Organspende – Ein Akt aus Nächstenliebe?

Lesezeit: 11 Minuten
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by Claudia Buchert | 03. Jan. 2022 | 1 comment

Aktuell wird das Organ-Trans­plan­ta­tion­s­ge­setz in der Schweiz über­ar­beit­et, weil zu wenig Organe gespendet wer­den und deswe­gen jährlich Men­schen ster­ben. Eine Geset­zesän­derung soll dem abhelfen, diese wirft jedoch Fra­gen auf.

Wer nach seinem Tod keine Organe spenden will, soll dies gemäss einem geplanten neuen Schweiz­er Gesetz fes­thal­ten müssen. Wer dies nicht tut, wird automa­tisch zum Organspender. So sieht es die soge­nan­nte Wider­spruch­slö­sung vor, die das Par­la­ment und der Bun­desrat ein­führen will. Dage­gen wurde ein Ref­er­en­dum ergrif­f­en, dessen Unter­schriften­samm­lung am 20.01.2022 endet. Zum aus­führlichen Geset­zes­text ver­weise ich auf die offiziellen Seit­en des Bun­de­samtes für Gesund­heit Seit­en des Bun­de­samtes für Gesund­heit oder des Ref­er­en­dum­skomi­tees.

Mein Artikel erhebt keinen Anspruch auf Voll­ständigkeit. Ich will die Leser wed­er für noch gegen eine Organspende überzeu­gen, son­dern ein­laden, sich über die Organspende Gedanken zu machen, um schliesslich zu ein­er per­sön­lichen Entschei­dung zu find­en. Ich empfehle jedoch den stimm­berechti­gen Per­so­n­en der Schweiz, das Ref­er­en­dum zu unter­schreiben, damit das neue Gesetz nicht vom Par­la­ment im Allein­gang einge­führt wird, son­dern dem Volk zur Abstim­mung vorgelegt wird. Es ist wichtig sich mit diesem The­ma zu beschäfti­gen, das let­ztlich jeden Ein­wohn­er irgend­wann betr­e­f­fen wird. Meine Beschäf­ti­gung fand ins­beson­dere im Rah­men mein­er Arbeit im Fach Ethik am ISTL (Inter­na­tion­al Sem­i­nary of The­ol­o­gy and Lead­er­ship) in Zürich statt.

Szenario 1: Ivana lebt mit einem Spenderherz

Ivana kommt mit einem irrop­er­a­blen Herzfehler zu Welt. Bevor das Mäd­chen ihren ersten Geburt­stag feiert, ret­tet eine Not­op­er­a­tion ihr Leben. Nur mit einem Spender­herz hat sie reelle Über­leben­schan­cen. So kommt Ivana auf eine Organempfänger-Warteliste für Kinder. Auf dieser Liste ste­hen alle totkranken Kinder, die auf ein geeignetes Spenderor­gan warten. Einige Kinder ster­ben, bevor sie ein geeignetes Organ erhalten.

In Ivanas Fall ste­ht das Glück auf ihrer Seite. Nach zwei Jahren Wartezeit voller Hof­fen und Ban­gen erhält sie ein neues Herz. Irgend­wo in Europa entsch­ieden sich Eltern eines ver­stor­be­nen Kleinkindes, dessen Herzchen zu spenden. Irgend­wo tröstete der Gedanke die trauern­den Eltern, dass das Herzchen im Kör­p­er eines anderen Kindes weit­er­schla­gen darf. Wie wird Ivana später mit dem Gedanken umge­hen, dass sie mit dem Herz eines ver­stor­be­nen Kindes lebt? 

Hin­weis: Bei Organspenden im Kinde­salter soll­ten Empfänger und Spender in etwa gle­ich alt sein. 

