Die evangelikale Bewegung erlebt in den 70er-Jahren in Sachen Abtreibung eine erstaunliche Wende. Die entstehende Pro-Life Bewegung entwickelt eine Dynamik, welche auch zu neuen und ungewohnten Schulterschlüssen zwischen Evangelikalen und Katholiken führt. Manchmal kommt Fortschritt nur durch Umkehr.
Vor 50 Jahren haben die führenden Köpfe der evangelikalen Bewegung, beeinflusst vom ‘Geist der 68er’, die Türe für Abtreibung weit geöffnet. Wie es dazu kam, habe ich im vierten Teil dieser Serie erläutert. Die evangelikale Bewegung war weit anfälliger, als man es aufgrund ihrer selbsterklärten ‘Bibelfestigkeit’ vermuten würde. Doch diese Entwicklung verlief gemäss einer Logik.
Der logische Lauf der Dinge
Bereits im 19. Jahrhundert hat Anthony Comstock auf den inneren Zusammenhang zwischen Pornografie, Geburtenkontrolle und Abtreibung hingewiesen. Die sogenannten Comstock-Laws, welche auf seine Initiative zurückgehen, prägten die Gesetzgebung in den USA über Jahrzehnte hinweg und verhinderten unter anderem die Verbreitung von Pornografie über die Post (damals lief bekanntlich noch alles ohne Internet). Das Hauptanliegen von Comstock war der Schutz der Jugend[1]. Er wies wohl als einer der ersten auf das Suchtpotential von Pornografie hin.
Die Erfahrungen aus Comstock’s Tätigkeit als Ermittler zeigten zudem, dass Pornografie, Verhütungs- und Abtreibungsmittel in der Regel aus einer Hand kommen. Seine Logik war einfach: die Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln ermutigt die Promiskuität und Pornografie ist “raffiniert berechnet, um die Leidenschaften zu entflammen und die Opfer von einer Stufe des Lasters zur nächsten zu führen, die in äußerster Lust endet.” Die Historikerin Nicola Beisel bezeichnet es als den intellektuellen Verdienst von Comstock, diese innere Logik erkannt zu haben, nämlich «Abtreibung und Empfängnisverhütung mit der Verfügbarkeit obszöner Literatur auf den Straßen der Stadt in Verbindung zu bringen.»[2]
Man mag von Comstock und seinen zwischendurch rupppigen Ermittlungsmethoden halten was man will — die Geschichte gibt seiner Theorie grundsätzlich recht. Wer in einem der Bereiche Pornografie, künstliche Geburtenkontrolle oder Abtreibung eine Liberalisierung einleitet, erzeugt einen Druck auf die anderen zwei Bereiche. So wie diese drei Dinge im 19. Jh über die gleiche Ladentheke gehandelt wurden, so hängen sie auch heute gesellschaftlich grundlegend miteinander zusammen[3].
Es mag deshalb wenig erstaunen, dass die Evangelikalen, als sie in den 60ern ihre Haltung gegenüber der künstlichen Verhütung liberalisieren, sehr schnell bereit scheinen, auch die Abtreibung als legitim zu betrachten. Im Nachhinein muss man sagen: es war wohl der natürliche nächste Schritt, wie ihn die breite Gesellschaft auch vollzogen hat. Doch scheint es, dass dieser natürliche Lauf der Dinge im Falle der Evangelikalen eine überraschende Ausnahme hat: die eingeläutete Liberalisierung wird in den 70er Jahren rückgängig gemacht.
Verantwortlich für diese unerwartete Wende ist eine neue Generation von bis dahin weitgehend unbekannten evangelikalen Persönlichkeiten: Harold O. J. Brown, C. Everett Koop und Francis Schaeffer. Diese ‘drei Musketiere’ werfen sich mit einer unglaublichen Energie und Entschlossenheit in die Schlacht um das Recht auf Leben der Ungeborenen, als die eingesessenen evangelikalen Leiter nicht bereit sind, dies zu tun.
In nur wenigen Jahren wird eine unglaublich dynamische und entschlossene Gegenbewegung zum Trend der Zeit lanciert, welche zu einem klaren Meinungsumschwung im evangelikalen Lager führt. 1980, also nur sieben Jahre nach dem Entscheid des Obersten Gerichtshofes, wird mit Ronald Reagan (1911–2004) ein Präsident gewählt, welcher sich hinter das Pro-Life-Anliegen stellt und einen der ‘drei Musketiere’ zum Gesundheitsminister ernennt: den evangelikalen Pro-Life Aktivisten C. Everett Koop.
Wer gibt den Ton an?
Doch bevor wir uns den ‘Musketieren’ zuwenden, müssen wir über Geschichtsschreibung reden. Denn wer sich aufmerksam mit den Geschichtsdeutungen der evangelikalen Positionierung in Abtreibungsfragen beschäftigt, dem wird auffallen, wie unterschiedlich die Geschichten sind, die davon erzählt werden.
Abtreibungsgegner tendieren dazu, jene Elemente in der evangelikalen Bewegung herunterzuspielen oder gar zu verschweigen, die offen waren für Abtreibung. So spielen sie die harten Fakten der evangelikalen Anpassung an den Zeitgeist der 68-er herunter. Sie vertuschen tendenziell auch die militanten Verirrungen an den Rändern der Pro-Life Bewegung, die in den 80-er und 90-er Jahren stattfinden. Damals kommt es durch Einzeltäter auch zu Gewaltakten gegen Abtreibungsärzte. [4].
Wesentlich dominanter sind in säkularen Medien und in theologisch liberalen Kreisen jedoch die Stimmen derjenigen, welche in der evangelikalen Pro-Life-Wende niedere Motive und Opportunismus ausmachen und so die Bewegung zu diskreditieren versuchen. Dabei werden verschiedene Strategien verwendet.
Eine typische Strategie ist, die ersten Jahre der evangelikalen Pro-Life Bewegung unter den Teppich zu kehren und deren angeblichen Beginn ans Ende des Jahrzehnts ins Jahr 1979 zu legen. In diesem Narrativ wird betont, wie Evangelikale bis 1973 offen waren für Abtreibung. Anschliessend wird wenig bis gar nichts erzählt über die rund 6 Jahren bis 1979. Dann wird ums Jahr 1979 die evangelikale Pro-Life Bewegung als rechtskonservative politische Bewegung im Gleichschritt mit der Republikanischen Partei aus der Taufe gehoben. Die Botschaft dieses Narrativs ist klar: Den evangelikalen Pro-Lifern geht es nicht um Menschen, sondern um Macht und Einfluss.
Dieses Narrativ finden wir zum Beispiel in einem Artikel von CNN aus dem Jahre 2012, in dem die Anfänge der evangelikalen Pro-Life Bewegung genau ins letzte 70er-Jahr verlegt werden: «Der Fernsehprediger Jerry Falwell führte den Meinungsumschwung in der Abtreibungsfrage in den späten 1970er Jahren an…».
