Wir alle haben sie: Vater und Mutter. Viele von uns sind es: Vater oder Mutter. Wir haben Herkunft, und wir schaffen Zukunft. Dies ist mein Plädoyer für die Familie, in zwei Teilen. In diesem ersten Teil liegt der Fokus auf der Geschichte der Familie, im zweiten Teil geht es um Fragen der Gegenwart.
Wer in die Toskana in die Ferien geht, möchte sich meist auch die eine oder andere schöne Kleinstadt zu Gemüte führen. Das ist bei mir nicht anders. Doch als Familie mit Kindern im Alter zwischen 10 und 14 Jahren kann dies ein komplexes Unterfangen sein. Der scheinbar irrationale Drang des ‚Pater Familias‘, alte Steine begutachten zu wollen, stösst nicht nur auf Gegenliebe. Gegen diesen familiären Unwillen gibt es eine klare Strategie: Gelati – ein Trumpf der meistens sticht.
Hat sich die eigene Sippe in die verwinkelten Gassen eben eines solchen Städtchens bewegen lassen, so wird diese mit etwas Glück nicht nur die feine Gelati finden, sondern eben auch schöne alte Kirchen und prunkvolle Paläste. In der Toskana wird sie möglicherweise einer weiteren Eigentümlichkeit begegnen, den Geschlechtertürmen.
Geschlechtertürme, das sind diese sichtbaren Andenken an die historische Bedeutung der Familie, stolze Zeichen für familiäre Autonomie, Wohlstand und Einfluss. Sicherer Ort des familiären Rückzugs bei Streit und Gefahr. Die wohl bekannteste Stadt mit Geschlechtertürmen ist San Gimignano in der Toskana. Hier prägen noch 15 Geschlechtertürme das Stadtbild. Im mittelalterlichen Bologna sollen es 180 gewesen sein, womit jene Stadt quasi das Manhattan des Mittelalters war. Bis zu 100m ragten die Türme in den Himmel und stahlen Kirchen und anderen amtlichen Gebäuden die Show.
Die Geschlechtertürme Italiens machen eine oft verkannte, vergessene und heute manchmal gar verachtete gesellschaftliche Grundzelle auf eindrückliche Weise sichtbar: die natürliche Familie.
Noch vor Staat oder Religion
Die Geschichte der natürlichen Familie geht weit, weit zurück. Schon in der biblischen Schöpfungsgeschichte finden wir sie mit ihren wesentlichen Merkmalen beschrieben. Gott hat den Menschen als Mann und Frau geschaffen (die biologische Grundlage der natürlichen Familie). Durch Ablösung von den Eltern, neue Bindung aneinander (Heirat, Bildung einer neuen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einheit) und körperliche Vereinigung (Sex) entsteht eine neue Familien-Einheit, mit dem natürlichen Potential für Kinder. Kinder sollen in der Familie willkommen und gewünscht sein (Vermehrungsauftrag). Ebenso gilt der Familie auch ein unternehmerischer und pflegender Auftrag (Bebauen und Bewahren der Schöpfung).[1]
Eine der wichtigsten Eigenschaften der natürlichen Familie ist, dass sie eine ungebrochene Kette bildet. Kein Mensch ist geschichtslos, sondern jedes neue Menschenleben erwächst aus der vorangehenden Generation. Jede neue Generation ist damit ein Bindeglied in einer ungebrochenen Kette, durch welche sich die Familie von einem ins nächste Jahrhundert erstreckt. Jeder Mensch ist natürliches Bindeglied zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Er übernimmt ein Erbe, und er gibt ein Erbe weiter.
Die ‚Allgemeine Erklärung der Menschenrechte‘ anerkennt die Bedeutsamkeit der Familie als gesellschaftliche Grundeinheit:
„Die Familie ist die natürliche Grundeinheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat.“[2]
Wichtig in dieser Formulierung ist unter anderem das Wort ‚natürlich‘. Es weist darauf hin, dass Familie nicht eine konstruierte Angelegenheit ist, sondern durch das ihr innewohnende Potential der Reproduktion gegeben ist. Familie ist damit grundsätzlich etwas, was man nur feststellen und anerkennen kann, nicht künstlich herstellen oder herbeiführen.