Szenario 2: Ausgeschlachtet, Die menschliche Leiche als Rohstoff

Das Buch von Mar­ti­na Keller beschreibt wie Anna, 90 Jahre alt tot in ihrer Woh­nung aufge­fun­den wird (Keller, Seit­en 15–19). Um Annas Todesur­sache und ‑Zeit­punkt festzustellen, wird ihr Leich­nam ins Insti­tut für Rechtsmedi­zin über­führt. Bei den Ange­höri­gen wird das Ein­ver­ständ­nis für eine Zellen- und Gewe­beent­nahme tele­fonisch einge­holt. Nach ein­er kurzen Befra­gung zum Gesund­heit­szu­s­tand der Ver­stor­be­nen ste­ht ein­er Ent­nahme nichts mehr im Wege.

Auf­grund des Alters und des Zus­tandes der Leiche kön­nen lediglich die Röhren­knochen der Extrem­itäten sowie einige Knochen­stücke aus dem Beck­enkamm ent­nom­men wer­den. Anschliessend wer­den mit­tels zurecht­geschnit­ten­er Rund­hölz­er Annas Beine und Arme wieder rekon­stru­iert, damit der Leich­nam wieder ein men­schlich­es Ausse­hen erhält.

Das ent­nommene Mate­r­i­al von Anna’s Kör­p­er kommt in Tüten ver­packt und beschriftet in den Tiefküh­ler. Regelmäs­sig wird der Inhalt des Küh­lers zur Weit­er­ver­ar­beitung an eine Biotech-Fir­ma spediert. Die men­schlichen Rohstoffe wer­den als Medika­mente, Impf­stoffe, in der ästhetis­chen Chirurgie, als Knochen-Implan­tate (z.B. Kiefer­orthopädie oder nach Ampu­ta­tion etc.) oder als Ersatz von Kni­escheiben, Meniskus und Achil­lessehnen einge­set­zt (Keller, Seit­en 20–35).

Hin­weis: Bei Leich­na­men von jün­geren Men­schen kön­nen gemäss Swis­strans­plant Sehnen, Bän­der, Blut­ge­fässe, Knor­pel, Haut, Faszien, Augen­horn­häute, Hirn­häute und Herzk­lap­pen etc. ent­nom­men wer­den. Gemäss dem lau­t­en­den schweiz­erischen Trans­plan­ta­tion­s­ge­setz dür­fen Organe, Gewebe und Zellen bei leben­den und toten Per­so­n­en ent­nom­men werden.

Szenario 3: Ein Narkosearzt erzählt 

Ein Narkosearzt hat mir per­sön­lich von seinen Erfahrun­gen erzählt. Ein 45jähriger Mann, nen­nen wir ihn Erwin, wird schw­erver­let­zt ins Spi­tal ein­geliefert. Erwin hat zeit seines Lebens ein­er Organspende zuges­timmt und seine Ange­höri­gen über seinen Willen informiert. Erwins Hirn­tod tritt nach erfol­glos­er Rean­i­ma­tion rasch ein. Um eine Organ­schädi­gung zu ver­hin­dern, bekommt er bis zur Orga­nent­nahme kreis­lauf­sta­bil­isierende Massnahmen.

Jet­zt muss alles schnell gehen: Mit­tels Blut- und Gewe­beprobe­n­analyse kön­nen passende Empfänger auf der Organ­warteliste gefun­den wer­den. In der verbleiben­den kurzen Zeit dür­fen die Ange­höri­gen von Erwin Abschied nehmen. Erwin sieht noch gar nicht tot aus, eher so, als würde er schlafen.

In diesem Zus­tand wird Erwin in den Oper­a­tionssaal geschoben, wo seine Organe ent­nom­men wer­den. Die Oper­a­tion ver­läuft anfangs unter Narkose, bis die blut- und sauer­stof­fver­sor­gen­den zuführen­den Blut­ge­fässe kurz vor der Herzent­nahme abgek­lemmt wer­den. Dann kann die Narkose been­det wer­den. Bevor Erwins Leich­nam den Oper­a­tionssaal ver­lässt, wird sein Bauchraum mit Gaze gefüllt. Für den Narkosearzt kein leichter Tag: er hat einen Patien­ten ver­loren. 