Die renommierte Politikwissenschaftlerin und Forscherin in Religions- und Genderfragen Marie Griffith bläst in ihrem Buch ‘Moral Combat’ ins gleiche Horn[5]. Auch bei ihr ist die Lancierung der evangelikalen Pro-Life Bewegung faktisch deckungsgleich mit der Person Jerry Falwell (1933–2007) und der von ihm im Jahre 1979 gegründeten Organisation ‘Moral Majority’. Diese Organisation wollte moralisch konservative Werte in den politischen Prozess einbringen und sorgt mit dafür, dass sich die republikanische Partei in den 80er-Jahren zunehmend konservative Positionen zu eigen macht. Die implizite Botschaft ist klar: es geht um eine politische Agenda mit möglichen verdeckten Motiven.
Ein solches verdecktes Motiv bei den Pro-Lifern meint Tom Davis ausmachen zu können. Davis ist Pfarrer und hat sich selbst aktiv an der Vermittlung von illegalen Abtreibungen beteiligt [6]. Für ihn geht es bei der Pro-Life Bewegung eigentlich um Frauenfeindlichkeit, nicht um Lebensschutz. Kirchen, welche sich im Nachgang zu Roe vs. Wade auf die Pro-Life Seite geschlagen hätten, seien dieselben, welche Frauen von ihren Kanzeln ausschliessen würden. Diese Kirchen hätten die illegale Abtreibungspraxis vor Roe v. Wade kaum bekämpft, doch als die Frauen mit der Legalisierung ‘Macht über ihre Körper’ gewonnen hätten, da sei Abtreibung auf einmal zum ‘Verbrechen des Jahrhunderts’ mutiert[7] — meint Davis.
Ein anderes angeblich verdecktes Motiv präsentiert der amerikanische Religionshistoriker Randall Balmer. Balmer, der selbst unter dem Pro-Life Pionier Harold O.J. Brown Theologie studiert hatte[8], präsentiert Rassismus als treibendes Motiv hinter der Politisierung der Evangelikalen in den späten 70er- und frühen 80er-Jahren. Es sei um den Erhalt von rassengetrennten christlichen Schulen gegangen. Die Abtreibungsthematik sei dabei so etwas wie ein opportuner ‘Handlanger’ für eine rechtsgerichtete, rassistische Agenda gewesen. Die Pro-Life Pioniere sind in seinem narrativ ‘Guilty by association’ oder wie man bei uns sagen würde: Mitgegangen mitgefangen.
Auch im deutschsprachigen Raum werden solche Assoziationen in Umlauf gebracht, in diesen Tagen auch im Zusammenhang mit der Corona-Krise. Im Dezember 2020 veröffentlicht zum Beispiel der Spiegel einen Artikel mit dem Titel Lebensgefährliche »Lebensschützer«. Darin wird die Pro-Life Bewegung gleich in eine ganze Reihe von negativ behafteten gesellschaftlichen Milieus hineingeschoben: Pro Lifer kämen aus rechtsgerichteten Kreisen, seien Verschwörungstheoretiker und Corona-Leugner.
Solche Zuordnungen wecken natürlich die Abwehrreflexe jeden anständigen Bürgers. Das letzte, was man will, ist selbst auch in diese Ecke geschoben zu werden. Eigentlich würde man denken, stellt die Autorin Liane Bednarz fest, dass Menschen, denen das ungeborene Leben am Herzen liegt, sich auch dafür einsetzen würden, ‘bereits geborene Menschen vor dem Tod oder vor schweren Langzeitschäden durch das Coronavirus zu schützen’. Anders gesagt: die Gegner von Abtreibung sind eigentlich gar nicht Pro-Life sondern höchsten Pro-Birth. Sie sind nicht für das Leben, sondern nur ‘für das Gebären’. Dies ist einer der vielgehörten Vorwürfe an die Pro-Life Bewegung.
Nun, der im Artikel genannte Vergleich macht aus meiner Sicht einen Kategorienfehler. Denn das ungeborene Leben kann sich im Gegensatz zum Erwachsenen nicht selbst schützen. Es ist zu 100% auf den Schutz angewiesen, welcher durch den Körper der Mutter gegeben ist, und zwar ganz natürlich. In einer Abtreibung stirbt ein ungeborenes Kind nicht wegen einem ungenügenden Schutzdispositiv oder fehlender Rücksichtnahme anderer Menschen, sondern weil dieser Tod der WILLE eines Menschen ist. Doch in unseren aufgeheizten Zeiten ist der differenzierte Diskurs in solchen Fragen fast nicht möglich. Die ‘Association fallacy’ ist eine der beliebtesten Kampfstrategien unserer Tage. Man diskreditiert bestimmte Gruppen durch Assoziation mit anderen unbeliebten Bevölkerungskreisen, unter Vermeidung der eigentlichen Sachfragen.
Ebenfalls interessant ist die Storyline bezüglich Abtreibung und Evangelikalen, wie sie der deutsche evangelische Theologe Thorsten Dietz in seinen ausführlichen Podcasts zur aktuelleren Kirchengeschichte präsentiert. Auch bei ihm finden die ersten Anfänge der evangelikalen Pro-Life Bewegung kaum Erwähnung. Immerhin identifiziert er Francis Schaeffer als eine für die Bewegung wesentliche Figur. Doch das Vokabular seiner Erörterungen spricht für den aufmerksamen Zuhörer eine Sprache für sich. Die evangelikale Positionierung im Vorfeld von Roe v. Wade hat ja, wie ich im vierten Artikel dieser Serie herausgearbeitet habe, Tür und Tor für eine völlig liberalisierte Abtreibungspraxis aufgetan. Dietz vermittlelt jedoch den Eindruck, es habe sich dabei um einen ‘mittleren’ und ‘massvollen’ Weg gehandelt. Doch die Evangelikalen hätten ‘im Nachhinein gelernt, das ganz schlimm zu finden’. Als Verantwortlicher für diese Entwicklung wird Francis Schaeffer identifiziert. Dieser habe dafür gesorgt, dass die Evangelikalen eine ‘radikale konservativ-katholische’ Position übernommen hätten. Schaeffer sei einer der ‘zentralen Erfinder der christlichen Rechten’ und Ronald Reagan sei dann ‘Schauspieler genug’ gewesen, um ‘perfekt zu performen’ für evangelikale Gruppierungen[9]. Anders gesagt: die Positionierung im Vorfeld von Roe v. Wade wird schöngeredet, die anschliessende Pro-Life Wende mit negativen Schlagworten problematisiert.
Wer all die negativen Narrative aufsummiert, steht vor dem Bild einer Pro-Life Bewegung, der niemand angehören möchte. Sie ist demnach frauenfeindlich, rassistisch, gefährlich rechts, verschwörungsanfällig, corona-skeptisch, von Opportunismus und politischem Kalkül bestimmt. Sie interessiert sich nicht für das Leben nach der Geburt und steht zudem ‘massvollen’ Lösungen im Weg, wie sie die Evangelikalen der ‘guten alten Tage’ angedacht hatten.
