichkeit,

Gib uns den Geist der Weisheit und Offen­barung,
Dich zu erkennen.

Erleuchte die Augen unseres Herzens, damit wir sehen,
zu welch grossar­tiger Hoff­nung Du uns berufen hast,
wie reich die Her­rlichkeit ist, die auf uns wartet
und wie über­wälti­gend gross die Kraft, mit der Du heute in uns wirkst.

Es ist dieselbe Kraft,
die Chris­tus aus den Toten aufer­weckt hat.

(Eph­eser 1, 17–20 als Gebet formuliert)


[1] Sire (2020), Uni­verse Next Door, 20.

[2] Es gibt unter­schiedliche Aufzäh­lun­gen von Welt­bild­fra­gen. Ich habe mich hier an Sire (2020) sowie Shen­vi und Sawyer (2023), Crit­i­cal Dilem­ma, orientiert.

[3] Link: Wer erk­lärt mir bitte «Queers for Pales­tine»? – Ein Überblick über die kri­tis­chen The­o­rien › Daniel https://danieloption.ch/geschichte/imperialismus/wer-erklaert-mir-bitte-queers-for-palestine-ein-ueberblick-ueber-die-kritischen-theorien/Option

[4] Diese Gedanken stam­men zum grössten Teil von True­man (2022), Der Siegeszug des mod­er­nen Selb­st, 269–322.

[5] Simone de Beau­voir (2005), Das andere Geschlecht, 334.

[6] Es wird zwis­chen dem biol­o­gis­chen Geschlecht (sex) und dem sozialen Geschlecht (gen­der) unter­schieden. Gen­der kann auch Rol­len­bild oder emp­fun­denes Geschlecht bedeuten.

[7] Der The­men­bere­ich rund um Iden­tität ist sehr kom­plex und an vie­len Stellen wider­sprüch­lich. Dieses The­ma wird in einem späteren Artikel ver­tieft behandelt.

[8] Pluck­rose und Lind­say (2022), Zynis­che The­o­rien, 211. Span­nend ist, dass Pluck­rose zwar die «Welt­bild-Brille» der kri­tis­chen The­o­rien erken­nt, bei ihrem lib­erales Welt­bild aber selb­st einen blind­en Fleck hat: «Reli­gio­nen und viele the­o­retis­che Kon­struk­tio­nen sind tat­säch­lich Meta­nar­ra­tive, aber der Lib­er­al­is­mus und die Wis­senschaft sind es nicht.» (274)

[9] Keller, Tim­o­thy (2017), Predi­gen, 93. Die Kapi­tel 4 und 5 enthal­ten eine span­nende Ver­tiefung dieses Ansatzes.

Über den Kanal

Cornelia Schum

Cornelia Schum, Jg. 1979, blüht auf, wenn sie in Diskussionen über Themen wie den Wert des Lebens, Gerechtigkeit oder die Umwelt verwickelt wird. Ihr Anliegen ist, dass Eltern und Leitende in brisanten gesellschaftlichen Themen sprachfähig werden. Sie hat Geografie, Mathematik und Theologie studiert, arbeitet im kirchlichen Bereich und macht ab und zu Stellvertretungen am Gymi. Sie lebt mit ihrem Mann Andi und ihren vier Töchtern in Sursee.

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Kommentare zu diesen Beitrag

2 Comments

  1. Benjamin

    Die Diskus­sion über das “Skan­dal des Kreuzes” wird oft missver­standen, beson­ders wenn behauptet wird, pro­gres­sive Chris­ten wür­den diesen umge­hen. Tat­säch­lich ver­suchen viele, die tief­ere Bedeu­tung des Kreuzes zu erfassen, indem sie Liebe, Gnade und soziale Gerechtigkeit beto­nen. Diese Ansätze sind keine Ablehnung des Kreuzes, son­dern erweit­ern das Ver­ständ­nis dessen, was es für das heutige Leben bedeutet. Die Aus­sage, das Evan­geli­um sei im pro­gres­siv­en Chris­ten­tum nur ein „Entspan­nung­stee mit from­mem Boden­satz“, verken­nt die Kom­plex­ität und die trans­for­ma­tive Kraft des Evan­geli­ums, die auch soziale Ungerechtigkeit­en anspricht. Zudem scheinen ethis­che Dimen­sio­nen des Glaubens, wie soziale Gerechtigkeit, im Autoren­nar­ra­tiv weniger wichtig zu sein, obwohl sie für viele pro­gres­sive Chris­ten zen­tral sind.

    Reply
  2. Reinhard Jarka

    Her­aus­ra­gen­der Artikel, der die von Tim­o­thy Keller ver­wen­dete Meth­ode der “Cul­tur­al Apolo­get­ics” in den deutschen Sprachraum trägt. 

    Dieser Artikel über die “Kri­tis­chen The­o­rien” ver­di­ent eine hohe Ver­bre­itung im ortho­dox-evan­ge­likalen Raum. Denn er ist ein Muster­beispiel dafür, wie Chris­ten mit ein­er u.a. von Nan­cy Pearcey entwick­el­ten christlichen “World View”-Analyse andere Weltan­schau­un­gen dekon­stru­ieren können. 

    Er zeigt vor­bildlich, wie man her­ausar­beit­et, dass die von diesen Ide­olo­gien geweck­ten falschen Hoff­nun­gen immer wieder ent­täuschen wer­den und dass im Gegen­satz dazu das Evan­geli­um eine “Schön­heit, Plau­si­bil­ität und Tragfähigkeit” hat, die uns “nach Hause” kom­men läßt.

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