‘After Evangelicalism’ — eine persönliche Reaktion

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Mit “After Evan­gel­i­cal­ism” legt David P. Gushee seinen umfassenden Plan vor, wie Chris­ten aus dem Labyrinth des “Evan­ge­likalis­mus” rauskom­men könn(t)en. Lei­der reduziert er die evan­ge­likale Chris­ten­heit auf eine ‘christliche, poli­tis­che Rechte’, was zu ein­er irreführen­den Karikatur ein­er weltweit­en Bewe­gung verkommt. Die mitunter berechtigten Anliegen des Buch­es wer­den dadurch lei­der auch in Mitlei­den­schaft gezo­gen. Für mich als “Evan­ge­likaler” stellt sich durch Gushee’s Buch die Frage nach dem Umgang mit dem Label “evan­ge­likal” und der damit ver­bun­de­nen Theologie.

Mit drama­tis­chen Worten startet David P. Gushee in sein neues Buch After Evan­gel­i­cal­ism. The Path to a new Chris­tian­i­ty (August 2020):

“Dies ist ein Buch für Men­schen, die früher ein­mal “Evan­ge­likale” waren, und jet­zt post-Evan­ge­likale oder ex-Evan­ge­likale oder #exvan­gal­i­cals sind, oder irgend­wo schmerzhaft dazwis­chen. Ich bin ein­er von ihnen. Ein­er von euch. Allein schon in den USA gibt es Mil­lio­nen von uns” (Kin­dle Posi­tion 241).

Gushee ist im deutschsprachi­gen Raum kein unbeschriebenes Blatt. Sein Buch “Chang­ing our mind” sorgte 2014 für Auf­se­hen. Es prägte Denkprozesse einiger mein­er Fre­unde, welche tra­di­tionelle Ansicht­en im The­men­bere­ich Sex­ual­moral / LGTBQ hin­ter­fra­gen woll­ten. Damals beschrieb Gushee, wie er als kon­ser­v­a­tiv­er, evan­ge­likaler Pro­fes­sor für Ethik seine Mei­n­ung über die Auf­nahme von LGTBQ Men­schen in christlichen Gemein­den geän­dert hat.

Gushee’s neustes Buch wird bere­its im deutschsprachi­gen Raum in den sozialen Medi­en disku­tiert. Die poli­tis­chen Entwick­lun­gen rund um den US-Präsi­den­ten Don­ald Trump bee­in­flussen die Chris­ten bis zu uns. Seine Bewirtschaf­tung evan­ge­likaler Chris­ten als wichtige Wäh­ler­gruppe führt auch in unseren Bre­it­en­graden dazu, dass Leute sich öffentlich vom Label “evan­ge­likal” los­sagen. Hash­tags wie #exvan­gel­i­cal oder #not­my­je­sus machen die Runde. Mit seinem aktuell nur auf englisch zu lesenden Buch After Evan­gel­i­cal­ism stimmt auch Gushee in den Chor dieser Stim­men ein. Bere­its 2017 hat­te er öffentlich mit dem «Evan­ge­likalis­mus» gebrochen. Nun möchte er zeigen, wohin die Reise gehen kön­nte: in einen “christlichen Human­is­mus”. Fromme Chris­ten soll­ten beim Begriff “Human­is­mus” nicht vorschnell urteilen., son­dern sich die Zeit nehmen zu erfahren, was Gushee damit meint.

Dieses Buch hat mich inner­lich umgetrieben. Deshalb ist dieser Text weniger eine klas­sis­che Rezen­sion mit Überblick über die Inhalte eines Buch­es. Ich schreibe als per­sön­lich vom The­ma betrof­fen­er Christ. Ich reflek­tiere über aktuelle Span­nun­gen in der west­lichen Chris­ten­heit und über die zunehmend feind­selige Grund­stim­mung, welche sich auch in kirch­lichen Kreisen gegenüber der evan­ge­likalen Bewe­gung bre­it­macht. Für nicht Eingewei­hte ist deshalb ein klein­er Exkurs zu diesem Begriff wichtig.

Evangelikalismus

Der deutsche Wikipedia Ein­trag gibt einen schnellen, aber auch aus­führlichen Ein­blick, was “Evan­ge­likalis­mus” ist. Ich empfehle, ihn zu lesen und wage hier meine eigene Kurz­fas­sung. In den 1950-er und 1960-er Jahren nutzte eine Gruppe von The­olo­gen den Begriff “evan­ge­likal”, um sich abzu­gren­zen gegenüber dem protes­tantis­chen Fun­da­men­tal­is­mus. Ihr Anliegen war es, Dinge zu beto­nen, welche die dama­li­gen Fun­da­men­tal­is­ten nicht tat­en, ins­beson­dere soziales Engage­ment. Sie woll­ten auch dia­log- und kon­sens­fähiger sein, also eine grosse ‘Mitte’ der Chris­ten ansprechen. Gle­ichzeit­ig war ihnen wichtig, the­ol­o­gisch nicht ins “lib­erale” Lager zu wech­seln, welch­es bis dahin stärk­er dafür bekan­nt war, soziale Anliegen zu fördern.

Die evan­ge­likale Bewe­gung war kein eigen­er christlich­er Kirchen­ver­band. Vielmehr waren es bes­timmte Merk­male, die betont wur­den, wie zum Beispiel die per­sön­liche Entschei­dung für Jesus, die Autorität der Bibel in allen Fra­gen des Glaubens und der Lebens­führung und weltweite Mis­sion. Deshalb kon­nten Chris­ten aus allen möglichen kirch­lichen Hin­ter­grün­den sagen, dass sie «evan­ge­likal» sind. Mein Ein­druck ist, dass die Evan­ge­likalen the­ol­o­gisch auf dem­sel­ben Boden blieben wie die protes­tantis­chen Fun­da­men­tal­is­ten, aber sie fan­den auf diesem Boden the­ol­o­gis­chen Spiel­raum, um in diversen Belan­gen beweglich­er — und ja — “pro­gres­siv­er” — zu sein.

