Der Versuchung beinahe erlegen! — so könnte die evangelikale Geschichte hinsichtlich Abtreibung beschrieben werden. Doch die evangelikale Bewegung schafft in den 70er-Jahren eine Wende, welche in eine der stärksten gesellschaftlichen Bewegungen der neueren Geschichte hineinmündet: die Pro-Life Bewegung. Angestoßen wird diese von einer kleinen Gruppe von Pionieren, deren Verdienste heute gerne übergangen werden.
Jede Zeit hat ihre mächtigen Versuchungen, denen wir nur schwer widerstehen können. Das Problem: sie kommen in einem attraktiven Kleid daher. Und wir erliegen ihnen nicht, weil wir uns auf die ‚dunkle Seite der Macht‘ schlagen wollen, sondern weil die Versuchungen uns Lösungen zeigen, welche uns gut und richtig dünken.
Auch die Bewegung für eine legalisierte Abtreibung präsentierte sich in einem attraktiven Kleid. Im ersten Artikel dieser Serie habe ich ihr Narrativ erarbeitet. Abtreibung sei ein Akt der Barmherzigkeit für Frauen und Paare in schwierigen Situationen – ein Akt der Befreiung, damit Frauen über ihren eigenen Körper bestimmen könnten – ein Instrument zur Familienplanung und somit ein Dienst an der Menschheit, welche von Übervölkerung und Hungersnöten bedroht ist.
Vor 50 Jahren erliegt die evangelikale Bewegung beinahe der Versuchung dieses Narrativs. Doch eine kleine Schar von Personen, begabt mit Klarsicht und leidenschaftlicher Entschlossenheit, ändert den Kurs der ganzen Bewegung. Unter diesen Personen befinden sich mit Francis Schaeffer und Harold O.J Brown zwei Personen mit Bezug in die Schweiz. Unter diesen Personen befindet sich auch der bekannte Kinderarzt C. Everett Koop. Die Geschichte ist erstaunlich, aufrüttelnd und lehrreich.
Der unterschriebene Vorvertrag
Es ist schwierig, im Nachhinein den Geist der späten 60er- und frühen 70er-Jahre in Worte zu fassen. Aber folgendes kann man wohl sagen: Der Duft von Revolution und radikaler Neuorientierung liegt in der Luft. Neue Ideen, dynamische Bewegungen und massiv empfundene Bedrohungen geben der Zeit ihr Gepräge. Es ist die Zeit von Martin Luther King und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Die Zeit der ersten Mondlandung. Der feministischen Bewegung und den Stonewall Riots. Die Zeit der Antikriegsbewegung und dem kalten Krieg. Die Zeit der Ängste vor Überbevölkerung. Die Zeit der Antibabypille, der Hippies und des anbrechenden Wassermanns.
50 Jahre später bezieht sich Papst Benedikt auf diese Zeit und sagt: «Die bisher geltenden Massstäbe in Fragen Sexualität sind vollkommen weggebrochen»[1]. Wie wohl selten zuvor war die westliche Welt, angeführt von den USA, bereit, sich auf ganz neue Ideen einzulassen oder für diese zu kämpfen. Und als in dieser Stimmung die Ideen liberaler Theologen von legitimer Abtreibung in der theologisch konservativen evangelikalen Welt eintreffen, ist diese nicht darauf vorbereitet.
Mit ihren Wurzeln im amerikanischen Fundamentalismus (Anm: nicht zu verwechseln mit heutigen Definitionen von Fundamentalismus) standen Evangelikale in den ersten Jahren ihrer Bewegung künstlichen Verhütungsmitteln kritisch gegenüber. Doch Mitte der 60er-Jahre würde der bekannte evangelikale Theologe John Warwick Montgomery so etwas wie einen neuen evangelikalen Konsens formulieren: Geburtenkontrolle ja, Abtreibung nein.
Es war die Zeit der aufkommenden Pille, und im Entscheid Griswold v. Connecticut des Obersten Gerichtshofs hatte Planned Parenthood 1965 landesweit die Legalisierung von Verhütungsmitteln erstreiten können. Montgomery lieferte den Evangelikalen die theologische und ethische Rechtfertigung zum Gerichtsentscheid. Seine Kritik an der konservativen Position der Katholiken in dieser Frage war beißend. Die Katholiken führten ein Argument aus dem ‘Naturrecht’ an und vertraten die Ansicht, dass Geburtenkontrolle eine Sünde ist. Dieses Argument, meinte Montgomery, sei ‚bizarr‘. Es sei schwierig einzusehen, warum der Mensch ‚legitimerweise “natürliche” Phänomene wie die Vegetation und die Tierpopulation kontrollieren kann‘, aber nicht in der Lage sei, ‚ohne Sünde seine eigene Zahl angesichts eines starken Bevölkerungsdrucks zu kontrollieren‘[2].
