Im ersten Teil habe ich die Rolle der evangelikalen Bewegung bei der Bekämpfung und Abschaffung der Sklaverei im Britischen Empire beschrieben. Mit dem wachsenden Bewusstsein dass es auch heute noch Sklaverei und Menschenhandel gibt (sogar mehr Sklaven als jemals zuvor), fingen viele evangelikale Organisationen und engagierte Christen an, in die Fussstapfen von William Wilberforce und seinen Verbündeten zu treten. Evangelikale sind heute, wie zu Zeiten von Wilberforce, an der vordersten Front zu finden wenn es um die Bekämpfung des modernen Slavenhandels geht. In diesem Artikel möchte ich ein paar Beispiele von diesem Engagement erwähnen und vertieft darauf eingehen, welche politischen Massnahmen aus meiner Sicht nötig sind.
Weltweit gibt es aktuellen Schätzungen zufolge über 40 Millionen Opfer von Menschenhandel, wobei die meisten dieser Menschen durch verschiedene Formen von Zwangsarbeit ausgebeutet werden[1]. In der Europäischen Union werden jedoch ca. zwei Dritttel der registrierten Opfer in der Sexindustrie ausgebeutet[2]. Schätzungen zufolge gab es bereits 2012 fast 900‘000 Opfer von Menschenhandel in der EU[3]. Geht man in einer vereinfachten Rechnung von ähnlich vielen Opfern in der Schweiz aus, kommt man auf ca. 16‘000, ein grosser Teil davon dürfte auch in der Schweiz in der Sexindustrie ausgebeutet werden.
Das kaum vorstellbare Ausmass dieses Unrechts hat viele engagierte Christen dazu bewogen, sich dem Kampf gegen den Menschenhandel zu verschreiben. Sehr viele Organisationen die in diesem Kampf tätig sind, haben einen christlichen bzw. evangelikalen Hintergrund. Die Organisation International Justice Mission, die bereits 1994 gegründete wurde, dürfte in diesem Bereich eine Pionierrolle einnehmen. Nebst zahlreichen global tätigen Organisationen gibt es in vielen Städten überall auf der Welt lokale Milieuarbeiten, wo sich Christen um die Nöte von Menschen kümmern, die in der Prostitution gefangen sind und versuchen, ihnen beim Ausstieg zu helfen.
2020 lancierte ExodusCry eine globale Petition mit dem Ziel, die drittgrösste Pornoseite vom Netz zu nehmen, da diese Webseite über viele Jahre abertausende von Videos von echten Vergewaltigungen und Kinderpornographie verbreitete und kommerzialisierte. Nicholas Kristof von der New York Times schrieb[4]: „Die Seite ist überschwemmt von Vergewaltigungsvideos. Sie macht die Vergewaltigung von Kindern und Rache-Pornografie zu Geld. Sie zeigt versteckt aufgenommene Videos von Frauen unter der Dusche, Videos mit rassistischen und frauenfeindlichen Inhalten und Bilder von Frauen, denen mit Plastiktüten die Luft genommen wird.“
Obwohl das Petitionsziel noch nicht ganz erreicht wurde war die Petition ein durchschlagender Erfolg: Über 2,2 Millionen Unterschriften aus 192 Ländern, 33 Millionen Ansichten eines Videos, das die kriminelle Machenschaften aufdeckte, über 4‘000 Medienberichte. Der Druck wurde so gross, dass die Betreiber der Seite 10 Millionen Videos (80%) löschen mussten[5]. Blick.ch brachte im Juni 2020 ein hervorragendes Interview mit Laila Mickelwait, der Kampagnenleiterin dieser Petition[6]. Die Frage sei erlaubt, wo der Aufschrei der säkularen Welt blieb was die extrem rassistischen, gewalttätigen und frauenverachtenden Inhalte von Pornhub betrifft.
Aktueller Hinweis: Die Unterschriftensammlung für die Petition läuft noch: https://traffickinghubpetition.com
Nun zur politischen Landschaft der Schweiz: Welchen Parteien ist die Bekämpfung des Menschenhandels überhaupt ein Anliegen? Zur Beantwortung dieser Frage habe ich mir die Wahlplattformen, Aktions- und Parteiprogramme der grössten zehn Parteien in der Schweiz angeschaut[7]:
Diese Inhaltsanalyse zeigt eindrücklich auf, dass das Thema Menschenhandel und Zwangsprostitution (also moderne Sklaverei) für die meisten Parteien in der Schweiz überhaupt keine Priorität hat. Einzig der EVP und EDU, die sich auf christliche Werte berufen, und der Grünen Partei ist dieses Unrecht eine explizite Erwähnung wert[8].