Die Evan­ge­likalen sind keine mar­ginale oder auf die USA begren­zte Bewe­gung, son­dern vere­int über 600 Mil­lio­nen Chris­ten weltweit, über die Gren­zen von Kul­turen oder Haut­farbe hin­weg. Von Anfang an wur­den ver­schiedene Mei­n­un­gen vertreten, zum Beispiel in sozialen und poli­tis­chen Fra­gen. Es war deshalb schon immer schwierig «DEN Evan­ge­likalis­mus» detail­liert zu definieren. Doch es gab von Anfang an einen grösseren Flügel, der ein ganzheitlich­es Ver­ständ­nis des Reich Gottes betonte. In meinem Studi­um am All Nations Col­lege in den 1990-er Jahren waren einige mein­er Pro­fes­soren prä­gende The­olo­gen der evan­ge­likalen Bewe­gung. Dazu gehörte René Padil­la aus Argen­tinien, dessen Unter­richt mich tief geprägt hat, oder John Stott und Chris Wright. Dieses ganzheitliche Ver­ständ­nis des Evan­geli­ums führte dazu, dass heute in vie­len evan­ge­likal geprägten Kirchen The­men wie soziale Gerechtigkeit, Ökonomie und auch Ökolo­gie als Teil des Auf­trags der Kirche gese­hen werden.


All Nations Chris­t­ian Col­lege, ca. 1999, Paul Brud­er­er (3. v. l.) mit René Padil­la (5. v. l.) und weit­eren Stu­den­ten. (Bild: Paul Bruderer)

Die aktuell grösste Sünde: ‘evangelikal’

Hier fängt – ich gebe es zu – mein Frust mit Gushee an. Aber nicht nur mit ihm. Was ich am Beispiel von Gushee beschreibe, ist symp­to­ma­tisch für etwas, was ich zunehmend beobachte: eine Karikierung evan­ge­likaler Chris­ten, welche ein­er Stig­ma­tisierung gleichkommt!

Gushee macht keinen Hehl daraus, dass er im Prinzip von allen christlichen Tra­di­tio­nen ler­nen kann, auss­er von Evan­ge­likalen. Von den Evan­ge­likalen kann Gushee schon etwas ler­nen: Wie man es ja nicht machen soll. Er lässt «Evan­ge­likalen» nicht den Hauch ein­er Chance. Einige Beispiele sollen dies illustrieren.

Evan­ge­likale The­olo­gie soll beispiel­sweise in aller Welt Ver­fol­gung bewirken. Die Iden­tität der Über­set­zer seines Buch­es Chang­ing our mind in die Swahili Sprache müsse geheim gehal­ten wer­den. Der Grund:

Das grosse Lei­den von LGTBQ Men­schen in Afri­ka ist teil­weise verur­sacht durch fun­da­men­tal­is­tis­chen evan­ge­likalen Fanatismus. (Kin­dle Posi­tion 417).

Wenn das wahr ist, müssten Evan­ge­likale die ersten sein, die sich gegen so etwas erheben! Gushee zeich­net evan­ge­likale Pas­toren als unmen­schliche Quäler, weil sie ihre Bibel und The­olo­gie höher als die Men­schen achten:

Erfahrung ist eine der zuver­läs­sig­sten Wege, wie wir Dinge erken­nen… Aber Evan­ge­likale haben die Bibel hochge­hal­ten und die Erfahrung herun­terge­spielt. Dies hat oft katas­trophale Fol­gen in Bezug auf das reale Leben der Men­schen. Ich denke an Pas­toren, die ver­prügelte Eheleute zurück in miss­bräuch­liche Ehen geschickt haben, weil sie mehr auf das hörten, was ihrer Mei­n­ung nach die Bibel sagt anstatt auf die Stimme der­er, die ter­ror­isiert und miss­braucht wur­den. Pas­toren, die miss­braucht­en Kindern sagten, sie müssten sich ihren Eltern unterord­nen anstatt auf die Miss­brauch Erfahrung der Kinder zu hören. Und Pas­toren sagten früher ein­mal, dass Sklaven sich ihren Her­ren unterord­nen müssen. Und ja, Bibel Wis­senschaftler, Pas­toren, Eltern, Lehrer, Fre­unde und über­haupt alle sagten LGTBQ christlichen Teenag­er, dass sie ihre eigene Sex­u­al­ität, Per­son und Lei­den ablehnen müssen. (Kin­dle Posi­tion 1298).

Lange Abschnitte des Buch­es sind in dieser Tonal­ität gehal­ten. Die ange­bliche Unmen­schlichkeit evan­ge­likaler Pas­toren kommt gemäss Gushee unter anderem von ihrer grund­falschen The­olo­gie:

Kein christlich­er Pas­tor kann ein­fach zuschauen, wenn Men­schen sich vom Glauben ent­fer­nen — dem Evan­geli­um, der guten Nachricht, das wir an unser­er Ordi­na­tion weit­erzubrin­gen geloben. Dies ist ins­beson­dere wahr, wenn das, was die Men­schen vertreibt, nicht etwa Jesus ist, son­dern eine beson­ders schädliche Ver­sion des Chris­ten­tum, das sich durchge­set­zt hat gegen das, was Jesus lehrte und lebte. (Kin­dle Posi­tion 768).

Gushee lässt an dem, was er “Evan­ge­likalis­mus” nen­nt, kein einziges gutes Haar ste­hen. Ein Grund für alle diese Prob­leme muss sein, sagt Gushee, dass evan­ge­likale Chris­ten und deren Pas­toren unfähig und eher dumm sind:

Das Prob­lem dort ist jedoch: Viele der pop­ulärsten Leit­er, zu denen Evan­ge­likale sich hinge­zo­gen fühlen, sind… sagen wir, ziem­lich eingeschränkt in ihren Fähigkeit­en. Joel Osteen. Ken­neth Copeland. Paula White. Ich meine, wirk­lich. (Kin­dle Posi­tion 934).

Naja, vielle­icht hat er hier und dort recht… Trotz­dem: die evan­ge­likale Bewe­gung hat einige der fein­sten The­olo­gen unser­er Zeit her­vorge­bracht wie Thomas Schirrma­ch­er und Bil­ly Graham.

Die Wucht, mit der Gushee über eine Bewe­gung herzieht, der ich mich zuge­hörig füh­le, gren­zt manch­mal ans Unerträgliche. Ich fragte mich nach ein­er Weile: Kann das wirk­lich sein? Sind alle Evan­ge­likale so, wie Gushee es sagt?

Mein Ein­druck ist, dass Gushee eine Karikatur zeich­net, und dieser Karikatur das Label «Evan­ge­likalis­mus» auf­drückt. Die Karikatur ist eine undif­feren­zierte Reduk­tion der «evan­ge­likalen Chris­ten­heit» auf die christliche poli­tis­che Rechte, primär in der US-Vari­ante. Zugegeben: Die dor­tige Nähe evan­ge­likaler Expo­nen­ten zur Repub­likanis­chen Partei, bis zur ihrer Koali­tion mit dem aktuellen Präsi­dent Trump, hat es schwierig oder sog­ar unmöglich gemacht, in der Öffentlichkeit die Bre­ite der evan­ge­likalen Bewe­gung zu zeigen.

