Das Evangelium der Mitte
In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evangelikale zwischen fundamentalistisch und postevangelikal“ befasse ich mich mit der religiösen Landschaft und der evangelikalen Binnenpluralisierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen dritten Weg zwischen einem biblizistischen Fundamentalismus und dem Post-Evangelikalismus auf.
In diesem Beitrag führe ich in Kapitel 1 „Progressiv oder fundamentalistisch? Warum wir ein Evangelium der Mitte brauchen“ ein (Seiten 13–44).
Alles hat mit persönlicher Betroffenheit angefangen:
Seit einigen Jahren erlebe ich, wie sich bei Freunden der Glaube verändert oder das Fundament des Glaubens wegbricht. Es gibt eine zunehmende Zahl engagierter Christen, die ihren bisherigen Glauben hinter sich lassen und der Kirche den Rücken kehren. Sie verlassen ihre Gemeinschaften und ziehen sich in einen privaten Glauben zurück, den sie mit ein paar Gleichgesinnten auf ein Bier oder in der digitalen Kirche leben.
Diese Geschichten reihen sich ein in Biografien von prominenten Persönlichkeiten, die ihren Glauben als eng und verurteilend empfinden und sich mit dem Etikett „evangelikal“ nicht mehr identifizieren können. Sie fühlen sich befreit, wenn sie nicht mehr an ein blutiges Opfer glauben müssen oder die Vorstellung von Himmel und Hölle hinter sich lassen können.
Was steht hinter diesen Vorgängen?
Wir befinden uns mitten in einem gesellschaftlichen Umbruch von der Moderne zur Postmoderne. Unsere Art zu denken, zu handeln und zu glauben verändert sich und führt zu Polarisierungen in Gesellschaft und Kirche.
In der Postmoderne ist alles möglich und alles im Fluss. Wir können unsere Sexpartner wählen, unsere Art zu glauben und sogar unser Geschlecht. Christliche Wertevorstellungen werden einem veralteten Weltbild zugeschlagen und radikal dekonstruiert. Ein Teil der Christenheit schaut zu und schweigt oder applaudiert. Diese Situation habe ich als Aufforderung empfunden, ein Buch zum Thema zu verfassen. Im Brunnen Verlag Giessen habe ich einen prominenten Verlag gefunden, der zu evangelikalen Themen populäre und wissenschaftliche Literatur publiziert.
Der postmoderne Rückbau des religiösen Weltgebäudes stellt die Evangelikalen vor die Gretchenfrage, wie sie es mit dem Glauben halten. Was bedeutet es, in der radikalen Pluralität der Postmoderne Christ zu sein und was gehört ohne Wenn und Aber zum christlichen Glauben? Das ist die Frage, die sich der evangelikalen Bewegung schicksalshaft stellt.
Wie sieht die religiöse Landkarte gegenwärtig aus?
Auf der einen Seite gibt es progressive Kräfte, die dem gesellschaftlichen Wandel positiv gegenüberstehen und Kritik an konservativen Formen des Christentums üben.
Seit der Jahrtausendwende formiert sich mit wachsender Geschwindigkeit eine progressive Bewegung mit liberaler Ausrichtung. Progressive Christen stellen ähnliche Fragen, wie sie im liberalen Christentum des 19. Jahrhunderts gestellt wurden. Alte Glaubenskonstrukte werden abgebaut und die Kirche kritisiert oder ganz verlassen. Weil viele Exits aus evangelikalen Gemeinden kommen, wird auch von den „Postevangelikalen“ gesprochen.
Postevangelikale Christen kritisieren konservative Formen des Glaubens als ungenügend, problematisch und verletzend. Viele von ihnen sind wie ich in Gemeinschaften mit fundamentalistischem Einschlag aufgewachsen. Sie haben negative Erfahrungen mit Leitungspersönlichkeiten gemacht und fühlen sich unverstanden oder beengt. Eine wachsende Zahl schliesst sich Gruppierungen an, die stärker in die Gesellschaft integriert sind oder leben ihren Glauben privat. Für einige bricht das Glaubensfundament ganz weg.
Auf der anderen Seite der religiösen Landkarte gibt es konservative Kräfte, die an traditionellen Glaubensinhalten festhalten und sie gegen liberale Auflösungserscheinungen verteidigen.
In diesem Bereich der religiösen Landschaft sind die Fundamentalisten und überwiegend auch die Evangelikalen zu Hause. Fundamentalisten stehen kulturellem Wandel grundsätzlich kritisch gegenüber. In gesellschaftlichen Fragen vertreten sie konservative Werte. Die Ehe ist für die Gemeinschaft zwischen Mann und Frau reserviert. Der Tod Jesu am Kreuz war ein Sühnopfer, das vor dem Zorn Gottes rettet, sofern Christus durch Busse und Glauben angenommen wird.