Hin­weis: Nicht alle Organe von Erwin find­en in der Schweiz einen passenden Empfänger, einige wer­den per Hub­schrauber ins Aus­land geflo­gen. Erwins Herz, die Lun­gen­flügel, bei­de Nieren, die Bauch­spe­ichel­drüse, Teile des Dün­ndarms und bei­de Augen kön­nen wiederver­wen­det wer­den. Dank Erwins Spende leben fünf bis sieben Men­schen weit­er. 

Fakten und Zahlen

Im Jahr 2020 erhiel­ten 519 Men­schen in der Schweiz ein oder mehrere Organe, inkl. Lebend­spenden. Für Lebend­spenden kom­men aktuell Nieren und Teile der Leber in Frage. Ende 2020 warteten noch 1457 totkranke Men­schen auf ein Spenderor­gan. 72 star­ben vor ein­er möglichen Trans­plan­ta­tion. 45 Herzen, 44 Lun­gen, 135 Lebern und 296 Nieren kon­nten 2020 trans­plantiert wer­den. Lediglich 11% der ver­stor­be­nen Spender waren im Besitz eines Spender­ausweis­es, in allen anderen Fällen gaben die Ange­höri­gen ihre Ein­willi­gung für die Orga­nent­nahme. Die Quelle für diese Angaben ist Swis­strans­plant.

Ca 80–85% der trans­plantierten Kinder leben mit einem neuen Organ weit­er. 5–8 Herzen eben­so viele Lebern und 10–12 Nieren erhal­ten in der Schweiz jährlich einen neuen Besitzer. Die Über­leben­schan­cen nach 10 Jahren liegt bei einem Schnitt von 60–65%. 

Einige Per­so­n­en leben schon seit 30 Jahren mit einem neuen Herzen. Bei gün­sti­gen Voraus­set­zun­gen kön­nen sog­ar Zweit- oder Dritt­trans­plan­ta­tio­nen durchge­führt wer­den. 

Wann ist ein Mensch tot?

Der Zeit­punkt des Todes wird in der Schweiz mit­tels medi­zinisch-ethis­chen Richtlin­ien fest­gestellt, die durch die Schweiz­erische Akademie der Medi­zinis­chen Wis­senschaften (SAMW) erar­beit­et sind. Dabei ist das Vorge­hen bis zur Todes­fest­stel­lzeit klar fest­gelegt. Grund­sät­zlich wird zwis­chen primären und sekundären Hirn­tod unter­schieden. Die Def­i­n­i­tion des primären Hirn­todes lautet:

Voll­ständi­ger oder irre­versibler Funk­tion­saus­fall des Hirnes sowie des Hirn­stammes durch primäre Hirn­schädi­gung oder ‑erkrankung. (Pas­cal Hofer, Das Recht der Trans­plan­ta­tion­s­medi­zin in der Schweiz, Seit­en 69–73)

Im Unter­schied dazu spricht man vom sekundären Hirn­tod, wenn ein anhal­tender Herz- und Kreis­lauf­still­stand die Durch­blu­tung des Gehirns so lange unter­bricht, oder im Falle von Rean­i­ma­tion­s­mass­nah­men beein­trächtigt, bis der irre­versible Funk­tion­saus­fall des Hirns und Hirn­stammes und damit der Tod einge­treten ist, so Hofer.

Diese Art, den Zeit­punkt des Todes festzustellen, ist nicht unprob­lema­tisch, wie der Pro­fes­sor für sys­tem­a­tis­che The­olo­gie und Ethik und langjähriger Beauf­tragter für Kranken­hausseel­sorge Ulrich Eibach fes­thält. Damit wird der Hirn­tod, so Eibach, mit dem Tod des Men­schen gle­ichge­set­zt, was biol­o­gisch betra­chtet nicht ganz kor­rekt ist. Laut gel­ten­dem Trans­plan­ta­tion­s­ge­setz darf aber zum Zeit­punkt des Hirn­todes mit der Orga­nent­nahme begonnen wer­den (Eibach, Seit­en 7–8).