Die Frage ist: Stimmen diese Bilder? Mein Eindruck ist, dass es sich hier vor allem um Zerrbilder handelt, welche die Realität nicht korrekt abbilden. Zerrbilder haben in der Regel am Rand auch Wahres, doch sie geben die Realität nicht korrekt wieder. Sie beeinflussen aber unsere Wahrnehmung und prägen damit unser Verhalten. Diese Zerrbilder sind mit ein Grund, warum viele, welche grundsätzlich ein gewisses Wohlwollen gegenüber den Pro-Life Anliegen hätten, sich lieber davon abgrenzen, als dass sie die eigene Stimme erheben. Damit haben die Kräfte, welche ungehinderten Zugang zu Abtreibung möchten, ihr Ziel erreicht.
Näher an der Wahrheit
Wer die soeben erläuterten Narrative unkritisch liest, wird den Denkwegen folgen, welche deren Autoren möchten. Besonders heikel ist es, wenn Fachpersonen wie beispielsweise Historiker eine Neutralität vorgaukeln, welche gar nicht gegeben ist [10]. Am besten ist es, wenn man verschiedene Autoren konsultiert und die Primärquellen liest. So kann man sich eine unabhängige Meinung zu bilden. Dazu möchte ich meinen Beitrag leisten.
Ich fand es beim Lesen der Primärliteratur interessant, darauf zu achten, über was die jeweiligen Autoren NICHT reden. So ist all den oben skizierten negativen Narrativen gemeinsam, dass sie sich nie der grossen Frage an sich stellen: Was passiert, wenn einen Fötus abgetrieben wird? Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte definiert das Recht auf Leben ganz klar als Vorbedingung für die Ausübung aller anderen Menschenrechte[11]. Deshalb ist jede Diskussion von Rechten im Zusammenhang mit Abtreibung, welche sich nicht auch der Frage nach dem Lebensrecht des Ungeborenen stellt, eine Nebelpetarde, eine Ablenkung. Dessen sollten sich Menschen bewusst sein, welche beispielsweise die Freiheitsrechte einer Frau auf der gleichen Hierarchie-Ebene wie das Lebensrecht des ungeborenen Kindes diskutieren. Über die Freiheitsrechte der Frau kann nur gesprochen werden, weil ihr zuerst das Leben geschenkt wurde. Wenn das Kind im Mutterleib ein lebendiger Mensch ist, dann kann über dessen Tötung eigentlich nur im Zusammenhang mit einer Lebensgefahr für die Mutter gesprochen werden – oder man muss Argumente finden, um das Kind im Mutterleib zu entmenschlichen.
Weiter unterlassen es diese negativen Narrative generell, die formativen Jahre der Pro-Life Bewegung vor 1979 gebührend zu besprechen. Würden sie über diese Zeit schreiben, müssten sie nämlich über Menschen schreiben, welche mitnichten von politischem Opportunismus getrieben waren, sondern von einer tief empfundenen Not und von einer tiefen Überzeugung darüber, dass ungeborene Kinder ein Recht auf Leben haben. Sie müssten über Menschen schreiben, welche sich nicht nur durch Aktivismus gegen Abtreibung ausgezeichnet haben, sondern auch durch liebevolle und engagierte Zuwendung für Frauen in Notsituationen.
Koop: Die Menschen im Blick
Nur zwei Jahre nach Roe v. Wade, noch bevor irgendwelche Bücher zum Thema gedruckt oder politische Netzwerke geboren sind, entsteht 1975 auf Initiative von Harold O.J. Brown und C. Everett Koop die Organisation Christian Action Council zur Beratung und Unterstützung von schwangeren Müttern. Diese Organisation, welche heute CareNet heisst, etabliert ein rasch wachsendes Netz mit bald hunderten von Beratungsstellen und mehr als 100’000 jährliche Beratungen. Am Anfang der Pro-Life Bewegung steht also nicht einfach politischer Aktivismus, sondern auch soziales Engagement und ganz bestimmt auch ein Herz für die betroffenen Menschen, insbesondere der Frauen. Bei kaum jemand wird dies so deutlich, wie bei C. Everett Koop. Koop ist Kinderarzt und Advokat für Kinder mit Behinderungen. Er spezialisiert sich darauf, solchen Kindern und Neugeborenen durch chirurgische Eingriffe das Leben zu verbessern oder gar zu ermöglichen. Unter anderem entwickelt er neue Techniken zur operativen Trennung von siamesischen Zwillingen, welche ihm zu ungeahnter Prominenz verhelfen.
Der Roe v. Wade Entscheid von 1973 galvanisiert ein geistliches Erwachen in Koop[12]. Auch wenn Abtreibung in der Bibel ‘nicht mit der gleichen Klarheit’ wie gewisse andere Themen behandelt werde, schreibt Koop in seinen Memoiren, so sei er doch ‘durch das Lesen der Bibel’ zu einem leidenschaftlichen Advokaten für die Unantastbarkeit des Lebens geworden[13]. 1973, nur wenige Monate nach Roe v. Wade gibt er im Rahmen einer Rede zum Schulbeginn am renommierten evangelikalen Wheaton College folgende Prognosen[14]:
- Eine Zunahme von Widersprüchen innerhalb der Gesetzgebung: Warum braucht Piercing die Einwilligung der Eltern, Abtreibung bei Teenagermädchen aber nicht?
- Eine Zunahme von sogenannten ‘Mercy-Killings’ (Euthanasie)
- Die liberalisierte Abtreibungspraxis und die neue Sexualmoral würden sich gegenseitig befeuern und neue Gesundheitsrisiken mit sich bringen. (was in der Aids-Krise Realität wurde)
- Frauen würden durch die neue Abtreibungspraxis verstärkt ausgenutzt, unter anderem durch die gewinnorientierte Abtreibungsindustrie[15].
- Neugeborene Kinder würden als unwertes Leben deklariert.
Wie Koop in seinen Memoiren erläutert, seien alle Prognosen eingetroffen. Doch seine Sorge gilt nicht nur den Kindern, sondern auch der medizinischen Gilde. Seine durch langjährige Berufserfahrung geschärften Instinkte sagen ihm, dass das Verneinen des Lebensrechtes für Ungeborene bald auf dasjenige von Neugeborenen, insbesondere jenen mit Handikaps, ausgeweitet werden könnte. Dies nicht durch Gerichtsbeschlüsse oder Gesetzgebungen, sondern still und leise in den Gebärsälen des Landes. Tatsächlich habe sich kurz nach Roe v. Wade bei gewissen Ärzten das Vokabular eingeschlichen, beim Neugeborenen von einem ‘Fetus ex utero’, einem ‘Fötus ausserhalb der Gebärmutter’ zu sprechen. Genau dem Fötus hatte der oberste Gerichtshof aber erst gerade das Lebensrecht abgesprochen. Es sei für ihn verstörend gewesen zu sehen, wie der einzige Unterschied zwischen lebensrettenden Massnahmen und dem Entsorgen eines Kindes in einem Abfallsack die Frage war, ob es erwünscht war oder nicht[16]. Unter diesem Eindruck entstand 1976 sein erstes Buch «The Right to Live; The right to die”, ein Bestseller, der sich allein im ersten Jahr 100’000 Mal verkaufte. Koop wollte mit eigenen Worten ‘die evangelikale Gemeinschaft aufwecken bezüglich dieser wichtigen moralischen Frage, welche sie sich entschieden hatte, zu ignorieren’
Als Koop Anfang 80er von Reagan zum designierten Gesundheitsminister ernannt wird, zeigt sich, mit welchen Bandagen die Abtreibungsindustrie bereit ist, zu kämpfen. Nicht weniger als 9 Monate würde der parlamentarische Bestätigungsprozess dauern; nicht weniger als 100’000 USD hat alleine die Abtreibungsorganisation Planned Parenthood investiert, um seine Nomination zu bekämpfen[17].