Problematisch ist:
Der Fundamentalismus fällt durch eine dezidierte Weltverneinung auf. Während Progressive die Welt mit dem Evangelium gestalten wollen, wollen Fundamentalisten die Welt hinter sich lassen. Teile der Fundamentalisten ziehen sich ins gesellschaftliche Niemandsland zurück. Sie grenzen sich von der Welt ab, während Progressive keine Probleme damit haben, mit dem Zeitgeist zu gehen. Die beiden Ansätze, die wenig verbindet, bilden zwei markante Gegenpole in der religiösen Landschaft.
Ich verstehe mich zusammen mit der überwiegenden Mehrheit des erwecklichen Protestantismus als Christ in der Mitte. Diese Mitte braucht eine Theologie, die sowohl biblisch als auch praktikabel ist.
Krisenphänomene
Die Positionen von Fundamentalismus und progressivem Christentum liegen weit auseinander, aber sie haben etwas Gemeinsames: Beide sind Krisenphänomene.
Der Fundamentalismus ist das Krisenphänomen der Moderne, das progressive Christentum und der Post-Evangelikalismus das Krisenphänomen der Postmoderne. Diese weltanschauliche Verhaftung verdient es, näher untersucht zu werden. Im ersten Kapitel des Buches erläutere ich die entsprechenden weltanschaulichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge. Mein Anliegen ist, eine sachliche und faire Analyse der Situation zu bieten.
Ich bin überzeugt, dass es gegenwärtig um viel geht:
Die Kirche kann ihre Zukunft fundamentalistisch oder progressiv verspielen. Beide Formen bieten ein verfremdetes Evangelium an. In Zeiten der Polarisierung brauchen wir eine Rückbesinnung auf den Begriff „evangelisch“. Vor uns steht die Aufgabe, ein „Evangelium der Mitte“ zu schmieden, das der Versuchung widersteht, reduzierte Angebote zu machen. Evangelisch bedeutet nichts anderes als „am Evangelium orientiert“. Der Begriff deutet eine gewisse Weite an, will sich also von unfruchtbaren Engführungen fernhalten. Gleichzeitig ist er auf das Evangelium bezogen, wie es die Schriften des Neuen Testaments vermitteln. Eine recht evangelische Antwort auf Postmoderne und Polarisierung führt zu einem „Evangelium der Mitte“.
Das wahre Evangelium ist das Evangelium von Jesus Christus, das in der Mitte zwischen zwei Polen stattfindet. Die Antwort auf die Postmoderne kann weder der Rückzug von der Welt noch die Anpassung an die Gesellschaft sein, sondern eine fundierte Mitte. Unsere Zeit braucht Christen, die fundiert unfundamentalistisch glauben, denken und handeln.
Nächste Woche erscheint mein Beitrag zum 2. Kapitel. Wenn du bis dann nicht warten kannst: Kaufe das Buch!
Danke für den interessanten Beitrag. Ich als evangelischer Landeskirchler sehe da auch viel Platz in der Mitte, wenn auch die Weite wiederum verschiedene Interpretationen und viel ‘Spielraum’ findet/hat. Es kommt doch zu manchen Schnittmengen. Persönlich schätze ich ein starkes Fundament, das beim Hausbau viele Freiheiten zulässt, zB mit Kreativität und Lebenserfüllung. — vermutlich gibt das Buch darauf noch Antwort: letztlich zählt für ein glückliches (Glaubens)leben ein von Gottes Geist inspiriertes Sein und Tun…
Ich finde es ehrlich gesagt etwas schwierig das der Begriff des Fundamentalismus mal wieder als Kampfbegriff bzw als extrem hingestellt wird ohne wirklich zu erklären was damit gemeint ist.
Warum bitte genau ist das ein Krisenphänomen und was bedeutet das eigentlich konkret? Um welche Positionen geht es eigentlich genau. Was definiert die “Mitte” und was macht denn Fundamentalismus “U praktikabel” usw.….
Ohne das liest sich das leider nicht sehr konstruktiv sondern klingt nach den üblichen Phrasen, unter denen jeder was anderes versteht.…
Lieber M.B.
Im Blogbeitrag ist es in der gegebenen Kürze schwierig, den Fundamentalismus und das progressive Christentum ausgewogen darzustellen. Im Buch nehme ich mir im ersten Kapitel 30 Seiten Zeit dafür. Ich hoffe, du liest es.
Gute Lektüre!
Roland Hardmeier