Mit diesem Vorge­hen wird dem Gehirn einen über­ge­ord­neten Stel­len­wert über die gesamte Leib­lichkeit gegeben. Das Gehirn wird zum ulti­ma­tiv­en Sitz des Men­sch­seins erko­ren. Aber, gibt der The­ologe weit­er zu bedenken, der Hirn­tod fällt zumeist zeitlich und sach­lich nicht mit dem Tod des in sein­er Gesamtheit betra­chteten Men­schen zusam­men. Ein Men­sch sei nicht erst tot, wenn das Gehirn aus­fällt, son­dern wenn bei­de leben­snotwendi­gen Sys­teme, also Herzkreis­lauf- und Zen­tral­ner­ven­sys­tem (mit Sitz im Gehirn) voll­ständig ausfallen.

Wenn im nor­malen Ver­lauf gemäss offizieller schweiz­erischen Geset­zge­bung eine Organspende in Betra­cht gezo­gen wird, wird nach  fest­gestell­tem Hirn­tod das Herzkreis­lauf­sys­tem proak­tiv ‚am Leben erhal­ten. Man tut dies mit­tels kün­stlich­er Beat­mung und anderen medi­zinis­chen Inter­ven­tio­nen. Ulrich Eibach drückt dies fol­gen­der­massen aus:

Dann lebt der Leib ohne Gehirn mit­tels tech­nis­ch­er Mit­tel weit­er. Trotz­dem wird der Tod nicht durch die Orga­nent­nahme verur­sacht, son­dern nur ver­hin­dert und dann endgültig zuge­lassen. (Eibach, Seite 8)

Nan­cy Pearcy drückt es zusam­menge­fasst dezi­diert­er aus:

Auf der Grund­lage der Per­so­n­en­schaft­s­the­o­rie (die sich mit der Frage beschäftigt, wann ein Men­sch als Per­son beze­ich­net wer­den kann), wird der Kör­p­er ein­er Per­son in einem kri­tis­chen Zus­tand, in welch­er sie keine Selb­st­bes­timmtheit und Kon­trolle mehr ausüben kann, zu einem Stück ver­füg­bar­er Materie, die abgeschal­tet und für weit­ere Zwecke wiederver­wen­det wer­den kann. (Pearcy, Liebe deinen Kör­p­er, Seite 129)

Auch Ulrich Eibach stellt in Diskus­sio­nen mit involvierten Fachärzten fest, dass die Todeszeitbes­tim­mung bei einem Organspender unklar ist (Eibach, Seit­en 2–11). Ab wann wird der behan­del­nde Patient zum Leich­nam, der nicht mehr um sich selb­st willen, son­dern um ander­er willen behandelt/gebraucht oder ver­w­ertet wird? Wer­den die fest­gelegten Kri­te­rien zur Bes­tim­mung des Hirn­todes einge­hal­ten, ist die Angst vor ein­er Orga­nent­nahme bei noch lebens­fähigem Organ­is­mus unberechtigt. Sind die Kri­te­rien nicht ein­deutig ermit­tel­bar, kom­men zusät­zliche Meth­o­d­en zum Ein­satz oder eine Orga­nent­nahme wird unter­lassen. Trotz­dem ist die Gle­ich­set­zung des Hirn­todes mit dem Tod des Men­schen Voraus­set­zung für eine erfol­gre­iche Orga­nent­nahme. Organe wie z.B. Herz, Lunge und Leber kön­nten nicht ver­w­ertet wer­den, wenn man zuwarten würde, bis der natür­liche Ster­be­prozess abgeschlossen ist. Es bleibt also im Ermessen der behan­del­nden Ärzte wann welche Schritte ein­geleit­et wer­den kön­nen. 