Die ‚Gegebenheit‘ oder ‚Natürlichkeit‘ der Familie scheint mir gerade in den Debatten unserer Zeit eine wichtige Feststellung. Immer wieder treffe ich Menschen, die gerne Verfechter ‚biblischer‘ oder ‚christlicher‘ Standpunkte gegen die Verfechter von ‚Wissenschaft‘ und ‚Evolution‘ ausspielen. Doch im Falle der Familie muss eigentlich festgestellt werden, dass sich Ursprung und Wesen der Familie, wie wir sie aus christlicher Tradition kennen, sehr gut mit den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung zusammenpasst. Die Familie als ursprüngliche, vorstaatliche und vorreligiöse Zelle der Gesellschaft ist gut dokumentiert. So bestätigt beispielsweise Edvard Westermarck (1862–1939), der finnische Pionier der Familienforschung, den anthropologischen Befund, dass Ehe als Institution in ihren grundsätzlichen Elementen universell der ganzen Menschheit gemeinsam ist und sich aus einem urzeitlichen Habitus entwickelt hat.[3] C. Owen Lovejoy (*1943), welcher als Paläanthropologe aus der Perspektive der Evolutionstheorie die Entwicklung des aufrechten Ganges erforscht hat, spricht davon, dass spezifische Merkmale des Menschen wie intensivierte Elternschaft, soziale Beziehungen und monogame Paarbindung dem gleichen Entstehungszeitraum wie dem aufrechten Gang zuzuordnen sind. Lovejoy argumentiert: Das einzigartige menschliche Sexualverhalten ist der unabdingbare Marker am Ursprung des Menschen.[4]
Wenn Lovejoy recht hat, ist auch gesagt, dass Familie nicht einfach als gesellschaftliches oder religiöses Konstrukt abgetan werden kann, welches zusammen mit einer Religion oder einer gesellschaftlichen Kultur dekonstruiert werden könnte. Denn Ehe und Familie sind entstehungsgeschichtlich sowohl der Herausbildung religiöser Formen als auch staatlicher Strukturen vorgelagert. Auch neuere Forschungen bestätigen diesen Befund. Sicher haben Religion oder Staatsformen unsere heutige Familienkultur und gewisse Traditionen beeinflusst. Doch in ihren Kernelementen der sexuellen, sozialen und ökonomischen Vereinigung von Mann und Frau mit intensivierter Elternschaft und Gemeinschaft hat sie ihr ganz eigenes Dasein, egal ob man dieses mittels göttlichem Schöpfungsakt oder evolutionärer Entwicklung begründet.
Eine bedrohte Institution
Die natürliche Familie mag historisch in Urzeiten verankert sein und als Reproduktionszelle für die Zukunft und das Gedeihen einer Gesellschaft unabdingbare Funktionen erfüllen. Trotzdem gibt es wohl kaum eine gesellschaftliche Institution, die über die vergangenen Jahrhunderte mehr in Frage gestellt wurde als die natürliche Familie.[5] Das hat verschiedene Ursachen und Hintergründe. Ich möchte nachfolgend aus den Bereichen der technischen Entwicklung, der weltanschaulichen Konzepte sowie der wissenschaftlichen Trends einige Faktoren herausgreifen, welche sich mitunter als gefährdend für die natürliche Familie erwiesen haben.
Technische Entwicklungen:
Die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts pflügte das Gefüge der Gesellschaft völlig um. Die Auswirkungen auf Familien waren vielerorts dramatisch. Die organische Verbindung von Haus und Arbeit wurde auseinandergerissen und damit auch das über Jahrtausende gelebte familiäre Zusammenspiel von Arbeit, Kindererziehung und ergänzender Zusammenarbeit innerhalb der Ehe. Unpersönliche Maschinen machten gewisse Fertigkeiten obsolet. Die zunehmende Mobilität ermöglichte das Arbeiten fern von Zuhause. Kinder wurden nicht mehr durch ihre Eltern in der Arbeit geprägt, sondern wurden als gesichtslose Nummern in den Produktionsprozess für fremde Herren eingeschleust. Die Entstehung von Grossstädten brachte Vereinsamung und ganz neue soziale Herausforderungen. Die Häuser und Areale der Familien, welche noch bis vor kurzem lebendige und funktionsreiche Orte produktiver Arbeit, gegenseitiger Unterstützung und gemeinsamen, generationenübergreifenden Lebens waren, wurden im Einflussbereich der Industrialisierung tendenziell zu funktionslosen Übernachtungsplätzen.