Gushee’s Prob­leme mit dem «Evan­ge­likalis­mus» fin­gen aber nicht erst mit Trump an, son­dern schon früher und entschei­dend mit Sex­u­alethik. Ab den 1970-er Jahren entwick­elte die west­liche Kul­tur eine wach­sende Offen­heit für sex­u­alethis­che Werte, über die sich die Evan­ge­likalen ziem­lich einig waren, dass sie abzulehnen sind. Diese gesellschaftliche Entwick­lung drängte Evan­ge­likale in eine Offen­heit, ihre Stimme poli­tis­chen Akteuren zu geben, welche ihre sex­u­alethis­chen Werte schützen wür­den. So ent­stand in bes­timmten evan­ge­likalen Quartieren eine Zusam­men­führung von kon­ser­v­a­tiv­en, sex­u­alethis­chen Werten mit rechts ori­en­tiert­er Poli­tik. Nicht alle Evan­ge­likale tat­en dies aus Überzeu­gung. Einige sich­er schon. Für andere Evan­ge­likale war es poli­tis­ch­er Oppor­tunis­mus wegen Man­gel an poli­tis­chen Optio­nen. Ich als Aussen­ste­hen­der dachte 2016 immer wieder: Die Wahl zwis­chen Hillary Clin­ton und Don­ald Trump ist wirk­lich eine unmögliche Wahl. Kein­er der bei­den kom­men in Frage, aber einen der bei­den muss man wählen. Ich bin froh, dass ich keine Entschei­dung tre­f­fen musste.

Während inner­halb der evan­ge­likalen Bewe­gung kon­ser­v­a­tive sex­u­alethis­che Werte ziem­lich ein­heitlich vertreten wer­den, ist das in The­men­bere­ichen von Poli­tik und Gesellschaft nicht so. Evan­ge­likale The­olo­gie kann mit guter Begrün­dung Werte her­vor­brin­gen, welche sowohl poli­tisch eher rechts und gle­ichzeit­ig poli­tisch eher links einzuord­nen sind. Die christliche Rechte ist demzu­folge zwar ein Teil der evan­ge­likalen Bewe­gung, aber – aus mein­er Sicht – nicht repräsen­ta­tiv für die Bewe­gung als Ganzes.

Gushee’s Gle­ichung «Evan­ge­likalis­mus = christliche Rechte» ist in viel­er­lei Weise prob­lema­tisch. So kön­nen auch andere Aus­prä­gun­gen der Chris­ten­heit poli­tisch rechts ori­en­tierte Chris­ten her­vor­brin­gen. Beispiel­sweise ist Trumps ein­stiger recht­spop­ulis­tis­ch­er Wahlstratege Stephen Ban­non ein Katho­lik. Und die katholis­che Sex­u­alethik ist eben­so wenig auf der Lin­ie von Gushee. Gushee müsste also kon­se­quenter­weise auch gegen diverse weit­ere Glauben­stra­di­tio­nen anschreiben. Tut er aber nicht. Para­dox­er­weise erk­lärt uns Gushee, dass er jede Woche die katholis­che Messe besucht (Kin­dle Posi­tion 1046) und von Katho­liken ler­nen kann. Müsste er wegen Leute wie Ban­non und wegen der katholis­chen Sex­u­alethik nicht ein Buch “After Catholi­cism” schreiben?

Gushee’s Gle­ichung «Evan­ge­likalis­mus = christliche Rechte» führt zu weit­eren Missver­ständ­nis­sen und fälschlichen Repräsen­ta­tio­nen. Wenn ich als Christ evan­ge­likaler Prä­gung beispiel­weise gegen Abtrei­bung bin, werde ich auch in anderen Bere­ichen nahezu automa­tisch als poli­tisch rechts ein­ge­ord­net. Der Ver­dacht ist, dass dieselbe the­ol­o­gis­che Posi­tion­ierung, welche zu mein­er Abtrei­bungskri­tik führt, mich auch in anderen Punk­ten ins­ge­heim poli­tisch rechts posi­tion­ieren wird. Dann muss ich doch wohl in irgend ein­er Weise auch nation­al­is­tisch und ras­sis­tisch sein! Was aus einem christlichen Stand­punkt natür­lich unmöglich ist.

Das näch­ste Prob­lem fol­gt auf dem Fuss. Wenn die evan­ge­likalen the­ol­o­gis­chen Grundüberzeu­gun­gen mit allen Übeln der Welt in Verbindung gebracht wer­den, müssen Men­schen, die z.B. vom Ras­sis­mus loskom­men wollen, undif­feren­ziert alle evan­ge­likalen the­ol­o­gis­chen Überzeu­gun­gen über Bord wer­fen. Dieses the­ol­o­gis­che «Kind mit dem Bad auss­chüt­ten» führt zu Mei­n­un­gen, welche meines Eracht­ens sowohl jen­seit­iges wie auch dies­seit­iges Heil sig­nifikant gefährden.

Solche Effek­te gibt es unter anderem, weil Leute wie Gushee «evan­ge­likal» zu ihrem Feind­bild erk­lärt haben. Sie haben die Medi­en gross­mehrheitlich auf ihrer Seite, und sie find­en für ihr Feind­bild dankbare Abnehmer. Man kön­nte meinen, dass «evan­ge­likal sein» aktuell die grösste Sünde ist. Zumin­d­est in gewis­sen Kreisen.

Wenn ich mich der evan­ge­likalen Bewe­gung zuge­hörig füh­le, stellt sich die Frage: Was jet­zt? Wie gehen wir mit diesem Label “evan­ge­likal” um? Das Label ist mir nicht so wichtig. Viel entschei­den­der sind Inhalte, Werte und the­ol­o­gis­che Überzeu­gun­gen, die bis jet­zt damit ver­bun­den wur­den. Das «Label» kön­nten wir meinetwe­gen unge­niert able­gen, die The­olo­gie dür­fen wir – mein­er Mei­n­ung nach – auf keinen Fall able­gen, denn sie ist sehr gut und lebensbejahend!