Der Kreis der Zurückgebliebenen – eine ethisch-seelische Situation

Wie das Szenario 3 (Erwin) beschreibt, stellt die Sit­u­a­tion der Organspende für einen erweit­erten Per­so­n­enkreis eine emo­tionale Her­aus­forderung dar.

Ein­er­seits sind die Ange­höri­gen mit dem plöt­zlichen Tod eines Näch­sten kon­fron­tiert und ste­hen oft­mals unter Schock und enor­men emo­tionalen Druck. Gegen ihre Sinneswahrnehmung (Erwin sieht dank der Appa­ratemedi­zin aus, als ob er schlafe) müssen sie sich ver­standes­gemäss darauf ein­lassen kön­nen, dass er tot ist. Ihnen bleibt das Miter­leben des Ster­be­prozess­es bis zum natür­lichen Tode und dem damit ver­bun­de­nen Abschied­nehmen ver­wehrt. Das kann zu schwieri­gen seel­is­chen Ver­ar­beitun­gen führen.

Ander­er­seits stellt sich die Frage, was beim Organspender selb­st geschieht. Wann ver­lässt z.B. die Seele (respek­tive der Geist) einen Men­schen? Beim Hirn­tod oder bei Herzkreis­lauf­still­stand? Oder erst wenn bei­de Sys­teme ver­sagen? Wahrschein­lich bekommt die Per­son auf­grund des Bewusst­seinsver­lustes (welch­es im Gehirn lokalisiert wird), nichts von alle­dem mit, wird in Fachkreisen ver­mutet. Trotz­dem bleibt, wie vorgängig beschrieben eine Diskrepanz zwis­chen The­o­rie und Prax­is beste­hen. Wed­er Medi­zin­er noch Juris­ten sind sich einig, wann ein Men­sch tot ist, obwohl emsig ver­sucht wird, mit­tels Def­i­n­i­tion und klaren Vorge­hensweisen einen genauen Zeit­punkt zu ermit­teln. 

Christoph Raedel zitiert den Medi­zinethik­er, Gio­van­ni Maio zu diesem Dilemma:

Dass der Betrof­fene (Organspender) auf einen friedlichen Abschluss seines Ster­bens verzicht­en muss, dass er darauf verzicht­en muss, dass seine Ange­höri­gen in ein­er Atmo­sphäre der Ruhe von ihm Abschied nehmen, dass der Betrof­fene am Ende an Maschi­nen angeschlossen, beat­met und nicht in Ruhe gelassen wird, dass der Betrof­fene am Ende für kurze Zeit als Ressource für ver­w­ert­bare Organe gese­hen wird und nicht als ein unver­füg­bares Indi­vidu­um. Sein Leben wird mit allen zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­teln erhal­ten, aber nicht um Sein­er selb­st willen. (Raedel, Organspende? Christlich-ethis­che Entschei­dung­shil­fen, Seite 18)

Hin­weis: Ist der Wille ein­er Per­son bezüglich Organspende, im Falle eines Unfall­es unklar, müssen die Ange­höri­gen sich mit dieser Entschei­dung auseinan­der­set­zen. Ist es ethisch vertret­bar in dieser schwieri­gen belas­ten­den Sit­u­a­tion über­haupt über Organspende zu reden? Aktuell sind lediglich 11% der Ver­stor­be­nen im Besitz eines Organspender­ausweis­es. 

Welche Haltung vertreten verschiedene Religionen und Kulturen?

Zum The­ma Organspende gibt es keine klare Lin­ie zwis­chen Befür­wortern und Geg­n­er inner­halb ein­er Reli­gion oder Kul­tur. In der Lit­er­atur find­en sich zwar einige the­o­retis­che Grun­drich­tun­gen und „Empfehlun­gen“, die dann aber in der Prax­is doch sehr indi­vid­u­al­is­tisch umge­set­zt werden.