Eine andere einschneidende Innovation war in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts die Entwicklung der Antibabypille. Diese hatte zum Beispiel starke Auswirkungen auf die Entwicklung der Geburtenrate, aber auch auf das Zusammenspiel der Geschlechter. Was als Hilfe zur Geburtenkontrolle innerhalb der Ehe entwickelt worden war, wurde im Handumdrehen zum Mittel, mit dem feste Bindungen ganz grundsätzlich nicht mehr nötig waren. Die natürliche Verbindung von Sex und Kinder war gerissen, und Frauen standen nicht nur auf der Gewinnerseite: Bindungsscheue aber sexhungrige Männer waren von der Pille mindestens so angetan wie Frauen. Auch die zunehmend einfacheren und legalen Möglichkeiten zur Abtreibung trugen das ihre bei zu einer Kultur abnehmender männlicher Verantwortungsübernahme. Die Pille machte Sex zum Konsumgut mit vermeidbaren Nebenwirkungen.
Ideologien und Weltanschauungen:
Die liberalen Leitfiguren des 18. Und 19. Jahrhunderts bauten ihre gesellschaftlichen Modelle auf dem Individuum als Grundeinheit der Gesellschaft. Die individuelle Freiheit wurde in dieser Zeit zunehmend in den Mittelpunkt gestellt und die Familie als eher entbehrliches oder gar freiheitsberaubendes und unterdrückendes Konstrukt gesehen. Bereits der Genfer Jean-Jaques Rousseau (1712–1778) sah im Staat so etwas wie den Ersatz für die Familie.[6] Ehe und Familie sah er eher als Hindernis für den Menschen, der sein ‚authentisches Selbst‘ leben wollte. Leitfiguren des Utilitarismus wie William Godwin (1756–1836) oder John Stuart Mill (1806–1873) sahen in der Familie tendenziell eine ‚Schule des Despotismus‘, als Institution, welche den natürlichen Instinkten des Menschen zuwiderlief, dem persönlichen Genuss im Wege stand. [7] In Godwins Sozial-Utopie war kein Mann exklusiv an eine Frau gebunden, sondern alle würden einander in einer grossen sexuellen Gemeinschaft teilen[8]. Die Stossrichtung war somit gegeben: Ehe und Familie standen der Freiheit und dem Glück des Individuums im Wege. Mit im Wege stand auch die Kirche, welche mit konservativer Sexualmoral die Institution Familie stützte und einer ‚befreiten‘ Sexualität im Wege stand. Auch erste Konzepte von ‚serieller Monogamie‘ verbunden mit vereinfachten Scheidungsmöglichkeiten entstanden.[9] Familienbande, seien es diejenigen zwischen den Ehegatten oder zwischen Eltern und Kind, wurden in dieser Zeit zunehmend im Sinne einer Machtausübung des einen Menschen über den anderen gesehen und nicht mehr als die natürliche Form menschlichen Zusammenlebens.
Auf diesem Nährboden entstanden weitere Ideen für gesellschaftlichen Umbruch. Bewegungen und Lebensperspektiven wie Sozialismus, Feminismus, Hedonismus, Kommunismus oder säkularer Liberalismus mögen teils ganz unterschiedliche Ziele verfolgt haben, ihnen gemeinsam war aber die traditionelle Familie als Feindbild. Feministinnen sahen die Familie gerne als Hindernis zu Gleichberechtigung und persönlicher Autonomie. Säkulare Liberale sahen die Familie als entbehrliche und religiös begründete Struktur, deren Zeit abgelaufen war. Für Hedonisten stand die Familie mit ihrer Betonung von Treue und Verantwortungsübernahme der persönlichen Lustbefriedigung im Wege. Kommunisten sahen in der Familie eine Urform der Unterdrückung, welche durch den Generationentransfer von Besitz den Kapitalismus stütze und der Entfaltung des kommunalen Lebens im Wege stand.[10] Auch Nationalisten vergingen sich an der Familie, indem sie diese für ihre Zwecke vereinnahmten.
Ein Vorbote der Zukunft war Wilhelm Reich (1897–1957). In seinen Ideen, verbanden sich in den Jahren vor dem zweiten Weltkrieg die tiefenpsychologischen Konzepte von Sigmund Freud (1856–1939) mit den revolutionären Ideen von Karl Marx (1818–1883). Freud hatte den Sexualtrieb als den alles bestimmenden Urtrieb des Menschen in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht. Marx sah im Proletariat die treibende gesellschaftliche Kraft und in ihrem Aufstand gegen die herrschende Klasse den Schlüssel zur klassenlosen Gesellschaft. Reich setzte nun Sexualität anstelle des Proletariats. In einer befreiten Sexualität würde der Schlüssel liegen zu einer befreiten Gesellschaft. Er rief auf zur sexuellen Revolution[11] und machte aus dem sexuellen Akt einen politischen Akt der Befreiung. Zu den Opfern dieser neuen Revolution sollte natürlich auch die Familie gehören, diese ‚Urzelle der Unterdrückung‘. Der zweite Weltkrieg zwang Reich zur Flucht in die USA und seine revolutionären Ideen verschwanden in der Versenkung – vorerst.