Als Koop dann endlich Gesundheitsminister ist, kann er nur wenig gegen die gerichtlich legitimierte Abtreibung ausrichten, was ihm Kritik und teils gar Feindseligkeit von seinen Unterstützern einbringt[18]. Er ist jedoch der rechte Mann zur rechten Zeit. Als Advokat von vorbeugender Medizin und gesundem Lebensstil wird er der wohl prominenteste Kämpfer gegen das aktive und passive Rauchen und spielt eine entscheidende Rolle in der Bekämpfung der Aids-Krise. Hier gerät er wieder ins Visier von konservativen Kreisen, welche in der Aids-Seuche eine gerechte Strafe Gottes sehen und keinen Grund, ‘unmoralischen Menschen’ zu helfen. Koop antwortet lakonisch, er sei der Gesundheitsminister ‘für die Moralischen und die Unmoralischen’[19].
Koop regt zu einem vertieften Nachdenken darüber an, wie religiöse Ethik in einer pluralistischen Gesellschaft eingebracht werden kann[20]. Seine Pro-Life Haltung habe, wie Koop in seinen Memoiren betont, ‘nichts mit Politik zu tun’[21]. Umso mehr hatte es aber wohl mit seinem tiefen persönlichen Glauben zu tun. Koop bleibt bis zu seinem Lebensende leidenschaftlich Pro-Life und sorgt im Jahre 2009 im hohen Alter von 93 Jahren noch einmal für Aufmerksamkeit: In einem von ihm persönlich an Nancy Pelosi geschriebenen Brief fordert er Änderungen an einem Gesetz über Abtreibung.[22]
Schaeffer: die Gesellschaft im Blick
Neben den ersten sozialen Initiativen der Mitte 70er Jahre kamen sie dann noch – die Bücher und politischen Aktivitäten. Ab 1975 erscheint die erste themenspezifische Fachzeitschrift Human Life Review mit Harold O.J. Brown als Redaktor. Dieser publiziert 1977 das gründlich recherchierte Buch Death before Birth. Zwei Jahre später kommt mit Aborting America die Publikation eines ehemaligen Abtreibungsarztes Bernard N. Nathanson auf den Markt. Der Atheist Nathanson, der sich in den 90er Jahren dem Katholizismus zuwenden wird, ist ein Abtreibungsaktivist der ersten Stunde[23]. Sein Buch deckt die Machenschaften hinter der Kulisse der Abtreibungsindustrie auf. Der Wind hat angefangen, sich zu drehen.
Die Sensibilisierung der breiten Basis der Evangelikalen kommt 1979 durch die Zusammenarbeit von C. Everett Koop und Francis Schaeffer. Mit ihrem Buch- und Filmprojekt «Whatever Happened to the Human Race», touren der Kinderarzt und der christliche Apologet rund ein Jahr lang durch die USA und etablieren das Pro-Life-Anliegen an der evangelikalen Basis[24].
Das umfangreiche Wirken von Pro-Live Advokaten in den ersten Jahren nach Roe v. Wade ist ein Problem für Autoren wie Balmer. Denn die Pro-Life Bewegung ist als Basisbewegung bereits vorhanden, BEVOR der religiöse Politaktivist Jerry Falwell auf den Zug aufsteigt. Warum spricht Balmer zum Beispiel nicht darüber, wie im bewegungsstiftenden Buch von Schaeffer und Koop sich die Autoren dezidiert GEGEN Rassismus und Antisemitismus stellen?[25]. Warum berichtet er nicht darüber, wie Francis Schaeffer als Leiter der Wohngemeinschaft l’Abri in den Schweizer Bergen eine Willkommenskultur für Menschen aus allen Hintergründen und Lebensläufen pflegt und zum Ärger gewisser Leute auch interrassische Eheschliessungen begrüsst?[26].
Natürlich stimmt es, dass Schaeffer durch sein Wirken entscheidend zur Herausbildung eines politisch engagierten Evangelikalismus und einer konservativen christlichen Rechten in den USA beigetragen hat. Ihn pauschal als einen der ‘zentralen Erfinder der christlichen Rechten’ zu ‘framen’ wird aber der Komplexität seiner Person und der vielschichtigen Auswirkungen seines Schaffens nicht gerecht. Dies vor allem deshalb nicht, weil man damit im Jahre 2022 das Bild des ‘verblendeten Trump-Fanatikers‘ heraufbeschwört, für den die USA gleichbedeutend mit dem Reich Gottes ist. Doch Schaeffers Ansicht betreffend christlichen Nationalismus war sehr klar:
«Wir dürfen das Reich Gottes nicht mit unserem Land verwechseln. Um es anders zu formulieren: “Wir sollten das Christentum nicht in unsere nationale Flagge einwickeln.» [27]
Man kann sich fragen, warum gewisse Autoren nichts von solchen Zitaten wissen wollen? Nun – sie haben ein ganz bestimmtes Narrativ, eine Geschichte, welche sie ihren Lesern verkaufen wollen.
Richtig ist Folgendes. Schaefer will die Gestaltung der Gegenwartskultur nicht kampflos den Kräften des Humanismus überlassen, deren Vertreter in den 70ern grossen Einfluss ausüben. Zu deren Elite gehören auch die versammelten Wortführer der Abtreibungsbewegung wie beispielsweise Joseph Fletcher, Betty Friedan, Alan Guttmacher oder Lawrence Lader, welche alle vier zu den Erstunterzeichnern des Humanistischen Manifestes von 1973 gehörten[28].
Richtig ist auch, dass in den 70ern erste kirchliche Verbände tatsächlich mit aktiver Euthanasie von schwerbehinderten Kindern und schwerkranken Senioren zu liebäugeln beginnen[29]. Diese Trends versprechen nichts Gutes für die angebliche christliche ‘Kultur des Lebens’. Schaeffer nimmt diese Zeichen der Zeit wohl viel tiefer wahr, als die Vertreter eines dynamischen, aber gleichzeitig seichten Evangelikalismus. Durch die Wahl von Reagan sieht Schaeffer aber auch ein ‘Fenster der Möglichkeit’, welches Christen nutzen können. Sie können ihren Glauben nicht nur in Form von Spiritualität leben, sondern diesem Glauben auch ein Hirn, ein Herz und ein Paar Füsse geben [30]. Wahre Spiritualität müsse ‘das ganze Leben berühren’ und nicht nur die religiösen Dinge, so Schaeffer[31]. Dem kann man nur zustimmen.
