Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist 1/10

Lesezeit: 4 Minuten
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by Roland Hardmeier | 17. Nov. 2024 | 3 comments

Das Evangelium der Mitte

In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evan­ge­likale zwis­chen fun­da­men­tal­is­tisch und poste­van­ge­likal“ befasse ich mich mit der religiösen Land­schaft und der evan­ge­likalen Bin­nen­plu­ral­isierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen drit­ten Weg zwis­chen einem bib­lizis­tis­chen Fun­da­men­tal­is­mus und dem Post-Evan­ge­likalis­mus auf.

In diesem Beitrag führe ich in Kapi­tel 1 „Pro­gres­siv oder fun­da­men­tal­is­tisch? Warum wir ein Evan­geli­um der Mitte brauchen“ ein (Seit­en 13–44).

Alles hat mit per­sön­lich­er Betrof­fen­heit angefangen:

Seit eini­gen Jahren erlebe ich, wie sich bei Fre­un­den der Glaube verän­dert oder das Fun­da­ment des Glaubens weg­bricht. Es gibt eine zunehmende Zahl engagiert­er Chris­ten, die ihren bish­eri­gen Glauben hin­ter sich lassen und der Kirche den Rück­en kehren. Sie ver­lassen ihre Gemein­schaften und ziehen sich in einen pri­vat­en Glauben zurück, den sie mit ein paar Gle­ich­gesin­nten auf ein Bier oder in der dig­i­tal­en Kirche leben.

Diese Geschicht­en rei­hen sich ein in Biografien von promi­nen­ten Per­sön­lichkeit­en, die ihren Glauben als eng und verurteilend empfind­en und sich mit dem Etikett „evan­ge­likal“ nicht mehr iden­ti­fizieren kön­nen. Sie fühlen sich befre­it, wenn sie nicht mehr an ein blutiges Opfer glauben müssen oder die Vorstel­lung von Him­mel und Hölle hin­ter sich lassen können.

Was ste­ht hin­ter diesen Vorgängen?

Wir befind­en uns mit­ten in einem gesellschaftlichen Umbruch von der Mod­erne zur Post­mod­erne. Unsere Art zu denken, zu han­deln und zu glauben verän­dert sich und führt zu Polar­isierun­gen in Gesellschaft und Kirche.

In der Post­mod­erne ist alles möglich und alles im Fluss. Wir kön­nen unsere Sex­part­ner wählen, unsere Art zu glauben und sog­ar unser Geschlecht. Christliche Wertevorstel­lun­gen wer­den einem ver­al­teten Welt­bild zugeschla­gen und radikal dekon­stru­iert. Ein Teil der Chris­ten­heit schaut zu und schweigt oder applaudiert. Diese Sit­u­a­tion habe ich als Auf­forderung emp­fun­den, ein Buch zum The­ma zu ver­fassen. Im Brun­nen Ver­lag Giessen habe ich einen promi­nen­ten Ver­lag gefun­den, der zu evan­ge­likalen The­men pop­uläre und wis­senschaftliche Lit­er­atur publiziert.

Der post­mod­erne Rück­bau des religiösen Welt­ge­bäudes stellt die Evan­ge­likalen vor die Gretchen­frage, wie sie es mit dem Glauben hal­ten. Was bedeutet es, in der radikalen Plu­ral­ität der Post­mod­erne Christ zu sein und was gehört ohne Wenn und Aber zum christlichen Glauben? Das ist die Frage, die sich der evan­ge­likalen Bewe­gung schick­sal­shaft stellt.

Wie sieht die religiöse Land­karte gegen­wär­tig aus?

Auf der einen Seite gibt es pro­gres­sive Kräfte, die dem gesellschaftlichen Wan­del pos­i­tiv gegenüber­ste­hen und Kri­tik an kon­ser­v­a­tiv­en For­men des Chris­ten­tums üben.