Ein differenziertes Bild tut Not

Stimmt das Bild, welch­es Gushee von der Mehrheit des “Evan­ge­likalis­mus” in den USA zeich­net? Das kön­nen andere möglicher­weise bess­er beurteilen als ich, bin ich doch kein Amerikan­er. Doch ich glaube, dass ein dif­feren­ziertes Bild auf die evan­ge­likale Bewe­gung als Ganzes Not tut. Einige Ein­blicke dazu aus meinem per­sön­lichen Erleben:

Ich habe amerikanis­che evan­ge­likale Chris­ten ken­nen­gel­ernt, die über­haupt nicht in Gushee’s Bild passen, aber durch und durch “evan­ge­likal” sind. Unter anderem ist da meine geliebte “Rez Band” aus Chica­go. Seit Ende der 1980-er Jahren bin ich einge­fleis­chter Fan von dieser christlichen Hardrock-For­ma­tion. Ihr grif­figer Sound und ihre muti­gen, sozialkri­tis­chen Texte sind der Ham­mer! Rez ist Teil ein­er größeren christlichen Kom­mune, der Jesus Peo­ple USA, die sich seit Jahrzehn­ten durch ihr soziales Engage­ment in den ‘Slums’ von Chica­go ausze­ich­net. Als ich sie besuchte, sah ich, wie gute evan­ge­likale The­olo­gie zu einem Leben der Hingabe an den Schwäch­sten der Gesellschaft führt. Die Jesus Peo­ple nah­men auch grosse per­sön­liche Opfer in Kauf, um den Men­schen so dienen zu kön­nen. Ich sah bei ihnen auch viele Men­schen afrikanis­ch­er Abstam­mung, die ganz in die Gemein­schaft einge­bun­den waren oder deren Zuwen­dung fanden.

Und über­haupt! Wenn die The­olo­gie das Prob­lem ist, das uns Evan­ge­likale zu Mon­stern mutieren lässt, was ist mit meinen Eltern? Inspiri­ert von tra­di­tioneller evan­ge­likaler The­olo­gie und auf­grund ein­er per­sön­lichen Beziehung mit Jesus Chris­tus, dien­ten sie über Jahrzehnte hin­weg Men­schen von aller­hand religiös­er Herkun­ft. Das tat­en sie, als wir in Afri­ka lebten. Sie tun es heute noch in ihrem hohen Alter — hier in der Schweiz. Wer besucht Asyl­suchende und Migranten? Meine Eltern. Wer gibt ihnen unent­geltlich Spra­chunter­richt oder hil­ft ihnen in der Schweiz zurechtzufind­en? Meine Eltern — zusam­men mit anderen Men­schen mein­er Gemeinde.

Meine eigene Gemeinde — ein gutes Stich­wort! Ich bin umgeben von Men­schen mit evan­ge­likaler ‘DNA’, die zum Teil grössere Kar­ri­eren aufgegeben haben, um in müh­samer Kleinar­beit Migranten zu begleit­en, zu lieben, ihnen zu helfen. Leute aus mein­er Gemeinde haben ein Begeg­nungskafé mit­ge­grün­det, in dem Migranten willkom­men geheis­sen wer­den und ihnen Hil­fe ver­mit­telt wird. Und das alles, ohne dass diese Migranten ein­fach als “Bekehrung­sob­jek­te” gese­hen wer­den. Andere aus mein­er Gemeinde haben eine Sozial­fir­ma gegrün­det, in der gut 40 Arbeit­slose eine span­nende Beschäf­ti­gung find­en. Wieder andere haben eine Beratungsstelle für arbeit­slose Jugendliche gegrün­det. Alles Leute, die von ein­er evan­ge­likalen The­olo­gie geprägt und von ihrer Beziehung mit Jesus beseelt sind und sich deshalb den Men­schen unser­er Zeit hingeben.

Ich kämpfe nicht um das Label «Evan­ge­likal», son­dern um die The­olo­gie, die damit ver­bun­den ist. Ich sehe in ihr die Grund­lage, der Beweis, der Men­schen­fre­undlichkeit Gottes, welche in der Bibel so gut beschrieben ist:

Als aber erschien die Fre­undlichkeit und Men­schen­liebe Gottes, unseres Hei­lands, machte er uns selig – nicht um der Werke willen, die wir in Gerechtigkeit getan hät­ten, son­dern nach sein­er Barmherzigkeit – durch das Bad der Wiederge­burt und Erneuerung im Heili­gen Geist, den er über uns reich­lich aus­gegossen hat durch Jesus Chris­tus, unsern Hei­land, damit wir, durch dessen Gnade gerecht gewor­den, Erben seien nach der Hoff­nung auf ewiges Leben. Das ist gewisslich wahr. Darum will ich, dass du fes­t­bleib­st, damit alle, die zum Glauben an Gott gekom­men sind, darauf bedacht sind, sich mit guten Werken her­vorzu­tun. Das ist gut und nüt­zlich für die Men­schen. (Titus 3:4–8)


‘The Friend­ly Tow­ers’, Chica­go, Mitte 1990er, Paul Brud­er­er (rechts) vor dem ehe­ma­li­gen Hotel, welch­es die JPUSA als Wohnge­mein­schaft umgenutzt hat­ten. Bild: Paul Bruderer

Kritische Würdigung

Aus Platz­grün­den ist es kaum möglich, an dieser Stelle eine aus­führliche Auseinan­der­set­zung mit den vie­len (wichti­gen!) The­men zu führen, die Gushee in seinem Buch auf­greift. Vieles davon sehe ich kri­tisch, nicht nur das pauschal­isierte Zeich­nen eines evan­ge­likalen Feind­bildes. Doch ist mir wichtig, wenig­stens zu ver­suchen, Gushee mit der Dif­feren­ziertheit zu behan­deln, die ich bei ihm vermisse:

  • Gushee’s sex­u­alethis­che Lösun­gen überzeu­gen mich sowohl bib­lisch als auch seel­sorg­er­lich über­haupt nicht. Ich habe an anderen Orten schon darüber geschrieben, weshalb das so ist. Gut finde ich hinge­gen, dass er die schwieri­gen Fra­gen offen ausspricht, die ich in meinen Kreisen sel­ten höre. Zum Beispiel die schlichte Frage: Wie gehen wir mit dem grossen zeitlichen Unter­schied zwis­chen sex­ueller Reife junger Men­schen und dem Heirat­salter um?
  • Gushee’s Bibelver­ständ­nis fehlen entschei­dende his­torische Ele­mente. Er legt die Autorität der Bibel ganz in die Gemein­schaft der Chris­ten. Gemäss dieser Sicht ist es dann kein Prob­lem, wenn die Chris­ten heute die Dinge anders sehen. Sie kön­nen dann vieles an der Bibel ändern. Mein Ver­ständ­nis ist, dass die ersten Chris­ten die Autorität Gottes in bes­timmten Schriften fan­den, anstatt bes­timmten Schriften Autorität zu geben. Das ist ein wichtiger Unter­schied mit weitre­ichen­den Auswirkun­gen. Gushee stellt auch beim Bibelver­ständ­nis viele gute und wichtige Fra­gen, die ich aber ganz anders lösen würde. So endet Gushee’s Ansatz in einem wenig hil­fre­ichen, selek­tiv­en Umgang mit der Bibel.
  • Seinem Bibelver­ständ­nis entsprechend agiert Gushee Jesus gegenüber. Hier gebe ich Gushee mehr Zus­pruch. Das Bild von Jesus, das viele Chris­ten (egal welch­er Affir­ma­tion) haben, ist der­massen “ver­süsslicht” (neue Wortschöp­fung), dass man sich fragt, ob sie über­haupt in ihrer Bibel lesen. Und “weiss mit blonden Haaren” war Jesus gewiss nicht. Jesus ver­spricht uns auch nicht per­sön­lichen Erfolg. Gushee kor­rigiert da manche Fehler. Die Reich-Gottes-Ethik von Jesus, die Gushee zeich­net, hat wichtige Ele­mente drin. Doch Gushee lan­det ten­den­ziell bei einem dies­seit­i­gen Jesus. Ob sein Jesus das Jen­seits über­haupt noch im Blick hat?
  • Gushee’s erken­nt­nis­the­o­retis­chen Ansätze, grün­den vor allem auf men­schliche Erfahrung: andere christliche Tra­di­tio­nen (selb­stver­ständlich abge­se­hen der evan­ge­likalen Tra­di­tion), Ver­stand, Intu­ition, Beziehun­gen, Gemein­schaft, Kun­st, Wis­senschaft. Ich bin ein­ver­standen, dass diese Quellen von Infor­ma­tion ein Teil unser­er Erken­nt­nis­prozesse bilden. Auch evan­ge­likale The­olo­gie, welche in der göt­tlichen Offen­barung der Bibel höch­ste Autorität sieht, muss irgend­wo «im Men­sch lan­den». Bei Gushee scheint die let­zte Autorität jedoch im Men­schen selb­st verortet zu sein. Deshalb frage ich mich, ob sein “christlich­er Human­is­mus” genug belast­bar ist, wenn wider­sprüch­liche men­schliche Forderun­gen im Raum stehen.

Gushee muss aber auch für einige gute und span­nende Ele­mente gewürdigt wer­den. Ein­er der pos­i­tiv­en Aspek­te ist, dass Gushee ern­sthaft bemüht scheint, Men­schen nach ihrer Glaubens­dekon­struk­tion einen Weg zu weisen. In einem unser­er aktuellen Artikel beklagt Ian Har­ber , wie das “pro­gres­sive Chris­ten­tum” ihn in eine Dekon­struk­tion lock­te, aber keine Mit­tel lieferte, um einen neuen Glauben zu rekon­stru­ieren. Ich selb­st kenne etliche Men­schen, die den Glauben ver­loren haben, und jet­zt vor dem Nichts ste­hen. Keine neuen, oder anderen Gewis­sheit­en oder Ein­sicht­en sind ent­standen. Ihre weltan­schauliche Ori­en­tierung wurde vor allem kaputt gemacht, ohne dass neue Ori­en­tierung hineinkam.

Gushee bege­ht diesen Fehler nicht, und das ver­di­ent eine Würdi­gung. Mit seinem Buch leis­tet er einen Beitrag dazu, wie eine ‘Rekon­struk­tion’ des Glaubens von Men­schen ausse­hen kön­nte, die nicht mehr “evan­ge­likal” sein wollen. Bis auf einzelne Aspek­te halte ich das, WAS er uns vor Augen malt, zwar nicht für gut, gesund und richtig. Aber: Er lässt die Men­schen nicht fall­en. Mit Gushee stellt sich jemand der Auf­gabe, einen Weg vor­wärts zu zeich­nen. Gushee beze­ich­net sich sog­ar selb­st als Hirte für die ori­en­tierungslosen, pro­gres­siv­en Schafe:

Ich füh­le eine tiefe Ver­ant­wor­tung, dieser wach­senden Gruppe von Exil Evan­ge­likalen einen Weg vor­wärts aufzuzeigen… Meine erste Beru­fung mit 17 Jahren war es, christlich­er Pas­tor zu wer­den… Dieses Buch ist Aus­druck dieser Beru­fung. Ich füh­le mich berufen zu helfen, die ver­lore­nen Schafe des Poste­van­ge­likalis­mus zu wei­den… viele von ihnen gebroch­enen Herzens, wütend und ent­fremdet von ihren Kirchen, Fam­i­lien und Gott. Dieses Buch ist für sie. (Kin­dle Posi­tion 443, Her­vorhe­bung des Autors)

Der möglicher­weise wichtig­ste und reale Beitrag von Gushee ist die Offen­le­gung der his­torischen Momente in den let­zten zwei Jahrhun­derten, in denen der “US-Evan­ge­likalis­mus” es ver­säumt hat, auf sein sozialkri­tis­ches Ele­ment zu hören und sich von Ras­sis­mus zu dis­tanzieren (Kap. 9). Die grossen Erweck­un­gen im Ameri­ka des 18. und 19. Jahrhun­derts führten nach Gushee nicht zu den nöti­gen Mass­nah­men gegen Ras­sis­mus. Im Gegen­teil — weisse Evan­ge­likale vertei­digten mit ihrer Dok­trin ihren Ras­sis­mus weit­er. Gushee iden­ti­fiziert in aller Kon­se­quenz die Ursache dafür, indem er Eboni Mar­shall zitiert:

Das weisse, amerikanis­che Chris­ten­tum wurde in der Irrlehre geboren. (Kin­dle Posi­tion 3162)

Damit meint Gushee Irrlehren, die er im europäis­chen Spanien und Por­tu­gal aus dem 15. Jahrhun­dert sieht, und die von den Kolo­nialmächt­en in den Rest der Welt exportiert wor­den seien. Das Kapi­tel 9 ist ein­drück­lich und prophetisch. Ras­sis­mus ist in den USA ein gross­es The­ma, das wis­sen alle spätestens seit “Black Lives Mat­ter”. Bei uns wird Ras­sis­mus weniger disku­tiert, möglicher­weise zu Unrecht. Das Kapi­tel 9 von After Evan­gel­i­cal­ism soll­ten wir gründlich an uns her­an­lassen — auch als Evangelikale.