Wie sollen christliche Ehepartner die Frage der Geburtenkontrolle praktisch entscheiden? Montgomery definiert eine evangelikale Mitte-Position. Für ihn ist klar[3]:
„Sie sollten die Frage persönlich und unter Gebet im Lichte ihrer eigenen körperlichen, emotionalen, finanziellen und geistlichen Situation und im Lichte der Bevölkerungsentwicklung in ihrem Teil der Welt prüfen. Sie werden verantwortungsbewusst handeln und dabei bedenken, dass die römisch-katholischen Gegner der Geburtenkontrolle als auch die säkularistischen Befürwortern der Geburtenkontrolle verantwortungslos sind.“
Im Kampf um die Legalisierung von künstlichen Verhütungsmitteln hatten die säkularen Advokaten unter anderem damit argumentiert, dass die ‚Pandemie der Abtreibung‘ damit gebrochen werden könne[4]. Doch das Gegenteil traf ein. Die Legalisierung von künstlichen Verhütungsmitteln bewirkte nicht den angekündigten Rückgang, sondern einen ungeahnten Anstieg der Abtreibungszahlen. Die neuen Verhütungsmöglichkeiten befeuerten nämlich die Promiskuität und die Ansicht, dass wir im Konfliktfall ein Recht auf individuelle Lebensgestaltung haben, das über dem Lebensrecht des Ungeborenen steht. In der Times Magazine Ausgabe vom 07. April 1967 über die Pille, kommt diese Denkweise im Statement einer jungen Frau gut zum Ausdruck[5]:
„Als ich geheiratet habe, war ich noch in der Ausbildung, und ich wollte sicher sein, dass ich fertig werde. Jetzt wollen wir ein Haus kaufen, und das wird viel früher möglich sein, wenn ich unterrichte. Mit der Pille weiß ich, dass ich weiterhin Geld verdienen kann und mir keine Sorgen um einen ‚Unfall‘ machen muss, der alles ruinieren würde.“
Nun, die ‚Unfälle‘ passierten eben vermehrt. Und legalisierte Abtreibung war die Lösung, damit ungewollte Kinder im neuen Zeitalter von Selbstverwirklichung und sexueller Freiheit nicht ‚alles ruinieren‘ würden. Die säkularen Leitfiguren, welche erst gerade noch Verhütungsmittel als Instrument zur Eindämmung der ‚Pandemie der Abtreibung‘ verkauft haben, sind selbstverständlich sofort zur Stelle, um nun auch die Legalisierung von Abtreibung zu fordern.
Unter dem Einfluss dieser Entwicklungen gerät der erst kürzlich etablierte evangelikale Konsens nahezu sofort ins Wanken. 1968 versammeln sich die klugen Köpfe der Evangelikalen unter dem Patronat ihres publizistischen Flaggschiffs Christianity Today, um Fragen von Verhütung, Sterilisierung und Abtreibung zu debattieren. Die Ergebnisse werden in einem umfangreichen Buch[6] und in einer thematischen Ausgabe des Magazins[7] publiziert unter dem Titel: «Ein protestantisches Bekenntnis zur Kontrolle der menschlichen Fortpflanzung» [8]. Das Fazit des Symposium: Die Fachleute sind sich nicht einig, ob es sich bei einer eingeleiteten Abtreibung um eine Sünde handelt oder nicht. Einig sind sie sich jedoch darin, dass es manchmal Abtreibung brauche und dass sie unter Umständen erlaubt sein sollte. Dieser allgemeine Konsens wird mit zum Teil höchst erstaunlichen Aussagen begründet[9]:
«Die Bibel verbietet weder die Empfängnisverhütung noch die Abtreibung ausdrücklich.»
«In der Frage, ob die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs sündhaft ist oder nicht, sind wir uns nicht einig, wohl aber in der Frage, ob er unter bestimmten Umständen notwendig und erlaubt ist.»
«Der christliche Arzt wird zu einem Schwangerschaftsabbruch nur raten, um höhere Werte zu schützen, die von der Heiligen Schrift sanktioniert werden. Diese Werte können individueller, familiärer oder gesellschaftlicher Art sein.»
«Viel menschliches Leid kann gelindert werden, indem die Geburt von Kindern verhindert wird, bei denen ein vorhersehbar hohes Risiko einer genetischen Krankheit oder Abnormität besteht. Dies scheint ein vernünftiges christliches Ziel zu sein.»
«Die Kontrolle der menschlichen Fortpflanzung erfordert die Aufmerksamkeit der Christen im Hinblick auf die verzweifelten Bedürfnisse nicht nur von Einzelpersonen und Familien, sondern auch von Nationen und Völkern, einschliesslich unseres eigenen.»