Wissenschaftliche Trends:
Auch Konzepte mit wissenschaftlichem Anspruch, wie sie beispielsweise Robert Malthus (1766–1834) oder Charles Darwin (1809–1882) entwickelten, erwiesen sich als Bedrohung für die traditionelle, für Kinder offene Familie.
Der Maltusianismus stellte einer linearen Vergrösserung der Lebensmittelproduktion ein exponentielles Bevölkerungswachstum gegenüber. Damit schürte Malthus im beginnenden 19. Jahrhundert ganz neue und existentielle Ängste von Überbevölkerung, Hungersnöten und Migrationsströmen[12]. Es waren unter anderem diese Ängste, welche dem feministischen Anliegen nach Geburtenkontrolle in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zum Erfolg verhalfen. Aktivistinnen wie Margaret Sanger nutzen diese Ängste als integralen Bestandteil ihrer Argumentationen.[13] In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschoben sich die Fragen einer potentiellen Überbevölkerung zunehmend auf die globale Ebene und wurden zum Denk- und Handlungsfeld für Sicherheitsstrategen und Politiker.[14] Die Thesen von Malthus wurden eigentlich schon lange durch die historische Realität entkräftet, denn die industrielle Revolution brachte die nötige Produktionssteigerung im Bereich der Nahrungsmittel. Doch bis heute geistert die Angst vor Überbevölkerung kräftig herum, obwohl das eigentliche Bevölkerungsproblem des 21. Jahrhunderts der Trend zu globalem Bevölkerungsrückgang und Überalterung sein wird.[15]
Aus der Evolutionslehre von Darwin und genährt von malthusianistischen Ängsten entwickelten sich im späten 19. Jahrhundert auch Ideen, wie das Wachstum der Bevölkerung nicht nur zahlenmäßig durch Geburtenkontrolle gelenkt werden könnte, sondern auch aktiv in Richtung einer ‚gesunden‘ und für die Gesellschaft ‚produktiven‘ Bevölkerung gefördert werden könnte: die Geburtsstunde von Eugenik und Rassenhygiene. Der Wert des menschlichen Lebens wurde abhängig gemacht vom potentiellen Nutzen respektive dem potentiellen Schaden für die Gesellschaft. Im populären Verständnis sind Eugenik und Rassenhygiene Eigenheiten des deutschen Nationalsozialismus. Doch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass diese Ideen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sozusagen das progressive Steckenpferd einer westlichen kulturellen und wissenschaftlichen Elite waren — der ‚Lackmustest‘, ob man zu den Fortschrittlichen oder den Rückständigen gehörte.[16]
Einen treffenden Einblick in dieses Denken gibt beispielsweise Margaret Sanger in ihrem Buch ‚Woman and the New Race‘. Darin begründet sie ihren Kampf für die Geburtenkontrolle folgendermassen:
„Geburtskontrolle, oft als Übertretung der Gesetze der Natur gebrandmarkt, ist nichts anderes als das in die Wege leiten eines Prozesses, bei dem die Untauglichen ausgejätet werden und die Geburt der Defekten oder zukünftig defekten Menschen verhindert wird.“[17]
Selbst liberale protestantische Theologen sahen in den Instrumenten der Rassenhygiene und Eugenik bald das ‚Instrument Gottes‘, um die Menschheit zu ‚heiligen‘ und das Reich Gottes herbeizuführen.[18] Leider muss die heutige Abtreibungsindustrie als nahtlose Weiterführung dieser Ideologien gesehen werden.[19]