Christlicher Humanismus?

Was ist denn das «neue Chris­ten­tum», in das Gushee uns begleit­en will? Er nen­nt es «christlich­er Human­is­mus». Evan­ge­likale Chris­ten soll­ten nicht vorschnell neg­a­tiv auf das Wort «Human­is­mus» reagieren. Man muss immer schauen, was damit gemeint ist. Gushee’s Inspi­ra­tion zum “christlichen Human­is­mus” ist nie­mand geringer als Eras­mus von Rother­dam. Eras­mus war anfänglich ein Sup­port­er von Mar­tin Luthers Ref­or­ma­tion, mutierte aber zu einem sein­er wichtig­sten Kri­tik­er. Von Eras­mus inspiri­ert, sieht Gushee ein auf den Men­schen aus­gerichtetes Chris­ten­tum, welch­es fol­gende Eigen­schaften haben soll (lose zitiert ab Kin­dle Posi­tion 1429):

  • Es ist gegrün­det auf ein­er gemein­samen Menschlichkeit
  • Es ist hoff­nungsvoll über das Poten­tial der Men­schen und real­is­tisch über ihre Sündhaftigkeit
  • Es ist respek­tvoll gegenüber all­ge­mein­er men­schlich­er intellek­tueller Wahrheitssuche
  • Es ist entschlossen, den freien Willen der Men­schen zu respek­tieren (inkl. Gewissensfreiheit)
  • Es hat das ganzheitliche Heil aller Men­schen schon im irdis­chen Leben im Blick und nicht nur nach dem Tod (ich kann es mir nicht verkneifen, hier ein zutief­st evan­ge­likales Anliegen zu sehen)
  • Es sucht gemein­same erar­beit­ete Friedensmöglichkeiten
  • Es ist ein Chris­ten­tum, das primär für die Men­schen und die Schöp­fung kämpft anstatt für the­ol­o­gis­che Kor­rek­theit und eigene Inter­essen. (sagt Gushee mit­ten in einem Buch, in dem er zutief­st the­ol­o­gisch zu arbeitet…)

Das klingt alles inter­es­sant und gut. Lei­der fehlt das Fleisch am Knochen und der Teufel steckt bekan­ntlich im Detail. Gushee führt zu wenig aus, was dieser «christliche Human­is­mus» konkreter ist und wie die Verbindung zu Eras­mus aussieht. Eras­mus soll sich tat­säch­lich mehr für den Frieden einge­set­zt haben als Luther. Meine Frage ist, ob die the­ol­o­gis­chen Grund­la­gen von Eras­mus wirk­lich seine Art von Friedens­be­mühun­gen tra­gen kon­nten. Ich sehe dies­bezüglich in der evan­ge­likalen The­olo­gie wichtige Grund­la­gen für gewalt­lose Fein­desliebe.

Die Wahl von Eras­mus anstatt Luther passt zu Gushee’s Grund­pa­ra­me­ter, denn gemäss Gushee, set­zte Luther Reli­gion über den Men­schen, was zu Gewalt führte. Eras­mus soll hinge­gen den Men­sch über die Reli­gion geset­zt haben, was zu Frieden hätte führen kön­nen. Per­sön­lich möchte ich eine dritte Option sehen, welche der Bibel einen pri­or­itären Rang gibt und wir DESHALB die Men­schen­fre­undlichkeit Gottes erleben.

“Wenn der West­en nur Eras­mus gefol­gt wäre anstatt Luther!” – höre ich Gushee denken! Das ist tat­säch­lich ein inter­es­san­ter Gedanke. Was wäre passiert? Wäre auch die ange­bliche the­ol­o­gis­che Irrlehre des “Evan­ge­likalis­mus”, welche in Europa seine Wurzeln hat und “die USA dem Ras­sis­mus ver­fall­en liess”, nicht passiert?

Wenig­stens im Ansatz wäre dieser «christliche Human­is­mus» eine Alter­na­tive zum «säku­laren Human­is­mus». Die im Buch aufge­führten Aus­sagen geben (wie schon gesagt) lei­der wenig inhaltliche Sub­stanz. Eins scheint mir jedoch klar. Gushee löste sich 2017 öffentlich vom «Evan­ge­likalis­mus». Er begrün­dete seinen Schritt mit unüber­brück­baren the­ol­o­gis­chen Dif­feren­zen. Gemeint waren ins­beson­dere die Dif­feren­zen in sex­u­alethis­chen The­men. Es ist deshalb zu ver­muten, dass Gushee’s Vari­ante von «christlichem Human­is­mus» immense und unüber­brück­bare Unter­schiede haben wird zu allem, was Ähn­lichkeit hat mit sein­er Sicht von «Evan­ge­likalis­mus». Aber auch ganz grund­sät­zliche Unter­schiede zum his­torischen christlichen Glauben, wie er von Chris­ten aller Gen­er­a­tio­nen gelebt wurde — auch fernab der kirchengeschichtlich noch jun­gen Bewe­gung des «Evan­ge­likalis­mus».

Fazit

Vielle­icht gelingt es Gushee irgend­wann, trotz seinem biografis­chen Bruch, die vorhan­dene Bre­ite inner­halb der evan­ge­likalen Bewe­gung zu erken­nen und in dieser Hin­sicht zu ein­er dif­feren­ziert­eren Hal­tung zu find­en. Das würde ich mir wün­schen! Denn er läuft mit sein­er ein­seit­i­gen Zeich­nung die Gefahr, sich genau dessen schuldig zu machen, was er eigentlich aus­merzen möchte: die ungerechte Aus­gren­zung und Stig­ma­tisierung von Men­schen. Zwis­chen­zeitlich lässt er «uns Evan­ge­likale» mit der Frage zurück, wie wir weit­er mit dem Label «evan­ge­likal» umge­hen sollen. Was Gushee nicht ver­hin­dern kann, ist, dass wir weit­er uner­müdlich und gerne für Gottes umfassendes, ganzheitlich­es Reich leben, welch­es wir lieben und über dessen Zunahme in aller Welt Fre­undlichkeit und Men­schen­liebe beinhaltet!

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Bilder: Peter Bruderer

13 Comments
  1. Ron K. 3 Jahren ago
    Reply

    Danke für die Rezen­sion. Sehr hilfreich. 