Reagan: Darf man seine Meinung ändern?
Und der ‘perfekte Schauspieler’ Ronald Reagan? Nun, er hat in den späten 60er Jahren als Gouverneur von Kalifornien tatsächlich einige sehr liberale Gesetze verabschiedet, unter anderem ein liberales Scheidungsgesetz[32] und ein liberales Abtreibungsgesetz[33]. Doch bereits Mitte der 70er Jahre ist klar, dass er seine damalige Entscheidung bereut. Da ist Ronald Reagan bereits eindeutig im Pro-Life Lager angekommen.
Dass diese Neupositionierung von Reagan aus der Distanz als Opportunismus gesehen werden kann, ist verständlich. Und dass man einen ehemaligen Schauspieler als Präsidenten der Schauspielerei bezichtigt, ist ein Stück weit nachvollziehbar. Doch sowohl die damalige Berichterstattung, als auch die politische Realität der Siebziger, wie auch die Berichte von Weggefährten, legen echten Sinneswandel nahe. Ein Zeitungsartikel in der New York Times vom Februar 1976 zeigt, dass das 1967 von ihm unterzeichnete liberale Gesetz ihm eigentlich damals schon zu weit geht. Oder in den Worten Reagan’s: «Ich würde diesen Fehler nicht wieder machen.». Zudem gibt es zu diesem Zeitpunkt keine zwingenden, parteipolitischen Gründe für den Sinneswandel. Die Republikanische Partei ist in den 70er-Jahren die Partei der Wirtschaft, nicht der Familienpolitik. Reagan’s Sinneswandel ist wohl doch kein politischer Opportunismus.
Nicht zuletzt: nur weil man als Schauspieler gearbeitet hat, heisst das noch lange nicht, dass man ein Lügner oder unehrlicher Mensch sein muss. Diese Unterstellung trifft gerade bei Reagan nicht zu, der als einer der ehrlichsten US-Präsidenten der letzten Jahrzehnte gilt. “What you see is what you get” – würde ein ehemaliger Berater sagen[34]. Es habe ‘nicht zwei Reagans gegeben, den öffentlichen und den privaten’. Der Historiker Dr. Allan Carlson, welcher Reagan persönlich kannte, meint:
«Reagan hat sich geändert. Es war eine echte und tiefe Bekehrung zu Pro-Life und Pro-Familien Werten. Er war kein einfach gestrickter Mann, aber er war ein direkter Mann. […] Er wurde Pro-Life und Pro-Familie noch bevor es der Grossteil der republikanischen Partei wurde.» [35]
Ronald Reagan ist möglicherweise der einzige Präsident, der während seiner Präsidentschaft ein Buch publiziert hat. Der Titel lautet: «Abortion and the Consciece of the Nation» — Abtreibung und das Gewissen der Nation[36]. In die Amtszeit von Reagan wird nach Jahren des rasanten Anstiegs der Abtreibungen erstmals die Kurve entscheidend gebrochen. Nie mehr würden so viele Abtreibungen durchgeführt werden wie vor dem Amtsantritt von Reagan[37].
In einem Nachruf für die New York Times liest man 2004[38]:
«Ronald Reagans Werdegang zeigt, dass ihm kein Thema wichtiger war als die Würde und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens.»
Darf ein Mensch seine Meinung ändern, sich ‘bekehren’? Darf er das ohne danach gleich des Opportunismus oder der Schauspielerei bezichtigt zu werden? Ich meine ja.
Brown: wache Menschen in unklaren Zeiten
Die Abtreibungsbewegung um Larry Lader benötigt 7 Jahre – von 1966 bis 1973 – um ihre Agenda der landesweiten Legalisierung von Abtreibung durchzusetzen [39]. Es dauert auch 7 Jahre – von 1973 bis 1980 — bis der erste ausgesprochene Pro-Life Präsident gewählt wird und die ungebremste Zunahme von Abtreibungen in den USA gebrochen wird. Unerwähnt bleibt bis jetzt, wo auf evangelikaler Seite der erste Samen für diese erstaunliche Wende gelegt wird. Er wird in einem redaktionellen Kommentar gelegt, welcher drei Wochen nach dem Entscheid Roe v. Wade im Magazin Christianity Today erscheint. Darin zerlegt ein namentlich nicht erwähnter Autor mit messerscharfer Präzision die Urteilsbegründung des Gerichtes [40]:
«Das Gericht baut seine Urteilsbegründung auf dem Recht auf Privatsphäre und das ohne jegliche empirische oder logische Rechtfertigung. […] Aber das Recht auf Privatsphäre ist nicht absolut, und noch wichtiger, keine Entscheidung für eine Abtreibung kann jemals auch nur annähernd als eine private Sache betrachtet werden. Egal ob der Fötus nun ein vollwertiger Mensch ist oder nicht, er verdankt seine Existenz genauso dem Vater wie der Mutter, und ist damit ein eigenes Individuum, welches von diesen zu unterscheiden ist.»
«Der Gerichtshof stellt fest, dass die “antike Religion” Abtreibung nicht verbot; mit “antiker Religion” ist eindeutig das Heidentum gemeint, da das Judentum und das Christentum die Abtreibung verboten.»
«Indem die Mehrheit des Obersten Gerichtshofs zu diesem Urteil gelangt ist, hat sie ausdrücklich die christliche Morallehre abgelehnt und eine Haltung gebilligt, welche sie als antike Religion und als Norm des heidnischen griechischen und römischen Rechts bezeichnet. Diese habe, wie das Gericht in seiner Urteilsbegründung feststellt, ‘dem Ungeborenen wenig Schutz geboten’. Es ist nicht notwendig, zwischen den Zeilen zu lesen, um die spirituelle Bedeutung dieser Entscheidung zu erkennen, denn das Gericht hat sie kristallklar dargelegt.»
Jeder, der mit der nötigen Gründlichkeit die Geschichte der evangelikalen Pro-Life Bewegung studiert, müsste zum Schluss kommen, dass in diesem Kommentar der Zeitschrift ‚Christianity Today‘ der erste Same für die evangelikale Wende gesät wurde. Denn Fakt ist, dass der Kommentar eine klare Abkehr von der 5 Jahre zuvor publizierten Haltung ist [41]. Der Autor argumentiert mit bestechender Logik, dass auch ein nicht fertig entwickelter Embryo aufgrund seiner Abstammung von zwei verschiedenen Personen als eigenständiges Individuum betrachtet werden muss, und damit die Argumentation des Gerichts hinfällig ist. Ebenso deckt er die erstaunliche Tatsache auf, dass das Gericht für seine Begründung auf die heidnische Kultur der Römer und Griechen zurückgreift. Sie hat also mitnichten ein wertneutrales Urteil gefällt, sondern sie hat das jüdisch-christliche Wertesystem zugunsten einer heidnischen Religiosität verworfen!