Mit diesen Aussagen hat die damalige evangelikale Elite die Türe weit offen gelassen für Abreibungen genereller Art, Abtreibung von ‚Kranken‘ aus eugenischen Gründen, Abtreibungen zur Bevölkerungskontrolle sowie Sterilisation von mental unzurechnungsfähigen Personen.
Bestimmt sind die veröffentlichten Aussagen des Symposium in evangelikalen Kreisen nicht überall auf Begeisterung gestossen. Oft tickt die kirchliche Basis konservativer als deren Leiter. Und die evangelikale Bewegung war auch in den 60er Jahren schon ein ziemlich ‘bunter Haufen’. Doch die Stoßrichtung war mit den Ergebnissen des Symposiums gegeben. Die vermeintlich ‘bibelfesten’ und ‘konservativen’ Evangelikalen hatten sich – zumindest in ihrer Elite, auf einen vertieften Flirt mit dem revolutionären Geist der 68er-Jahre eingelassen.
Als dann im Jahr 1973 Abtreibung in den USA legalisiert wird durch Roe v. Wade, ist die Resonanz in evangelikalen Kreisen relativ gering, einige Leiter äussern sogar Zustimmung. So meint der prominente Pastor und zweimalige Präsident der südlichen Baptisten, W. A. Criswell[10]:
«Ich habe immer empfunden, dass ein Kind erst nachdem es geboren ist und ein Leben unabhängig von der Mutter hat, als eigene Person angesehen werden kann. Deshalb habe ich mich immer auf den Standpunkt gestellt, dass das, was das Beste für die Mutter und für die Zukunft ist, erlaubt werden sollte.»
Wie es zu dieser erstaunlichen evangelikalen Stellungnahme kam, ist natürlich eine komplexe Angelegenheit. Ich versuche einige Faktoren davon zu beschreiben, welche ich als mitbestimmend ausmache.
1. Katholiken als latentes Feindbild
Die evangelikale Bewegung bemühte sich grundsätzlich um Anschluss und Allianzen über die Grenzen von Denominationen hinweg. Doch bei den Katholiken war es kompliziert. Latente Feinseligkeit gegenüber Katholiken ist wohl immer ein fester Bestand der protestantischen DNA gewesen. Die Verfechter von Geburtenkontrolle oder Abtreibung haben dieses Feindbild über Jahrzehnte geschickt ausgenutzt mit dem Ziel, den historischen gesamtchristlichen Konsens in sexualethischen Fragen aufzubrechen.
So prangerte beispielsweise Margaret Sanger in den 20er- und 30er-Jahren die restriktiven Gesetze im Bereich Verhütung und Sexualität als ‘katholisches Übel’ an. Damit fand sie unter den protestantischen Pastoren neue Freunde. Das Ganze war natürlich eine Lüge, denn die US-Gesetze ihrer Zeit waren voll und ganz aus der Initiative von Protestanten entstanden, allen voran Antony Comstock. Aber bekanntlich ist der Feind deines Feindes dein Freund. Aus Gründen der Abgrenzung von den Katholiken liefen die protestantischen Pastoren bald scharenweise in die Arme der Geburtenkontrollbewegung, die von Margaret Sanger ausging.
In den 60er Jahren wiederholt sich dieselbe Geschichte, nur diesmal in Sachen Abtreibung. Protestanten sollten ihre «unausgesprochene aber inhärente Unterwürfigkeit unter die katholische Lehre» abschütteln, fordert der Abtreibungs-Lobbyist Larry Lader[11]. Wieder werden latente protestantische Vorbehalte gegenüber Katholiken geschickt benutzt und genährt. Der ‘gute Protestant’ dürfe sich doch nicht einfach der konservativen katholischen Position anschliessen, sondern müsse eine eigenständige, von gutem freiheitlichem Protestantismus geprägte Position einnehmen!
Als im Juli 1968 die Katholische Kirche in ihrer Enzyklika Humanae Vitae zum Erstaunen der ganzen Welt ihre konservative Sexualethik bekräftigt, könnte der Kontrast zum wenige Wochen vorher stattgefundenen evangelikalen Symposium kaum grösser sein. Die katholische Kampfansage an die Trends der Zeit sendet Schockwellen durch die ganze Christenheit. Doch es ist kein Weckruf der die Evangelikalen Leiter dazu bringt, ihre Positionierung zu überdenken. Im Gegenteil: man sieht sich eher bestätigt in der (angeblich) eigenständigen Positionierung[12]. Man realisiert nicht, dass in dieser Sache nicht die katholische Kirche der Gegenspieler ist, sondern die Kräfte der sexuellen Anarchie jener Tage.