Insofern ähnelt die heutige politische Situation in der Schweiz dem politischen Umfeld von William Wilberforce und seinen Freunden, die über viele Jahre hinweg eine Gesellschaft wachzurütteln versuchten, die für das Unrecht der Sklaverei blind war. Ebenso ist unsere heutige Gesellschaft weitgehend blind für die Abgründe des modernen Sklavenhandels, der Zwangsprostitution und den katastrophalen Folgen der Pornofizierung unserer Gesellschaft. Obwohl während der Corona-Situation die Nachfrage nach Kinderpornographie dramatisch zugenommen hat[9] wird die Bekämpfung der Pädokriminalität in der Schweiz nach wie vor stark vernachlässigt.
Da sowohl EVP wie EDU bei der Bekämpfung des Menschenhandels und der Zwangsprostitution auf die Problematik der Nachfrage eingehen, möchte ich zum Abschluss darlegen, warum dieser Ansatz nach meiner Einschätzung der einzige erfolgsversprechende ist um Menschenhandel effektiv bekämpfen zu können. Natürlich ist Menschenhandel in der Schweiz verboten, doch grassiert dieses Unrecht trotzdem. Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit Menschenhandel und Zwangsprostitution dauern in der Regel ein bis zwei Jahre und sind extrem arbeits- und ressourcenintensiv. Erfolgreiche Ermittlungen stehen und fallen meistens mit den Zeugenaussagen der betroffenen Opfer. Diese stehen vielfach unter starkem Druck (z. B. Bedrohung der Familie im Herkunftsland, psychische Abhängigkeit von den Tätern, Gefügigkeit durch geförderte Drogenabhängigkeit, Gewaltandrohungen etc.). Erschwerend kommt hinzu, dass die Grenzen zwischen Freiwilligkeit und Zwang im Prostitutionsgewerbe oftmals fliessend verlaufen. Aus diesem Grund gibt es nur eine sehr kleine Anzahl von Verurteilungen (2019 waren es 7 Verurteilungen[10]) im Verhältnis zur geschätzten Dunkelziffer.
Radikal-feministische Organisationen haben sich deshalb bereits seit ca. 100 Jahren in Schweden für eine Freierbestrafung eingesetzt. 1998 hat das Schwedische Parlament das Gesetz zum Verbot des Kaufs sexueller Dienstleistungen (SFS 1998:408) erlassen. Der sozialdemokratische Parlamentarier Thomas Bodström sagte dazu: “Prostitution ist immer eine Form des Menschenhandels und muss entsprechend bestraft werden. Solange Männer glauben, Körper von Frauen und Mädchen kaufen und ausbeuten zu dürfen, wird es Menschenhandel zum Zwecke sexueller Ausbeutung geben. Über die Gesetzgebung können wir auf die Einstellung der Männer einwirken, was wiederum deren Verhalten beeinflussen und verändern kann.” [11]:
22 Jahre nach Inkrafttreten dieses Gesetzes kann es als durchschlagenden Erfolg bezeichnet werden. Gemäss einem Bericht der Schwedischen Regierung wird das Gesetz von 72% der Bevölkerung unterstützt (Frauen: 85%). Nur 0,8% der Männer gaben an, im letzten Jahr für eine sexuelle Dienstleistung bezahlt zu haben.
Eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz würde jedoch nur dazu führen, dass immer mehr Männer nach sexuellen Dienstleistungen fragen.
Die Schwedische Regierung stellte bereits 2010 folgendes fest[12]:
- Die Strassenprostitution ist zurückgegangen.
- Das Gesetz hat eine abschreckende Wirkung auf potenzielle Käufer von sexuellen Dienstleistungen, was die Nachfrage reduziert.
- Das Gesetz hat den Menschenhandel eingedämmt, da Kriminelle nicht mehr so leicht organisierte Schleppernetzwerke in Schweden aufbauen.
- Die Zahl der ausländischen Frauen in der Prostitution hat zugenommen, aber nicht in dem Masse, wie es in den Nachbarländern zu beobachten ist.
- Die Online-Prostitution hat in Übereinstimmung mit allen anderen verkauften Dienstleistungen seit 1999 zugenommen, aber nicht in dem Masse, dass man sagen kann dass die Straßenprostitution einfach abgewandert ist.
- Es wurden Ausstiegsstrategien und Alternativen entwickelt.
- Es gab einen signifikanten Wandel der Einstellung und Mentalität in der Gesellschaft.
- Die Verabschiedung des Gesetzes war ein wegweisendes Modell für andere Länder.
Gegen das Schwedische Modell werden oft mantramässig Argumente vorgebracht, die beim genaueren Hinschauen leicht entkräftet werden können:
«Prostitution ist das älteste Geschäft und wird es immer geben.»
Auf Englisch gibt es das schöne Wortspiel: «prostitution ist the oldest oppression (Unterdrückung), not the oldest profession (Beruf).» Es mag sein, dass es Prostitution immer geben mag (wie auch Sklaverei), doch heisst dies nicht, dass man diese Unterdrückung als Gesellschaft tolerieren sollte.
«Die Freierbestrafung führt dazu, dass Prostitution in den Untergrund geht was für die Frauen gefährlich ist.»