Klare Worte!
Möglicherweise passt diese umgehende und scharfe Antwort auf Roe v. Wade in der einflussreichsten evangelikalen Zeitschrift nicht ins Konzept von vielen Geschichtsschreibern unserer Zeit. Anders lässt sich kaum erklären, wie wenig Beachtung sie findet. Einzig beim Historiker Allan Carlson, der selber Pro-Life ist, finden wir eine gebührende Würdigung dieser evangelikalen Epochenwende[42].
Randall Balmer beispielsweise behauptet, ein Artikel aus dem Jahre 1976 von seinem ehemaligen Professor in Kirchengeschichte, Harold O.J. Brown, sei die erste, halbwegs robuste evangelikale Antwort auf Roe v. Wade . Nun, vielleicht hätte er genau bei diesem ein bisschen besser aufpassen müssen im Unterricht. Er hätte dann seine Nachforschungen etwas gründlicher gemacht und entdeckt, dass auch der 73er Artikel von seinem ehemaligen Professor war, von Harold O.J. Brown. Denn einige Jahre vor seinem Tod erklärt Brown in einem lesenswerten Appell, wie er damals als Assistenzredaktor bei Christianity Today zum Verfassen des redaktionellen Artikels kam:
“Einige der führenden Vertreter der evangelikalen protestantischen Gemeinschaft reagierten mit Entsetzen auf Roe. Harold Lindsell, der Chefredaktor von Christianity Today, erkannte sofort den abscheulichen Charakter der Entscheidung und beauftragte mich, einen Leitartikel zu schreiben, indem dieser Entscheid angeprangert wird.” [43]
Dieser Einblick zeigt nicht nur, was die Absicht hinter dem Artikel war, sondern auch, dass da noch einige weitere Personen sind, welche mit klarem Blick die Zeichen der Zeit lesen können. Zu diesen gehören, wie es scheint, auch der damalige Chefredaktor Lindsell [44]. Doch Harold O.J. Brown ist es, der den Auftrag bekommt, diesen wichtigen Artikel zu schreiben. Er ist der richtige Mann für den Job. Er ist das ‘Gehirn’ der Pro Life-Bewegung. Everett Koop mag berühmt sein und als Arzt ein perfekter Fürsprecher für die Bewegung. Schaeffer mag ein brillanter Kommunikator und visionärer Leiter sein. Doch von der ersten Stunde an ist es Brown, welcher die analytische geistige Arbeit leistet, der die Fakten und Argumente liefert für die zu werdende Bewegung.
Während die gut geschliffenen Bücher von Koop und Schaeffer wie ‘warme Brötchen’ über den Ladentisch gehen, gleichen Browns Bücher eher einer Reihe von Bohrlöchern, welche er tief in die intellektuellen und existenziellen Fragen seiner Zeit hineintreibt. Ob Politik, Kirchengeschichte, Theologie, Soziologie, Statistik, Biologie oder Ethik: Brown beschafft die Fakten. Er studiert die reelle Lage und fördert zutage, was die junge Pro-Life Bewegung braucht, um ihren Fall zu begründen. Mit nicht weniger als 4 verschiedenen Abschlüssen an der renommierten Harvard Universität und längeren Studienaufenthalten in Europa, ist er bestens qualifiziert. Brown ist der jüngste der ‘drei Musketiere’, aber er ist hellwach. Dazu kommt sein Mut zu Handeln. Im Grossen und im Kleinen. Bereits als 31-Jähriger holt er 1964 Francis Schaeffer aus den Schweizer Alpen nach Boston für eine Vortragsserie. Damit steht er nicht nur am Anfang der evangelikalen Pro-Life Bewegung, sondern auch am Anfang von Schaeffers wachsendem Einfluss in den USA.
Anfang 1973 ist Brown genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort: im kommunikativen Herzen der Evangelikalen Bewegung, bei ‘Christianity Today’. Es kostet ihn mehrere Anläufe, bis er die Stelle in der Redaktion zugesprochen bekommt. Vermutlich bleibt er aus guten Gründen hartnäckig. Denn der junge Brown, der selbst gerne in den Schweizer Bergen Ski fährt[45], in den späten 60ern in Lausanne als Sekretär der Internationalen Studentenmission arbeitet[46], anfangs 70er in Basel Kirchengeschichte unterrichtet[47] und ein guter Freund des auf St. Chrischona wirkenden Theologen Klaus Bockmühl ist[48], ist tief besorgt.
Brown’s Sorge bringt er schon 1969 in seinem ersten Buch «The Protest of a Trouble Protestant» (Der Protest eines beunruhigten Protestanten) zum Ausdruck. Darin hält Brown der theologischen Prominenz seiner Zeit den Spiegel vor, welche sich lieber gleich modernen Gurus von der 68er Bewegung feiern lässt, als Gott gemäß seinem heiligen Willen zu dienen. Für Brown’s Kommentar an die theologische Gilde: „Die Theologie eines ungehorsamen Menschen ist keine Gotteserkenntnis“[49]. Nun ist Brown im publizistischen Herzen der Evangelikalen angekommen und kann seine Kenntnisse wirksam einsetzen.
Brown hilft den geschichtsignoranten Evangelikalen auf die Sprünge indem er klarstellt, dass „Christen von den frühesten Tagen an Abtreibung […] als schweres Vergehen betrachtet haben.“[50] Brown ist derjenige, welcher eine Verbindung zu den Katholiken herstellt, die sich ja bereits intensiv gegen die Legalisierung von Abtreibung engagieren. Er betont die Einheit der Christen auf dem Fundament der frühkirchlichen Bekenntnisse und ist, wie ein katholischer Publizist es formuliert, „das vielleicht beste Beispiel für eine Ökumene ohne Kompromisse“.
Brown bleibt bis an sein Lebensende ein entschiedener Kämpfer für das Recht auf Leben der Ungeborenen.
Fazit
Damit ist die Geschichte der verworrenen Wege der evangelikalen Bewegung in Sachen Abtreibung erzählt. In den späten 60er- und frühen 70er-Jahren erliegt sie beinahe den irreführenden Narrativen der Zeit. Die evangelikale Denkelite versagt. Nur Dank dem beherzten Auftreten einer neuen Generation von Leitern wird das Unheil abgewendet. Der Blick auf diese Geschichte zeigt, wo die Schwachstellen sowohl der evangelikalen Bewegung, als auch der Pro-Life Bewegung liegen könnten, und regt hoffentlich zum Nachdenken über unsere Zeit an.
Von Koop können wir, denke ich, viel darüber lernen, was die Kultur einer guten Pro-Life Bewegung sein muss. Eine Bewegung kann nicht moralische Überlegenheit für sich in Anspruch nehmen, aber dann selbst eine fragliche Ethik befolgen. Dies sollte sich die Pro-Life Bewegung hinter die Ohren schreiben und dabei von Koop lernen.