Die Theorien von Darwin waren aber auch Wasser auf die Mühlen der sexuellen Hedonisten, welche in seinen Lehren die rationale Erklärung dafür fanden, ihren Trieben einfach mal freien Lauf zu lassen. Der wohl einflussreichste Sexologe aller Zeiten, Alfred Kinsey (1894–1956) verkörpert diese Sicht auf den Menschen wohl wie kein anderer. Moralische Codes waren für ihn nur das Hindernis zur freien sexuellen Entfaltung des ‚menschlichen Tiers‘. Den Menschen als Tier zu sehen war für ihn eine logische Konsequenz von Darwin’s Evolutionstheorie. Was auch immer dem Ausleben der eigenen Triebe im Wege stand, wurde als schädlich für den Menschen taxiert. Sexuelle Praktiken jenseits der Heterosexualität wurden durch Kinsey gleich spannenden Mutationen aufs Podest gehoben. In ihnen sah Kinsey die potentielle Entwicklung des Menschen zu einer neuen Stufe der Evolution. Der monogame heterosexuelle ‚Normalfall‘ war für ihn hingegen uninteressant. [20]
Die sexuelle Revolution
Die sexuelle Revolution der 60er und 70er Jahre kommt für die natürliche Familie einem ‚perfekten Sturm‘ gleich. Dieser Sturm brachte rasch steigende Scheidungsraten, Akzeptanz für vor- und ausserehelichen Sex, die Legalisierung von Abtreibung, sinkende Geburtsraten, steigende Akzeptanz für nicht-heterosexuelle Formen der Sexualität und vieles mehr. Aus dem Nichts kam der Sturm nicht. Die dafür nötigen Wetterbedingungen hatten sich über Jahrzehnte hinweg aufgebaut.
Es ist spannend zu sehen, wie beispielsweise die Ideen von Wilhelm Reich in den 60ern auf einmal wieder auftauchten. Seine Bücher waren vor dem zweiten Weltkrieg in Deutschland noch verboten und verbrannt worden. Auch in seiner neuen Heimat, den USA, waren nach dem Weltkrieg seine Bücher verboten worden. Reich wurde der Prozess gemacht und er verstarb 1957 im Gefängnis. Doch nun, in den 60er Jahren, wurden seine Bücher abgetippt, Raubkopien gedruckt und unter der Hand verkauft. Sie fanden reissenden Absatz. Die sexuelle Revolution der 68er Bewegung war da, und Wilhelm Reich war einer ihrer grossen Helden.
Die Konzepte, Ideologien und Innovationen, welche in den vergangen zwei Jahrhunderten die natürliche Familie in Frage gestellt haben und die sexuelle Revolution der 60er und 70er ausgelöst haben, können mit einem Nährboden verglichen werden. Dieser Nährboden sorgt auch heute dafür, dass gesellschaftliche Trends im Bereich Ehe und Familie mit erstaunlicher Geschwindigkeit möglich sind. Nur so sind die rasanten Verschiebungen in der öffentlichen Meinung erklärbar, wie wir sie beispielsweise in den vergangenen 10 Jahren in der Frage der ‚Ehe für alle‘ erlebt haben.[21]
Eine resiliente Institution
Doch Totgesagte leben bekanntlich länger, und auf keine andere Institution trifft dies mehr zu, als auf die natürliche Familie. Wer sich gegen diese stellt vergisst nur zu schnell die Wahrheit, wie der bekannte englische Autor G.K. Chesterton (1874–1936) formuliert hat:
„Die Institution der Familie ist die eine anarchische Institution. Das heisst, sie ist älter als das Gesetz und steht ausserhalb des Staates. Sie erneuert sich oder vergeht aus ihrer eigenen Natur heraus…“[22]
Wie die Natur sich nach einem Sturm oft schnell wieder regeneriert, so bleibt die natürliche Familie auch im Jahr 2021 eine ‚resiliente Spezies‘. Ihr dürfen weit mehr Zukunftschancen zugeschrieben werden, als den Ersatzkonzepten, die der Mensch über die vergangenen Jahrhunderte entwickelt und ausprobiert hat.
Bei allem Gegenwind für die natürliche Familie gab es in den vergangenen Jahrhunderten auch gewichtige Persönlichkeiten, welche die Schönheit der natürlichen Familie entdeckten, ihre gesellschaftliche Relevanz mit wissenschaftlicher Gründlichkeit erforschten und mit Herz und Verstand für sie gekämpft haben. Zwei solcher Persönlichkeiten möchte ich kurz vorstellen.