Seit der Jahrtausendwende formiert sich mit wach­sender Geschwindigkeit eine pro­gres­sive Bewe­gung mit lib­eraler Aus­rich­tung. Pro­gres­sive Chris­ten stellen ähn­liche Fra­gen, wie sie im lib­eralen Chris­ten­tum des 19. Jahrhun­derts gestellt wur­den. Alte Glauben­skon­struk­te wer­den abge­baut und die Kirche kri­tisiert oder ganz ver­lassen. Weil viele Exits aus evan­ge­likalen Gemein­den kom­men, wird auch von den „Poste­van­ge­likalen“ gesprochen.

Poste­van­ge­likale Chris­ten kri­tisieren kon­ser­v­a­tive For­men des Glaubens als ungenü­gend, prob­lema­tisch und ver­let­zend. Viele von ihnen sind wie ich in Gemein­schaften mit fun­da­men­tal­is­tis­chem Ein­schlag aufgewach­sen. Sie haben neg­a­tive Erfahrun­gen mit Leitungsper­sön­lichkeit­en gemacht und fühlen sich unver­standen oder beengt. Eine wach­sende Zahl schliesst sich Grup­pierun­gen an, die stärk­er in die Gesellschaft inte­gri­ert sind oder leben ihren Glauben pri­vat. Für einige bricht das Glaubens­fun­da­ment ganz weg.

Auf der anderen Seite der religiösen Land­karte gibt es kon­ser­v­a­tive Kräfte, die an tra­di­tionellen Glaubensin­hal­ten fes­thal­ten und sie gegen lib­erale Auflö­sungser­schei­n­un­gen verteidigen.

In diesem Bere­ich der religiösen Land­schaft sind die Fun­da­men­tal­is­ten und über­wiegend auch die Evan­ge­likalen zu Hause. Fun­da­men­tal­is­ten ste­hen kul­turellem Wan­del grund­sät­zlich kri­tisch gegenüber. In gesellschaftlichen Fra­gen vertreten sie kon­ser­v­a­tive Werte. Die Ehe ist für die Gemein­schaft zwis­chen Mann und Frau reserviert. Der Tod Jesu am Kreuz war ein Sühnopfer, das vor dem Zorn Gottes ret­tet, sofern Chris­tus durch Busse und Glauben angenom­men wird.

Prob­lema­tisch ist:

Der Fun­da­men­tal­is­mus fällt durch eine dezi­dierte Weltvernei­n­ung auf. Während Pro­gres­sive die Welt mit dem Evan­geli­um gestal­ten wollen, wollen Fun­da­men­tal­is­ten die Welt hin­ter sich lassen. Teile der Fun­da­men­tal­is­ten ziehen sich ins gesellschaftliche Nie­mand­s­land zurück. Sie gren­zen sich von der Welt ab, während Pro­gres­sive keine Prob­leme damit haben, mit dem Zeit­geist zu gehen. Die bei­den Ansätze, die wenig verbindet, bilden zwei markante Gegen­pole in der religiösen Landschaft.

Ich ver­ste­he mich zusam­men mit der über­wiegen­den Mehrheit des erweck­lichen Protes­tantismus als Christ in der Mitte. Diese Mitte braucht eine The­olo­gie, die sowohl bib­lisch als auch prak­tik­a­bel ist.

Krisen­phänomene

Die Posi­tio­nen von Fun­da­men­tal­is­mus und pro­gres­sivem Chris­ten­tum liegen weit auseinan­der, aber sie haben etwas Gemein­sames: Bei­de sind Krisenphänomene.

Der Fun­da­men­tal­is­mus ist das Krisen­phänomen der Mod­erne, das pro­gres­sive Chris­ten­tum und der Post-Evan­ge­likalis­mus das Krisen­phänomen der Post­mod­erne. Diese weltan­schauliche Ver­haf­tung ver­di­ent es, näher unter­sucht zu wer­den. Im ersten Kapi­tel des Buch­es erläutere ich die entsprechen­den weltan­schaulichen und gesellschaftlichen Zusam­men­hänge. Mein Anliegen ist, eine sach­liche und faire Analyse der Sit­u­a­tion zu bieten.