Für die evangelikale Bewegung können die Ereignisse von damals eine Mahnung sein. Ob die Bibel für diese Bewegung ‘zuverlässige Offenbarung des dreieinen Gottes’[51] ist, wird sich immer wieder daran zeigen müssen, ob dieser Offenbarung in den heissen und schwierigen Fragen der Zeit auch die gebührende Vorrangstellung eingeräumt wird. Die Bibel hat auch bei den Evangelikalen heissgeliebte Konkurrenten: Den Wunsch nach Harmonie, die Priorität der Beziehungsgeflechte und Interessensverbandelungen in den Leitungsetagen, die Sehnsucht nach gesellschaftlicher Anerkennung.
Sowohl Schaeffer als auch Brown würden sich in den 80er Jahren durchaus kritisch über die evangelikale Bewegung äussern, von der sie selbst Teil waren. So äussert Schaeffer 1984 in seinem letzten Buch die folgende Diagnose:
«Hier liegt die grosse evangelikale Katastrophe — das Versagen der evangelikalen Welt, für die Wahrheit als Wahrheit einzustehen. […] Wenn unser Reflex immer die Anpassung ist, unabhängig davon, wie zentral die Wahrheit ist, dann stimmt etwas nicht.» [52]
Brown spricht 1986 eine ähnliche Warnung aus. Der Evangelikalismus habe sich zu einer Art diffusem ‘kleinstem gemeinsamen Nenner von pietistischen und erwecklichen Elementen’ ohne solide biblische Grundlage entwickelt. Brown sieht zwar weiterhin zahlenmässiges Wachstum für die Bewegung voraus, ortet aber die gefährliche Tendenz, theologische Überzeugungen und Kontroversen aus ökumenischen Erwägungen zu relativieren — auf die Gefahr hin, dass die Bewegung ihr Profil verliert[53].
Wer die Geschichte der Evangelikalen mit der Abtreibungsfrage kennt, der kann solche Aussagen einordnen. Wer die evangelikale Bewegung liebt, der wird hoffentlich gut zuhören, wenn die Personen sprechen, welche vor 50 Jahren die evangelikalen Bewegung auf den ‘Weg des Lebens’ zurückgerufen haben.
Ja, manchmal ist Umkehr ein Fortschritt. C.S. Lewis hat das vor 70 Jahren treffend formuliert:
“Wir alle wollen Fortschritt. Aber Fortschritt heisst doch, dass wir dem Ort näher kommen, den wir erreichen wollen. Und wenn man falsch abgebogen ist, kommt man diesem Ort gerade nicht näher, wenn man weiter vorwärtsgeht. Wenn man auf der falschen Strasse ist, heisst Fortschritt, eine Kehrtwende zu machen und zurück zur richtigen Strasse zu gehen; in diesem Fall ist derjenige, der als erstes umkehrt und zurückgeht, der Fortschrittlichste.” [54]
Für dich und mich können die Ereignisse von damals eine Ermutigung sein. Umkehr ist möglich, sowohl für einen amerikanischen Präsidenten, als auch für eine ganze Bewegung. Damit dies geschehen kann, sucht Gott in unklaren Zeiten nach wachsamen Menschen, welche mit seiner Hilfe da auftreten, wo es sie braucht.
Mein Gespräch zum Thema mit Dr. Allan Carlson:
Die Serie im Überblick:
Abtreibung (1/5) – ein heiliges Werk?
Abtreibung (2/5) — eine Theologie
Abtreibung (3/5)– Prediger der Eugenik
Abtreibung 4/5 – Evangelikale am Scheideweg
Abtreibung 5/5 – Wenn Umkehr Fortschritt bedeutet
Weitere Artikel im Zusammenhang:
DNA (3/10): Leidenschaftlich für den Schutz des Lebens
Chesterton und das Wunder von England.
Fussnoten:
[1] Vergleiche dazu sein Buch Traps fort he Young, 1883
[2] Nicola Beisel, zitiert aus https://www.touchstonemag.com/archives/article.php?id=22–05-016‑f
[3] Der Zusammenhang lässt sich auch an den Biografien einzelner Pastoren beobachten. Der liberale Rev. Howard Moody zum Beispiel, der in den späten 60ern ein Netzwerk für die illegale Vermittlung von Abtreibungen aufgebaut hatte, wendete sich unmittelbar nach Roe v. Wade dem Kampf für die Legalisierung von Prostitution zu. Er öffnet die Türen seiner Kirche für pornografische Theater-Inszenierungen. Leider ist er im Zeitraum der 60er- und 70er-Jahren kein Einzelfall. So hat auch der Methodistenpfarrer Ted McIlvenna den gleichen Weg beschritten in die kirchlich sanktionierte Pornografie und sexuelle Freizügigkeit.
Es gilt hier aber auch neue Trends mit hineinzudenken. Möglicherweise hat Pornografie in unseren Tagen nicht nur Promiskuität als Auswirkung, sondern befeuert auch den umgekehrten Trend hin zu einer Sex-Feindlichkeit. Vgl: https://thinktheology.co.uk/blog/article/poor_billie
[4] So gab es in den 90er Jahren mehrere Attentate auf Abtreibungsärzte durch radikalisierte Abtreibungsgegner. Vgl dazu Tom Davis, Sacred Work, 2005, S171-173
[5] Marie Griffith, Moral Combat, 2017, S228
[6] Davis war selbst Mitglied des ‘Clergy Consultation Service on Abortion’, welches in den späten 60er und frühen 70er hunderttausenden von Frauen illegale Abtreibungen vermittelte. Vgl: Doris Andrea Dirks, To offer Compassion, S156
[7] Tom Davis, Sacred Work, 2005, S168
[8] Randall Balmer, Bad Faith, 2021, xiv
[9] DAS WORT & DAS FLEISCH | 1.3 Die christliche Rechte, Zeitfenster: 24:16 bis 30:00 und 38:26 bis ca 41:00
[10] Randall Balmer beispielsweise, bemüht in seinem Buch intensiv seine evangelikalen Wurzeln, aber er verschweigt seine eigene politische Verflechtung. So wird er 2004 als Kandidat der Demokraten in den Wahlen zum Parlament von Connecticut durch den Kandidaten der Republikaner vernichtend geschlagen.
[11] https://www.humanrights.ch/de/ipf/grundlagen/rechtsquellen-instrumente/aemr/artikel-03-aemr-recht-leben-freiheit
[12] https://youtu.be/9GdgpO7EiqA?t=224
[13] C. Everett Koop. Koop, The Memoirs of America’s Family Doctor, 1991, S263-264
[14] C. Everett Koop. Koop, The Memoirs of America’s Family Doctor, 1991, S265-266
[15] Die Frage ob Frauenfeindlichkeit die Motivation war für die Pro-Life Bewegung bekommt eine andere Qualität, wenn man sich die Zustände in den Abtreibungskliniken jener Zeit zu Gemüte führt. Zum Beispiel dokumentiert die säkulare Autorin Magda Denes 1976 in ihrem Buch «In Necessity and Sorrow» wie entwürdigend viele Frauen ihre Abtreibung empfanden. In Buch «Subverted» aus dem Jahre 2015 zeichnet Sue Ellen Browder nach, wie sich die Feministische Bewegung der 60er Jahre über der Frage der Abtreibung faktisch gespalten hat.