Prostitution ist per se gefährlich und sehr schädlich für die betroffenen Frauen. Die Mortalitätsrate ist z.T. massiv höher als bei der Durchschnittsbevölkerung[13]. Dr. Melissa Farley beschreibt in einer Studie[14], dass mehr als die Hälfte der Prostituierten bereits körperliche Gewalt, Drohungen und Vergewaltigungen erlebt haben. 2/3 der Prostituierten wiesen posttraumatische Belastungsstörungen auf, derselbe Wert wie bei Vergewaltigungsopfern und deutlich höher als bei Opfern von Folterungen. Je nach ausgewerteter Studie wurden 57%-95% der Prostituierten bereits als Kind sexuell und körperlich missbraucht. Bis zu 75% haben Selbstmordversuche hinter sich. In einer Gesellschaft, in der Freier geächtet und bestraft werden, wird das Machtgefälle zwischen Freiern und Prostituierten kleiner.
Vertreterinnen eines liberalen Feminismus argumentieren, dass Prostitution als Sexarbeit umdefiniert und gesellschaftlich möglichst akzeptiert werden sollte. Eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz würde jedoch nur dazu führen, dass immer mehr Männer sexuelle Dienstleistungen nachfragen. Mit der zunehmenden Nachfrage wird der Markt immer ein entsprechendes Angebot bereitstellen. Da die Anzahl der Frauen, die ganz und gar freiwillig der Prostitution nachgehen verschwindend gering sein dürfte, bedeutet dies, dass der Markt immer mehr Opfer von Menschenhandel beschafft, um die steigende Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen zu befriedigen.
«Die Freierbestrafung führt zu mehr Vergewaltigungen.»
Dieses Argument hat für mich einen zynischen Nachgeschmack, als ob die vielen tausend zwangsprostituierten Frauen in der Schweiz nicht vergewaltigt werden. Geht man von ca. 5’000 Zwangsprostituierten aus, die täglich zehn Freier bedienen müssen entspräche dies jährlich ca. 18 Mio. Vergewaltigungen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir als Gesellschaft viel entschiedener gegen sexuellen Missbrauch, Vergewaltigung, Prostitution und Menschenhandel vorgehen müssen. Als Gesellschaft dürften wir keine Form von sexueller Gewalt tolerieren.
Fazit:
Evangelikale Organisationen kämpfen heute an vorderster Front gegen moderne Formen des Menschenhandels, und versuchen – zumindest in der Schweiz – wie vor 200 Jahren eine weitgehend gleichgültige Gesellschaft wachzurütteln. Auf politischer Ebene stehen erprobte Lösungsansätze (wie das skandinavische Prostitutionsgesetz) bereit. Wenn sich die feministische Bewegung in der Schweiz kritischer mit den Themen Prostitution und Pornographie auseinandersetzen würde (wie dies z.B. Alice Schwarzer tut), könnte sie zusammen mit evangelikalen und anderen konservativen Kräften viel mehr für die Gleichstellung der Frau erreichen.
Bildquellen:
iStock
Fussnoten:
[1] https://www.stopthetraffik.org/about-human-trafficking/the-scale-of-human-trafficking/
[2] https://www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/society/20171012STO85932/menschenhandel-fast-16–000-opfer-in-der-eu
[3] https://www.focus.de/politik/ausland/milliardenprofit-mit-menschenhandel-in-der-eu-leben-fast-900–000-moderne-sklaven_aid_1128012.html
[4] https://www.emma.de/artikel/pornhub-kindesmissbrauch-und-vergewaltigungen-338325
[5] https://twitter.com/LailaMickelwait/status/138555245902052557
[6] https://www.blick.ch/schweiz/diese-frau-fordert-abschaltung-von-pornhub-das-ist-der-groesste-sexskandal-den-die-welt-je-gesehen-hat-id15946555.html
[7] Da die kürzlich durch die Fusion von CVP und BDP entstandene Partei «Die Mitte» erst wenige Inhalte auf der Webseite hat, habe ich die Unterlagen der CVP und BDP für die Analyse herangezogen.
[8] Bei der SP fand ich immerhin ein 85-seitiges Dokument zur Migrationspolitik aus dem Jahr 2012, das auf die Bekämpfung des Menschenhandels eingeht.
[9] https://www.fm1today.ch/schweiz/anstieg-der-kinderpornografie-im-internet-139956209
[10] https://www.act212.ch/menschenhandel/menschenhandel-schweiz
[11] Dieses Zitat entnahm ich aus einem Paper über das skandinavische Modell, das ich 2009 geschrieben habe. Ich bin mir sicher, dass ich den Parlamentarier damals richtig zitierte, konnte jedoch keine gültige URL als Quellennachweis dafür mehr finden.
[12] https://sharingsweden.se/app/uploads/2019/02/si_prostitution-in-sweden_a5_final_digi_.pdf
[13] https://academic.oup.com/aje/article/159/8/778/91471
[14] http://www.prostitutionresearch.com/FarleyVAW.pdf
Für alle Männer, die gegen Menschenhandel aufstehen wollen: wir von “Männer gegen Frauenhandel” freuen uns auf euch 🙂