Ich bin überzeugt, dass es gegen­wär­tig um viel geht:

Die Kirche kann ihre Zukun­ft fun­da­men­tal­is­tisch oder pro­gres­siv ver­spie­len. Bei­de For­men bieten ein ver­fremdetes Evan­geli­um an. In Zeit­en der Polar­isierung brauchen wir eine Rückbesin­nung auf den Begriff „evan­ge­lisch“. Vor uns ste­ht die Auf­gabe, ein „Evan­geli­um der Mitte“ zu schmieden, das der Ver­suchung wider­ste­ht, reduzierte Ange­bote zu machen. Evan­ge­lisch bedeutet nichts anderes als „am Evan­geli­um ori­en­tiert“. Der Begriff deutet eine gewisse Weite an, will sich also von unfrucht­baren Engführun­gen fern­hal­ten. Gle­ichzeit­ig ist er auf das Evan­geli­um bezo­gen, wie es die Schriften des Neuen Tes­ta­ments ver­mit­teln. Eine recht evan­ge­lis­che Antwort auf Post­mod­erne und Polar­isierung führt zu einem „Evan­geli­um der Mitte“.

Das wahre Evan­geli­um ist das Evan­geli­um von Jesus Chris­tus, das in der Mitte zwis­chen zwei Polen stat­tfind­et. Die Antwort auf die Post­mod­erne kann wed­er der Rück­zug von der Welt noch die Anpas­sung an die Gesellschaft sein, son­dern eine fundierte Mitte. Unsere Zeit braucht Chris­ten, die fundiert unfun­da­men­tal­is­tisch glauben, denken und handeln.

Näch­ste Woche erscheint mein Beitrag zum 2. Kapi­tel. Wenn du bis dann nicht warten kannst: Kaufe das Buch!

Über den Kanal

Roland Hardmeier

Dr. theol. Roland Hardmeier wohnt und arbeitet in Riedikon bei Uster. Er war 15 Jahre lang Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz. Heute ist er als selbständiger Dozent, Referent und Autor tätig. Einblicke in seine Tätigkeit gibt seine Website www.roland-hardmeier.ch

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Kommentare zu diesen Beitrag

3 Comments

  1. Wolfgang Ackerknecht

    Danke für den inter­es­san­ten Beitrag. Ich als evan­ge­lis­ch­er Lan­deskirch­ler sehe da auch viel Platz in der Mitte, wenn auch die Weite wiederum ver­schiedene Inter­pre­ta­tio­nen und viel ‘Spiel­raum’ findet/hat. Es kommt doch zu manchen Schnittmen­gen. Per­sön­lich schätze ich ein starkes Fun­da­ment, das beim Haus­bau viele Frei­heit­en zulässt, zB mit Kreativ­ität und Lebenser­fül­lung. — ver­mut­lich gibt das Buch darauf noch Antwort: let­ztlich zählt für ein glück­lich­es (Glaubens)leben ein von Gottes Geist inspiri­ertes Sein und Tun…

    Reply
    • M.B.

      Ich finde es ehrlich gesagt etwas schwierig das der Begriff des Fun­da­men­tal­is­mus mal wieder als Kampf­be­griff bzw als extrem hingestellt wird ohne wirk­lich zu erk­lären was damit gemeint ist.

      Warum bitte genau ist das ein Krisen­phänomen und was bedeutet das eigentlich konkret? Um welche Posi­tio­nen geht es eigentlich genau. Was definiert die “Mitte” und was macht denn Fun­da­men­tal­is­mus “U prak­tik­a­bel” usw.….

      Ohne das liest sich das lei­der nicht sehr kon­struk­tiv son­dern klingt nach den üblichen Phrasen, unter denen jed­er was anderes versteht.…

      Reply
      • Roland Hardmeier

        Lieber M.B.

        Im Blog­beitrag ist es in der gegebe­nen Kürze schwierig, den Fun­da­men­tal­is­mus und das pro­gres­sive Chris­ten­tum aus­ge­wogen darzustellen. Im Buch nehme ich mir im ersten Kapi­tel 30 Seit­en Zeit dafür. Ich hoffe, du liest es.

        Gute Lek­türe!
        Roland Hardmeier

        Reply

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