[16] C. Everett Koop. Koop, The Memoirs of America’s Family Doctor, 1991, S265
[17] C. Everett Koop. Koop, The Memoirs of America’s Family Doctor, 1991, S132
[18] Tatsächlich, so Koop in seinen eigenen Worten, habe er die Gesinnung und die Aktivitäten gewisser Gleichgesinnter als verstörend empfunden. Deren schrille und auf Rache ausgerichtete Rhetorik empfand er als beleidigend. Noch mehr beunruhigt habe ihn die Abwesenheit von persönlicher Integrität und fehlende akademische Qualität in gewissen Pro-Life Publikationen. Das seien die Leute gewesen, die sich gegen ihn gerichtet hätten, als er in seiner Rolle als Gesundheitsminister nicht wie gewünscht geliefert habe. Die Pro-Life Kräfte hätten, unter Inanspruchnahme einer moralischen Überlegenheit, zu oft selber fragliche Ethik angewendet. Vgl. C. Everett Koop. Koop, The Memoirs of America’s Family Doctor, 1991, S269
[19] Koop in seinen Memoiren: «Ein großer Teil der Konservativen im Lande sagte: ‘Sie haben verdient, was sie bekommen haben. Ignoriert sie einfach und lasst sie sterben.’ Nun — man kann nicht Arzt sein und das tun.… Ich bin der Gesundheitsminister für die moralischen und die unmoralischen. Man behandelt sie wie jeden anderen Patienten, der zu einem kommt und Hilfe braucht.» C. Everett Koop. Koop, The Memoirs of America’s Family Doctor, 1991, S263
[20] C. Everett Koop. Koop, The Memoirs of America’s Family Doctor, 1991, S284
[21] C. Everett Koop. Koop, The Memoirs of America’s Family Doctor, 1991, S263
[22] https://www.christianitytoday.com/news/2009/november/c‑everett-koops-letter-shuts-down-reids-office.html
[23] Nathanson war nicht weniger als der Weggefährte von Lawrence Lader und Betty Friedan. Gemeinsam hatten sie NARAL gegründet, die Organisation welche nur das Ziel hatte, Abtreibung im ganzen Land zu legalisieren. Doch bereits 1973 kommen bei Nathanson die Überzeugungen ins Wanken, als er erste Ultraschallbilder von Kindern sieht. Zuvor hatte er als Arzt bereits tausende von Abtreibungen verantwortet.
[24] Der Film ist auf Youtube verfügbar und noch heute sehenswert: https://www.youtube.com/watch?v=py02pQTyeTE
[25] Schaeffer/Koop, Whatever happened to the human Race, 1979, S81
[26] https://www.covenantseminary.edu/francis-schaeffer-the-man-and-his-message/
[27] Fancis Schaeffer, A Christian Manifesto, 1981, S121, eigene Übersetzung
[28] https://americanhumanist.org/what-is-humanism/manifesto2/
[29] So der Antrag von 11 prominenten Theologen, Medizinern und Anwälten an die Synode der Kanadischen Anglikaner im Juli 1977, Siehe New York Times, 28. Juli 1977, Anglican Report in Canada Leans Toward Euthanasia
[30] Vgl. z.B. Fancis Schaeffer, A Christian Manifesto, 1981, S132
[31] Fancis Schaeffer, A Christian Manifesto, 1981, S124
[32] No-fault divorce, https://en.wikipedia.org/wiki/No-fault_divorce
[33] https://www.nbcbayarea.com/news/local/reality-check-ronald-reagan-increased-taxes-and-liberalized-abortion-as-cas-governor/1971524/
[34] https://thehill.com/opinion/white-house/481476-reagans-honesty-remains-an-example-for-presidents
[35] https://youtu.be/81wzY_yTIpM?t=4314 , eigene Übersetzung
[36] Der Text kann hier nachgelesen werden: https://humanlifereview.com/abortion-and-the-conscience-of-the-nation-ronald-reagan-the-10th-anniversary-of-the-supreme-court-decision-in-roe-v-wade-is-a-good-time-for-us-to-pause-and-reflect-our-nationwide-policy-of-abortion‑o/
[37] https://www.economist.com/graphic-detail/2017/01/18/the-abortion-rate-in-america-falls-to-its-lowest-level-since-roe-v-wade
[38] https://www.nytimes.com/2004/06/11/opinion/for-reagan-all-life-was-sacred.html ; eigene Übersetzung
[39] Vgl dazu den ersten Artikel in dieser Serie.
[40] Christianity Today, 16. Feb 1973, Artikel: Abortion and the Court, eigene Übersetzung
[41] Vgl dazu: Christianity Today, 8. November 1968
[42] Allan Carlson, Godly Seed, 2012, S150-155
[43] https://www.illinoisreview.com/illinoisreview/2007/04/mr_president_te.html ; eigene Übersetzung
[44] https://en.wikipedia.org/wiki/Harold_Lindsell
[45] Brown hatte eine enge Beziehung in die Schweiz. So arbeitete er in den 60er Jahren in Lausanne als theologischer Sekretär der Internationalen Studentenmission und unterrichtete Anfang 70er Kirchengeschichte an der Freien evangelischen Akademie in Basel. Brown war mit dem bekannten deutschen Theologen Klaus Bockmühl befreundet, der in den 70er Jahren auf St. Chrischona bei Basel unterrichtete. Zwischen 1983 und 1987 war er Pastor einer Kirche in Klosters, Graubünden.
[46] Vgl. Biografische Anmerkungen in: Harold Brown, Evangelium und Gewalt, 1971
[47] Unterricht an der Freien Evangelischen Akademie in Basel, vgl. Biografische Anmerkungen in: Harold Brown, Evangelium und Gewalt, 1971
[48] Auf Anfrage schreibt Elisabeth Bockmühl, Witwe von Klaus Bockmühl im November 2021: «Ja, wir haben H. Brown (genannt Joe) gekannt. Ich glaube, er hat in Basel studiert, wohl mit meinem Mann und zur Zeit von Karl Barth.»
[49] Harold Brown, «Kirche im Ausverkauf? Protest eines beunruhigten Protestanten», 1970, S18
[50] Christianity Today, 16. Feb 1973, Artikel: Abortion and the Court
[51] Vgl. zum Beispiel die Glaubensbasis der Evangelischen Allianz.
[52] https://gracequotes.org/quote/here-is-the-great-evangelical-disaster-the-failure-of-the-evangelical-world-to-stand-for-truth-as-truth-there-is-only-one-word-for-this-accommodation-the-evangelical-church-has‑a/ ; eigene Übersetzung
[53] Harold O.J Brown, Evangelism in America, Dialog 24, 1986, S191; Wiedergegeben aus Promise Unfullfilled, Rolland McCune, 2004, S312
[54] C.S. Lewis, Pardon ich bin Christ
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