Elke Urban hat sich mit ver­schiede­nen Reli­gio­nen und deren Ster­bens- und Toten­rituale auseinan­derge­set­zt. Sie hält zusam­menge­fasst fol­gende Punk­te fest (Urban, Tran­skul­turelle Pflege am Lebensende, Seit­en 11–130). Obwohl das Chris­ten­tum die Organspende befür­wortet und darin einen Akt der Näch­sten­liebe sieht, sind nicht alle Chris­ten deswe­gen automa­tisch Organspender. Auch Bud­dhis­ten sind z.B. überzeugt, dass Organspende ein Akt des Gross­muts ist, trotz­dem herrscht eine grosse Miss­brauch­sun­sicher­heit, da ille­galer Organ­han­del in weit­en Teilen asi­atis­ch­er Län­der ein The­ma ist. Offiziell ermutigt auch Chi­na zur Organspende, da ein ekla­tan­ter Man­gel an Orga­nen herrscht. Es wer­den sog­ar Organspende-Förder­pro­gramme ini­ti­iert, obwohl eine Orga­nent­nahme in der tra­di­tionell chi­ne­sis­chen Kul­tur tabuisiert ist. Darüber hin­aus ist die Todes­fest­stel­lzeit in Chi­na unter Beschuss, es beste­hen deshalb Bestre­bun­gen die west­liche Hirn­tod­prax­is einzuführen (Urban, Seit­en 29–30). Im Islam ste­ht die Ret­tung eines Men­schen­lebens über der Unan­tast­barkeit des men­schlichen Kör­pers nach dem Tod. Deshalb dür­fen, auf aus­drück­lichen Wun­sch des Ver­stor­be­nen, Organe ent­nom­men wer­den (Urban, Seite 60). Die meis­ten Hin­dus wiederum lehnen die Organspende ab (Urban, Seite 48).

In Elke Urbans Buch kommt gut zum Aus­druck, dass neben der Unsicher­heit der Todes­fest­stel­lzeit auch die Spir­i­tu­al­ität, das Abschied­nehmen, sowie Rit­uale und Tra­di­tio­nen in der Entschei­dung zur Organspende eine wichtige Rolle spielen.

In vie­len Reli­gio­nen (Islam, Juden­tum, Bud­dhis­mus etc.) beste­hen fest­gelegte Rit­uale, z.B. bezüglich Ausrichtung/Lagerung des Toten, Waschung, Klei­dung, Beerdi­gung etc. Bei ein­er Organspende sind diese oft schmer­zlich unter­brochen. Ver­lässt die Seele/das Bewusst­sein den Kör­p­er unmit­tel­bar nach dem Hirn­tod oder nach dem Herzkreis­laufver­sagen? Oder bleibt sie während der Orga­nent­nahme noch im Leib? Bud­dhis­ten zum Beispiel gehen davon aus, dass sich das Bewusst­sein erst nach drei bis vier Tagen vom Kör­p­er tren­nt (Urban, Seite 23).

Im Juden­tum gilt es zwis­chen lib­eralen und ortho­dox­en Juden zu unter­schei­den (Urban, Seit­en 76–77). Lib­erale Juden sind offen für eine Spende. Ortho­doxe Juden sind aus fol­gen­den drei Grün­den eher dagegen:

  • Die Würde eines Toten gilt es respek­tvoll zu wahren und zwar mit­tels einiger Rit­uale, die nach Möglichkeit­en während und nach dem Ster­be­prozess einge­hal­ten wer­den soll­ten (z.B. Toten­ruhe, rit­uelle Waschung, Gebete und Totenwache). Eine Orga­nent­nahme würde diese Prozedere schmer­zlich unterbrechen.
  • Die meis­ten jüdis­chen Rab­bin­er sind sich einig, dass sich ein hirn­tot­er Men­sch in ein­er Art Zwis­chen­sta­di­um zwis­chen Leben und Tod befind­et. Die Orga­nent­nahme würde dann in dieser «Zwis­chen­zeit» stattfinden.
  • Die Ver­stüm­melung des Kör­pers ist im jüdis­chen Gesetz ver­boten. Einzig Lebend­spenden sind bei ortho­dox­en Juden erlaubt. 