Le Play — der Sozialreformer des Kaisers
Eine der faszinierendsten Persönlichkeiten, welche den gesellschaftlichen Wert der Familie für seine Zeit entdeckt und erforscht hat, ist der französische Ingenieur, Ökonome und Sozialreformer Fréderic Le Play (1806–1882). Le Play gilt als bedeutender französischer Sozialtheoretiker des 19. Jahrhunderts. Als Ingenieur und Ökonom war er für Weltausstellungen in Paris und London verantwortlich, als Geologe war er in den Minenregionen Deutschlands tätig. Seine ausgedehnten Forschungsreisen führten ihn von Spanien bis nach Russland und auch in die Schweiz. Dabei erforschte Le Play die sozialen Strukturen der europäischen Bevölkerung in einer Zeit grosser Umbrüche. Von Napoleon III (dem ‘Schweizer’ Napoleon’[23]) wurde er zum Staatsrat ernannt und mit der Aufgabe betraut, ein Buch über die sozialen Grundsätze zu schreiben, die ihm für das Wohlergehen der Gesellschaft notwendig erschienen.
Was der Atheist und Skeptiker Le Play im Rahmen seiner ausgedehnten Forschungsreisen feststellte, stand im Gegensatz zu den damals trendigen Theorien seiner liberalen und sozialistischen Zeitgenossen: Er stellte einen unmittelbaren Zusammenhang fest zwischen dem, was er ‚Stammfamilie‘ nannte und historischen Beispielen von stabilen, kreativen Kulturen. Für Le Play wurde klar: nicht das Individuum sollte als Grundzelle der Gesellschaft gesehen werden, sondern die 3 Generationen umfassende Stammfamilie. Diese, so seine Argumentation, kombinierte gleichzeitig einen Gemeinschaftssinn und die Möglichkeit für individuellen Ausdruck. Die Stammfamilie vermied einerseits den einengenden Charakter einer rigiden patriarchalen Familie und andererseits auch den egoistischen und atomisierenden Charakter der modernen liberalen Systeme. Die Familie war bei Le Play das “wahrhafte soziale Molekül” (véritable molécule sociale)[24] und die Quelle für Stabilität, Fortschritt und authentische Freiheit.
Aus seinen Beobachtungen heraus entwickelte Le Play ein soziales System, welches in etwa folgende Eckpunkte umfasste: die Freiheit der Familie, die öffentliche Glaubensausübung, die Beachtung des Dekalogs (10 Gebote) als Ausgangspunkt für die Gesetzgebung, ein dezentralisiertes Staatssystem, und soziale Verantwortungsübernahme durch Besitzer und Arbeitgeber. Der Atheist und Skeptiker Le Play starb als Christ. Mit entscheidend für seinen Sinneswandel waren seine soziologischen Beobachtungen, welche das christliche Welt- und Menschenbild glaubwürdig bestätigten. Für mich persönlich ist Le Play ein enorm ermutigendes Beispiel von jemand, der bereit ist, ehrlich an die Sache heran zu gehen und dabei auch noch Christ wird.
Sorokin — Der Soziologe von Harvard
Eine zweite solche Persönlichkeit ist Pitirim Sorokin (1889–1968). Der Gründer der soziologischen Abteilung an der renommierten Harvard Universität und zeitweilige Präsident der Soziologischen Gesellschaft der USA identifizierte wie Le Play die Stammfamilie als die stabilste, natürliche soziale Form.[25] Sorokin stellte in seinen umfangreichen Forschungsarbeiten[26] eine Verbindung zwischen schrumpfenden Familiengrössen und sozialen Unruhen fest und betonte die Wichtigkeit von Bildung als familiärem Kernauftrag.
Noch in den ‘goldenen’ 50ern[27] diagnostizierte er eine sich anbahnende sexuelle Revolution, der er sich bis zu seinem Tod in den 60er Jahren mit Vehemenz entgegenstellte[28]. So geisselte er die Erkenntnisse von ‘Freudianern, Pseudo-Sexologen und Pseudo-Psychologen’ als ‘eklatant unwissenschaftlich und wertlos’[29]. Die sich im Fahrwasser von Sigmund Freud etablierende Sicht, welche die Sexualität als identitätsbestimmende Dimension des Menschen propagierte, sah Sorokin aufgrund seiner Forschungsarbeiten als Gefahr für das soziale Gefüge. Die in der Gesellschaft zunehmend dominante ‘Sex-Liebe’ müsse durch eine ‘Totale-Liebe’ ersetzt werden, eine ganzheitliche Liebe, die sich Kinder wünscht, sich dem Gift der Pornografie verweigert, ihre Ernsthaftigkeit durch voreheliche Enthaltsamkeit und eheliche Treue konkret werden lässt. Er forderte nichts weniger als eine neue Transfiguration der Gesellschaft und formulierte seine Vision folgendermassen:
«Die sexuelle Verirrung wird nach und nach durch eine noble sexuelle Ordnung ersetzt; Scheinehe durch totale Ehe; primitive sexuelle Liebe durch die unerschöpfliche totale Liebe; die schmale und entwertete Konzeption des Lebens durch ihr unendlich reiches Gegenstück.»[30]
Sororokin, der 1917 als junger Mann noch in die Wirren der Russischen Revolution verwickelt war, blieb zeitlebens eine Person, welche sich Schubladisierungen entzog. Als er einmal nach seinem persönlichen Credo gefragt wurde, nannte er sich einen ‘konservativen christlichen Anarchisten’[31]. Wenn das keine interessante Mischung ist.