    Kannst Du vielle­icht erläutern, weshalb Gushee Joel Osteen, Ken­neth Copeland u. Paula White als Evan­ge­likale ein­stuft? Ich wäre nie darauf gekom­men, sie zu den Evan­ge­likalen zu zählen, obwohl ich den Begriff sehr gedehnt verwende. 

    Danke!

    Liebe Grüße, Ron

  2. Paul Bruderer 3 Jahren ago
    Reply

    Ur-Evan­ge­likaler John Piper hat vor weni­gen Stun­den eine beis­sende Kri­tik gelandet an Trump und an Chris­ten, die dessen Charak­ter­schwächen überse­hen: https://www.desiringgod.org/…/poli­cies-per­sons-and…
    Man fragt sich, warum Piper so lange brauchte, um diesen Text zu schreiben. Er selb­st stellt sich dieser Frage. Bes­timmt wird er dafür Kri­tik ern­ten. Nichts desto trotz scheint sein Gewis­sen mit ihm aufge­holt zu haben. Sein Post zeigt, dass der Ein­druck, weisse Evan­ge­likale seien defak­to Trump­is­ten, nicht die Real­ität reflek­tiert in den USA.

    Pipers Kri­tik geht ans Herz der Kyros These. Diese besagt im Prinzip: Egal wie der Glaube und Charak­ter eines Leit­ers oder Präsi­den­ten ist, entschei­dend ist welche Poli­tik und Werte er in den Geset­zen etabliert. Kyros war ein per­sis­ch­er Herrsch­er, der zwar nicht gläu­big war, jedoch den Juden in seinem Reich wohl­gesin­nt war und ihnen half. Diese Episode haben Evan­ge­likale als Mod­ell gese­hen für den Umgang mit Trump, der zwar einige Geset­ze erlassen hat, die christlich sind, aber als Per­son charak­ter­lich alles andere als christlich lebt (selb­st wenn er sich selb­st als ‘Christ’ sieht). 

    Piper entzieht dem Kyros-Mod­ell den Boden unter den Füssen, indem er sagt, dass Charak­ter­schwächen in Leit­ern genau­so destruk­tiv, gefährlich sind wie schlechte ‘pol­i­cy’ (Geset­ze), und dass gute Geset­ze die zer­störerische Wirkung von Charak­ter­sün­den von Leit­er und Präsi­den­ten nicht aufheben. Konkret nen­nt Piper fol­gende Sünden:
    — unbuss­fer­tige sex­uelle Unmoral
    — unbuss­fer­tiges Prahlen
    — unbuss­fer­tige Vulgarität
    — unbuss­fer­tiger Parteigeist
    Solche Sün­den im Präsi­den­ten seien ‘tox­isch’ für die Nation, und wür­den das Land zerstören.

    Diese Analyse lässt Piper wenige Option in der Präsi­den­ten­wahl am 3. Novem­ber: «Ich werde keine Berech­nun­gen anstellen, welchen Pfad in die Zer­störung ich wählen werde».

    Er ermah­nt Pas­toren, sich zu fra­gen, welch­es Evan­geli­um sie in den ver­gan­genen Jahrzehn­ten gepredigt haben: Haben eure Predigten radikale Chris­ten her­vorge­bracht? Chris­ten, welche die einzi­gar­tige grösste Schön­heit des Sohnes Gottes erken­nen? Chris­ten, die den Raub ihrer Güter mit Freuden erduldet haben, weil sie wis­sen, dass sie eine bessere, ewige Heimat haben? (Hebräer 10,34) Oder habt ihr diese Real­itäten aus­ge­blendet und nur noch dies­seit­ige poli­tis­che Strate­gie auf dem Radar, welche darauf aus­gerichtet sind, das eige­nen Land zu ret­ten und das irdis­che Leben angenehmer zu machen?

  3. Brink4u 3 Jahren ago
    Reply

    Evan­ge­likale

    Ja, diese Leute beanspruchen ein Fun­da­ment zu haben
    Nein, diese Leute sind keine „Fun­da­men­tal­is­ten“ im landläu­fi­gen Sinn und tra­gen auch keinen Sprengstof­fgür­tel (wed­er im All­t­ag noch am Sonntag) …

    Son­dern diese Leute sind, wenn auch the­ol­o­gisch kon­ser­v­a­tiv, aus­ge­sproch­ene Vertei­di­ger der demokratisch-frei­heitlichen Grun­dord­nung und der „alten Tol­er­anz“, die dafür ein­tritt, dass jed­er­mann das (aus ihrer Sicht) Falsche glauben darf …

    Bei manchen Fra­gen find­en sie sich auf der linken, mal auf der anderen Seite des poli­tis­chen Spek­trums wieder … – und sog­ar darüber sind sie sich nicht einig 😉

    Schalom
    Uwe

    • Paul Bruderer 3 Jahren ago
      Reply

      Danke Brink4U! Ich kön­nte es in kein­er Weise bess­er formulieren!
      Unsere Gesellschaft braucht eine weltan­schauliche Grundwelche, welche eben die Frei­heit­en möglich macht, welche du nennest. Die finde ich Klasse! Wer diese Grund­lage desta­bil­isiert oder unter­wan­dert. Darum aus mein­er Sicht: die Pro­gres­siv­en sägen am eige­nen (weltan­schaulichen) Ast.

  4. Peter Bruderer 3 Jahren ago
    Reply

    Danke Paul für diesen super Artikel. Die trau­rige Todesmeldung eines mein­er Face­book-Kon­tak­te (Jay Schwartzen­dru­ber) in den USA gibt einen erhel­len­den Ein­blick in ein evan­ge­likales Ameri­ka fernab der aktuellen Schubladisierungen:

    “In the ear­ly 2000s, con­cerned about the AIDS cri­sis, Swartzen­dru­ber came to Pea­cock with an idea. Bono, the lead singer of the famed rock band U2, was com­ing to the Unit­ed States to meet with evan­gel­i­cal lead­ers and Pres­i­dent George W. Bush, to urge them to take action to fight AIDS. What if they invit­ed Bono to come to Nashville and meet with Chris­t­ian artists to get them involved?”