Wie sieht es das Christentum?

Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt, als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlge­fäl­lig ist (Rom 12:1). Der evan­ge­lis­che The­ologe Mar­tin Honeck­er baut auf diesem Bibelvers (und 1Cor 6:19) seine aus­drück­liche Befür­wor­tung für Organspenden auf (beschrieben im Buch von Mar­ti­na Spir­gatis, Seit­en 37–38). Er emp­fiehlt Chris­ten, als ein Akt der Näch­sten­liebe, die Organe nach dem eige­nen Ableben anderen lei­den­den Men­schen zur Ver­fü­gung zu stellen. Denn der Kör­p­er wurde vom Schöpfer zur Ver­fü­gung gestellt, jedoch nicht zum Selb­stzweck, son­dern zum Dienst und zur Kom­mu­nika­tion mit anderen, begrün­det der The­ologe seine Argumentation.

Eine andere Sichtweise ver­tritt die Sozi­olo­gin, Mar­ti­na Spir­gatis (Spir­gatis, Seite 37). Sie bedauert diese the­ol­o­gis­che Unterord­nung unter die Natur­wis­senschaften, welche in der „Gemein­samen Erk­lärung zur Organtrans­plan­ta­tion“ (unter­schrieben 1990 von der deutschen evan­ge­lis­chen Kirche) zum Aus­druck kommt, wo es heisst:

Der unter allen Lebe­we­sen einzi­gar­tige men­schliche Geist ist kör­per­lich auss­chliesslich an das Gehirn gebun­den. Ein hirn­tot­er Men­sch kann nie mehr eine Beobach­tung oder Wahrnehmung machen, ver­ar­beit­en und beant­worten, nie mehr einen Gedanken fassen, ver­fol­gen und äussern, nie mehr eine Gefühlsre­gung empfind­en, nie mehr irgen­det­was entscheiden.

Im Gegen­satz dazu lehnt die Evan­ge­lisch-reformierte Kirche (EKS) in ihrer Vernehm­las­sungsant­wort zum Trans­plan­ta­tion­s­ge­setz „… jeden moralis­chen oder rechtlichen Anspruch Drit­ter auf die Organe ein­er Per­son kat­e­gorisch ab“ fasst Frank Math­wig zusam­men (Math­wig Seite 2). Die Kirche, so der The­olo­giepro­fes­sor, bezieht sich auf den Leib als Gabe des Schöpfers, der nicht ein­fach veräussert oder abgegeben wer­den kann. Der men­schliche Leib sei eine untrennbare geistig-seel­is­che-physis­che Ein­heit und ein Organ ist nicht ein­fach funk­tionell zu sehen, son­dern als Bestandteil davon. Die EKS dis­tanziert sich von jedem moralis­chen Druck auf die Gesellschaft, dass Organe Ster­ben­der oder Tot­er in die Ver­fü­gungs­ge­walt der All­ge­mein­heit überge­hen. 

Änderung des Transplantationsgesetztes

Die EKS lehnt die enge sowie die erweit­erte Wider­spruch­slö­sung der Volksini­tia­tive und des indi­rek­ten Gegen­vorschlages des Bun­desrates ab. Sie unter­stützt aber die Absicht­en der Nationalen Ethikkom­mis­sion (NEK), die Schweiz­er Bevölkerung zu motivieren, eine per­sön­liche Entschei­dung zur Organspende zu tre­f­fen und diese mit den Ange­höri­gen zu besprechen. So bleibt das Selb­st­bes­tim­mungsrecht geschützt.