Bilanz
Die natürliche Familie ist ein Turm alter Zeit. Aber ihre Bedeutsamkeit für unsere Zeit ist ebenso gegeben. Eine Persönlichkeit, welche Intensiv über die Bedeutung der natürlichen Familie für unsere Zeit nachgedacht hat, ist der Historiker Allan Carlson (*1949). Carlson hat sein ganzes Leben der Förderung und Erforschung der natürlichen Familie verschrieben, war unter dem US Präsidenten Ronald Reagan Mitglied in der Nationalen Kommission für Kinderfragen und ist der Mitverfasser des «Natural Family Manifesto»[32]. Im dazugehörigen Buch[33] legt er unter Zuhilfenahme einer Fülle von historischen Quellen und wissenschaftlichen Studien die Argumente für die natürliche Familie dar, und wie diese auch durch Politik und Gesellschaft gefördert werden kann. Carlson bringt meines Erachtens den Wert der natürlichen Familie für eine Gesellschaft auf den Punkt:
„Die natürliche Familie ist ein Schlüssel zur Fülle des Lebens. Sie bewirkt, was kein anderes Organisationsprinzip bewirken kann: sie macht alles um sie herum besser, sie verstärkt die besten Elemente aller anderen Institutionen. Sie ist das Fundament für geordnete Freiheit.“[34]
Ich hatte die Möglichkeit, mich mit Allan Carlson zu unterhalten und seine Sicht auf die natürliche Familie zu diskutieren. In einem weiteren Artikel werde ich unter Zuhilfenahme seiner Forschung auf einige Themenfelder eingehen, welche sich mir im Zusammenhang mit Familie als wichtig aufgedrängt haben:
Zum zweiten teil der Serie:
Die natürliche Familie (2/2) – Turm für unsere Zeit
Bilder:
Titelbild: iStock
Weitere Bilder: Peter Bruderer
Fussnoten:
[1] 1Mo 1:24; 1Mo 2:15; 1Mo 2:24
[2] Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 16.3
[3] Edward Westermark, “The History of Human Marriage”: 5th Edition (London: Macmillan, 1925): 26–37, 69–72; Vgl. Allan C. Carlson, Vgl. Paul T. Mero, “The natural Family [a manifesto]”, 2007, S 52
[4] C. Owen Lovejoy, the Origin of Man, Science 211 (Jan 23, 1981): https://science.sciencemag.org/content/211/4480/341
[5] Neben der Familie muss die Kirche als zweite, stark in Frage gestellte Institution erwähnt werden.
[6] Vgl. z.B. Jean Jacques Rousseau, “The Social contract” (New York : E. Dutton, 1950 : 44,15,27)
[7] Vgl. z.B. John Stuart Mill, “On Liberty” (1859) oder ‘The Subjection of Women’ (1869)
[8] Godwin, ‘Enquiry concerning Political Justice’, 1793, siehe Carl R. Trueman, “The Rise and Triumph of the Modern Self”, 2020, S151
[9] Vgl. Vgl. John Locke, “Treatise on Civil Government“, 1692. Locke Vertrat gemäss Allan Carslon die Idee, dass die Ehe nur als temporäre Verbindung im Zusammenhang mit der Kindererziehung betrachtet werden müsse. Nach Abschluss der Erziehungsarbeit löse sich das Band der Ehe sozusagen ‘von selbst auf’ und Mann und Frau seien frei, neue sexuelle Beziehungen einzugehen. Vgl. Allan C. Carlson, Paul T. Mero, “The natural Family [a manifesto]”, 2007, S 32
[10] Vgl. Beispielsweise die das neue Familien- und Eherecht in der Sowjetunion, 1918: https://en.wikipedia.org/wiki/Family_in_the_Soviet_Union
[11] Das Buch, “Die Sexualität im Kulturkampf, Zur sozialistischen Umstrukturierung des Menschen“, erschien 1936, die englischsprachige Ausgabe bekam 1945 den Titel “The sexual Revolution“.