    Ein inter­es­san­ter Ein­blick, wo auf Ini­tia­tive eines evan­ge­likalen Mei­n­ungs­mach­ers in der christlichen Musikin­dus­trie (CCM) ein ten­den­tiell lib­eraler Rock­star (Bono) mit einem repub­likanis­chen Präsi­den­ten (Busch Jr.) zusam­men­gracht wurde, um die US-Chris­ten­heit im weltweit­en Kampf gegen Aids zu mobil­isieren. Die daraus ent­standene Aktion wurde fak­tisch geschlossen von den christlichen Top­Kün­stlern der dama­li­gen Zeit unter­stützt (DC-Talk, News­boys, Third Day etc). Jaja, diese ‘bösen’ Evangelikalen…

    https://religionnews.com/2020/10/14/former-ccm-editor-and-christian-music-publicist-jay-swartzendruber-dies-at-52/

    • Paul Bruderer 3 Jahren ago
      Reply

      Danke! ein schönes Beispiel! Gut gibt es solche Leute!!! Er ist früh gestorben…

  5. Remy Hangartner 3 Jahren ago
    Reply

    Danke Paul! Sehr span­nen­der Beitrag. Werde das Buch noch lesen trotz deinem sehr gelun­genen Über­flug. Ich schätze deine dif­feren­zierte, würdi­gende Schreib­weise. Lg Remy

    • Paul Bruderer 3 Jahren ago
      Reply

      Vie­len Dank!

  6. Joscheba 3 Jahren ago
    Reply

    Hal­lo Paul, ich finde es gut, auch die evan­ge­likale Kirche zu vertei­di­gen und auf gute Seit­en hinzuweisen. Ich per­sön­lich habe dieses Buch zwar nicht gele­sen, aber kann die Kri­tik ver­ste­hen! Ich schäme mich auch des öfteren, evan­ge­likal zu sein. Ich war auch selb­st bei den Jesus peo­ple in chica­go. Sie machen sich­er viele gute Dinge. Als ich über sex­uellen Miss­brauch in Kom­men las, dachte ich mir: bei den jesus peo­ple wäre das auch leicht möglich. Ich googlete und siehe da:https://www.patheos.com/blogs/slowchurch/2014/03/01/jpusa-a-tragic-history-of-sexual-abuse/ und https://www.christianitytoday.com/news/2014/february/dozens-of-children-abused-at-evangelical-jpusa-jesus-people.html Es gibt eine Doku­men­ta­tion. Einige, der darin vork­om­menden Leute habe ich bei Jpusa getrof­fen. Ich war schock­iert, aber nicht ver­wun­dert! Ger­ade solche Dinge machen Neg­a­tivschlagzeilen und malen das Bild (lei­der oft zu recht). Ja man sollte nicht alles über einen Kamm scheren und auch die pos­ti­tiv­en Seit­en sehen. Aber Busse und Umkehr ist mein­er Mei­n­ung nach in manchen Bere­ichen ange­sagt, anstatt zu sagen: aber so schlimm sind wir doch gar nicht! Zum Glück hänge ich nicht dem Evan­ge­likalis­mus son­dern der Per­son Jesus an!

    • Paul Bruderer 3 Jahren ago
      Reply

      Danke Josche­ba — ich hat­te auch davon gehört. Ich denke, dass sie auch viele Men­schen mit Her­aus­forderun­gen aufgenom­men haben. Da macht man sich vul­ner­a­bel. Ich sage das nicht als Ausrede, son­dern als Fest­stel­lung. Ich gehe all­ge­mein davon aus, dass in allen Reli­gion­s­ge­mein­schaften (christliche wie auch nicht-christliche) solche Dinge geschehen und auch in säku­laren Organ­i­sa­tio­nen. Wieder: nicht als Ausrede zu ver­ste­hen, denn solche Dinge dür­fen ein­fach nicht passieren. Ich bin sehr dankbar, bish­er davon ver­schont gewe­sen zu sein.

  7. Danke für die dif­feren­zierte und per­sön­liche Rezen­sion und Auseinan­der­set­zung. Ich habe das Buch vor ein paar Wochen (quer)gelesen und kam zu ähn­lichen Schlüssen wie du. Anliegen, Analyse & Kri­tik (teils) = pos­i­tiv. Lösung = mangelhaft.
    Ich denke, dass er wirk­lich stark aus ein­er amerikanisch-evan­ge­likalen Sicht schreibt. Auch wenn die ein­seit­ig ist (nation­al & inter­na­tion­al), scheint die Anfrage an dieses Label aus der aktuellen Sit­u­a­tion je länger je mehr berechtigt. Das Label hat ja, wie du selb­st in deinem kurzen Abriss schreib­st, bere­its x‑mal eine etwas andere Couleur bekom­men (auch schon vor 1950).
    Hil­fre­ich fand ich die Sicht zB von Mars­den (Kaoi­tel 1) in https://www.amazon.de/Evangelicals-They-Have-Been-Could/dp/0802876951 (inter­es­santes Buch!), indem er die the­ol­o­gis­chen Säulen „des“ Evan­ge­likalis­mus von den Gruppierungen/Organisationen etc unter­schei­det. Es hil­ft zu ver­ste­hen in welch­er Weise jemand auf Evan­ge­likale Bezug nimmt — ohne diese Unter­schei­dung gibt es oft Missver­ständ­nisse. Daher ver­ste­he ich deine Kri­tik, aber es scheint mir, dass Gushee nicht primär auf diese „Säulen“ (die noch sehr bre­it wären), son­dern auf die spez­i­fis­chen (aktuell-amerikanis­chen) Aus­prä­gun­gen Bezug nimmt. Diese Unter­schei­dung ist zwar hil­fre­ich, aber die Zeit wird wohl zeigen, ob das Label „evan­ge­likal“ noch zu ret­ten sein wird…

    • Paul Bruderer 3 Jahren ago
      Reply

      Thx Michi. Werde Mars­den gerne lesen. Schön benutzt du den Begriff ‘Säulen’ 😉
      Ich bin froh, dass wir nicht ein ‘Label’ ret­ten müssen. Aber Sprache bleibt wichtig und die Frage ist, wom­it man das Label erset­zen würde. Vorschläge?

      • haha… Säulen hab ich natür­lich nur wegen euch gebraucht ;). Damit meinte ich den „Beb­bing­ton quadrilateral“.
        Nein, bei neuen Labels bin ich noch nicht…
        (Hoffe, dass da noch was zu ret­ten ist und pos­i­tive Neuin­ter­pre­ta­tio­nen möglich sind — wie schon in der Ver­gan­gen­heit). Aber wäre natür­lich auch mal eine span­nende Diskus­sion welche „Inter­pre­ta­tion“ oder Fül­lung von evan­ge­likal ihr auf Daniel Option haupt­säch­lich bedi­ent 🙂. Aber das gern mal live, per zoom oder so.

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