Die Erk­lärungsregelung der NEK beinhaltet:

Alle in der Schweiz wohn­haften Per­so­n­en geben eine Erk­lärung zur Organspende ab (Ja, Nein; keine Mei­n­ung), der Bund führt ein Reg­is­ter, dessen Ein­trag von der Per­son jed­erzeit geän­dert wer­den kann. Im Falle ein­er Nichtäusserung ist der mut­massliche Wille des Ver­stor­be­nen auss­chlaggebend. (zitiert in Math­wig Seite 2)

Nächstenliebe und Menschenbild

Das Argu­ment der Näch­sten­liebe scheint aus christlich­er und ethis­ch­er Sicht zunächst überzeu­gend zu sein. Auch wenn die per­sön­liche Nähe zwis­chen Spender und Empfänger im anony­men Spenderver­fahren gän­zlich fehlt. Der The­olo­giepro­fes­sor, Christoph Raedel erk­lärt dazu:

Aus bib­lis­ch­er Sicht kann Organspende dur­chaus als Näch­sten­liebe ver­standen wer­den. Denn der Näch­ste lässt sich nicht auf einen räum­lich, beru­flich, famil­iären oder bürg­er­lichen Näch­sten beschränken. Vielmehr ist die entschei­dende Frage „… wer mir zum Näch­sten wird“, wie dies z.B. in der Geschichte des barmherzi­gen Samarit­ers (Lk 10,25–37) gut zum Aus­druck kommt. (Raedel, Seit­en 76–79)

In sein­er Schlussfol­gerung fasst Raedel zusammen:

Die Bere­itschaft zur Organspende darf aus christlich­er Sicht nicht als Gesetz gepredigt wer­den, son­dern sie kann als Antwort auf das Evan­geli­um gewürdigt wer­den. (Raedel, Seite 78)

Ähn­lich argu­men­tiert The­olo­giepro­fes­sor Michael Herb­st Sein­er Mei­n­ung nach ist es nicht unethisch, an dem „point of no return“, den er auf den hirn­toten Men­schen bezieht, noch im Ster­ben einen Dienst am Näch­sten zu tun. Auch Jesu Ster­ben ste­ht auf diesem Grundgedanken. So kön­nte die frei­willige Organspende über die eigene kör­per­liche Integrität gestellt wer­den, gibt Herb­st (Herb­st, Seit­en 1–5) zu bedenken.

Mein persönliches Fazit

Für mich als Christ fällt die Entschei­dung nicht leicht! Aus bib­lis­ch­er Sicht spricht die Näch­sten­liebe für eine Organspende. Das christliche Men­schen­bild als Ein­heit von Kör­p­er, Seele und Geist spricht eher dage­gen. Allen­falls kann die rab­binis­che Sichtweise zu ein­er per­sön­lichen Lösungs­find­ung beitra­gen. 

Wichtig scheint es mir eine per­sön­liche Entschei­dung dafür oder dage­gen zu tre­f­fen und diese mit den Ange­höri­gen zu besprechen. Fol­gende Fra­gen kön­nen als Vor­bere­itung für solche Gespräche vielle­icht helfen:

  • Bin ich bere­it meinen per­sön­lichen Ster­be­prozess inmit­ten tech­nis­ch­er Appa­ratemedi­zin zu beenden?
  • Ver­ste­hen meine Ange­höri­gen meinen aus­drück­lichen Wun­sch Organspender zu sein und sind deshalb bere­it auf eine per­sön­liche Ster­be­be­gleitung zu verzichten?
  • Traue ich meinen Ange­höri­gen zu mit dem Ablauf (Zeit­druck, rasche Entschei­dung) der Organspende im Spi­tal zurechtzukom­men? 
  • Ver­traue ich der Hirn­tod-Diag­nos­tik und dem medi­zinis­chen Per­son­al? 
  • Welche Sicht habe ich auf mein Men­sch­sein und meinen Kör­p­er? 
  • Füh­le ich mich als Christ unter Druck, weil mein christlich­es Umfeld die Organspende als Akt der Näch­sten­liebe ver­ste­ht? 
  • Wann ver­lässt meine Seele meinen Kör­p­er? 
  • Sollen mir nach meinem Tod Gewebe und Zellen ent­nom­men wer­den dürfen?
  • … und wenn ich oder meine Ange­höri­gen ein Organ benöti­gen? Wie entschei­de ich mich dann?

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