[12] Vgl. Robert Malthus, “Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz“, 1798
[13] Vgl. George Grant, “Killer Angel, A Biography of Planned Parenthood’s Founder Margaret Sanger”, S 50–57.
[14]Ein Beispiel dafür, wie die Bevölkerungsentwicklung als sicherheitspolitisch Relevant erachtet wurde, ist der Kissinger Report von 1974, welches die Sicherheit der USA in den Zusammenhang des weltweiten Bevölkerungswachstums stellte: https://pdf.usaid.gov/pdf_docs/PCAAB500.pdf
[15] Vgl.: https://www.bbc.com/news/health-53409521
[16] So zählte der prominente Schweizer Universalgelehrte und Ameisenforscher Auguste Forel (1848–1931) – bis vor kurzem noch auf der Schweizer 1000er Note abgebildet, zu den aktiven Verfechtern von Eugenik und Rassenhygiene. Vgl auch das Buch von Willi Wottreng: “Hirnriss : Wie die Irrenärzte August Forel und Eugen Bleuler das Menschengeschlecht retten wollten.“ (1999)
[17] Vgl. Margaret Sanger, “Woman and the New Race“, 1920, eigene Übersetzung
[18] Vgl z.B. Christine Rosen, “Preaching Eugenics: Religious Leaders and the American Eugenics Movement”, 2004
[19] In Island werden beispielsweise bei Kindern mit Down-Syndrom abtreibungsraten von 100% erreicht. Vgl: https://www.cbsnews.com/news/down-syndrome-iceland/
[20] Neben der natürlichen Selektion kamen Mutationen im Darwinismus eine bedeutende Rolle zu. Von diesen erwartete man wichtige evolutionäre Weiterentwicklungen der verschiedenen Spezies. Kinsey selbst beschäftigte sich vor seinen Forschungsarbeiten zur menschlichen Sexualität als Zoologe bei der Erforschung der Gallwespe, wo er bereits ein besonderes Augenmerk auf Mutationen und Variationen legte. (Vgl: https://www.amnh.org/shelf-life/kinsey-wasps)
[21] In der Schweiz wird im September 2021 über die Ehe für alle inkl. Samenspende abgestimmt. Vgl. dazu die folgenden Artikel auf Daniel Option: Ehe für alle?: https://danieloption.ch/featured/ehe-fuer-alle/ und Kinder für alle?: https://danieloption.ch/featured/kinder-fuer-alle/
[22] G.K. Chesterton, „Whats wrong with the World”, 1910, S50, , eigene Übersetzung
[23] Vgl: https://de.wikipedia.org/wiki/Arenenberg
[24] Vgl.: https://www.uni-muenster.de/Geschichte/SWG-Online/alltagsgeschichte/glossar_leplay.htm
[25] Vgl. Allan C. Carlson, Paul T. Mero, “The natural Family [a manifesto] “, 2007, S 59
[26] Sein Werk “Social and Cultural Dynamics“ gilt als Standartwerk der Soziologie und wird bis heute verlegt.
[27] Die 50er Jahre gelten in den USA als die Zeit des sogenannten Babybooms. Eine Zeit geprägt von einer starken Familien-Orientierung, hohen Geburtenraten und zunehmendem Wohlstand. Vgl: https://blogs.baruch.cuny.edu/his1005spring2011/tag/golden-age/
[28] Vgl. sein Buch “The American Sex Revolution“, 1956
[29] Pitirim Sorokin, “The American Sex Revolution”, S 161, 173; Vgl. Auch sein Buch “Fads and Foibles in Modern Sociology and Related Sciences”, 1956
[30] Vgl. “The American Sex Revolution“, S 178
[31] The legacy of Pitirim Sorokin in the transnational alliances of moral conservatives — Dmitry Uzlaner, Kristina Stoeckl, 2018 (sagepub.com)
[32] Vgl: https://www.worldcongress.pl/docs/en/pdf/the_natural_family.pdf
[33] Allan C. Carlson, Paul T. Mero, “The natural Family [a manifesto] “, 2007
[34] Allan C. Carlson, Paul T. Mero, “The natural Family [a manifesto]“, 2007, S 98, eigene Übersetzung