2. Anschlussfähigkeit als theologische Maxime
Die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts führen unter den Protestanten in den USA zu einem großen Bruch. In der sogenannten ‘Fundamentalist-Modernist-Kontroverse’ ist der amerikanische Protestantismus quer durch die traditionellen Denominationen hindurch faktisch auseinander gebrochen. Die theologisch konservativen ‚Fundamentalisten‘ verfolgten in den darauf folgenden Jahren eine Strategie des Rückzugs. Sie ziehen sich aus vielen Institutionen zurück und bauen sich eine eigene Parallelwelt auf.
Die breiter abgestützte evangelikale Bewegung, welche in den 40er Jahren Fahrt aufnimmt, ist zwar theologisch konservativ wie die Fundamentalisten, lehnt aber ihre Rückzugsmentalität ab. Hier orientiert man sich eher an den Modernisten und versucht, mit der breiten Gesellschaft in einen aktiven Dialog zu treten, konstruktive Zusammenarbeit über die Denominationsgrenzen anzustreben und moderne Mittel zur Verbreitung des Evangeliums einzusetzen[13].
Besonders sichtbar wird dies in den stark auf denominationsübergreifende Allianzen aufbauenden Grossevangelisationen von ‘Superstar’ Billy Graham. Diese Allianzen fördern die christliche Einheit und ermöglichen dynamische Massenevents mit grosser Wirkung. Auf der anderen Seite fördern sie aber auch das Arbeiten mit dem ‘kleinsten gemeinsamen Nenner’. Das Vermeiden oder Herunterspielen von potentiell kontroversen oder spaltenden Themen ist ein integraler Bestandteil des Erfolgsmodells ‘Billy Graham’. Anschlussfähig zu sein bedeutet nur zu oft, sich in einer vagen Mitte zu positionieren und die heissen Themen zu meiden.
Wenn nun die protestantische Theologie in den 60er-Jahren einen massiven Liberalisierungs- und Säkularisierungsschub durchmacht, so hat dieser Schub Auswirkung auf die konsensorientierten Evangelikalen. Sie wollen auch ‘anschlussfähig’ sein. Wer das umfangreiche Buch studiert, das im Nachgang zum evangelikalen Symposium von 1968 publiziert wird, wird merken, wie viel Raum das Gedankengut von liberalen Theologen in der evangelikalen Diskussion einnehmen durften.
So diskutiert das Buch ausgiebig die Ideen von John A.T. Robinson und Joseph Fletcher, welche ich in meinem zweiten Artikel als Ideengeber für die Abtreibungsbewegung identifiziert habe. Weitere populäre, progressive Figuren ihrer Zeit vervollständigen das Bild. So befasst man sich intensiv mit den evolutionären Konzepten des Jesuiten und Paläontologen Pierre Teilhard de Chardin. Dieser Katholik darf besprochen werden, denn er ist progressiv und ein Liebling der protestantische Avant-Garde jener Tage. Auch Joseph Fletcher findet Gefallen an den Ideen von de Chardin. Dessen Prozess-Theologie bietet willkommene Anknüpfungspunkte, um den Wert des Menschen von seiner Entwicklung abhängig zu machen[14]. Bis heute berufen sich viele progressive Leuchtfiguren auf de Chardin, wie zum Beispiel der in postevangelikalen Kreisen beliebte Richard Rohr[15]. Möglicherweise realisieren sie nicht, dass de Chardin auch in den Nachkriegsjahren noch ganz unverfroren Ideen von Eugenik und Rassenhygiene vertreten hat[16]. Diese waren ein integraler Bestandteil seiner geistlichen Konzepte.
Nun ist es ja grundsätzlich zu begrüssen, dass sich die evangelikalen Theologen mit den progressiven Theologien ihrer Zeit auseinandersetzen. Und diese Auseinandersetzung erfolgte in einzelnen Beiträgen durchaus auch kritisch. Ein Problem entsteht aber, wenn die diskutierten Ideen dennoch in den Ergebnissen des Symposiums mehr oder weniger ungefiltert und unkommentiert auftauchen. Gegenüber dem Status des ungeborenen Lebens wird ganz klar Ambivalenz geschaffen. Es kommt auch zu einer Überbetonung der Zufriedenheit der Mutter gegenüber dem Lebensrecht des Kindes. Unter anderem kommen die evangelikalen Theologen zum Schluss, dass der Fötus «allenfalls ein tatsächliches menschliches Leben oder zumindest ein potenzielles und sich entwickelndes menschliches Leben» sei[17]. Hier hätte man dringend die Diagnose von Chesterton dazwischenrufen dürfen: Das Böse wird Ambiguität immer zu ihrem Vorteil ausnutzen!
Die Betonung der menschlichen Freiheit in moralischen Fragen stellt auch eine Anknüpfung an den geistigen Trend der Zeit dar. Theologisch gesehen orientiert sich die Anknüpfung an der Idee der ‘in Liebe gegründeten Freiheit’, wie sie Bischoff John A. T. Robinson populär gemacht hat. Bereits 1965 hatte der oberste Gerichtshof der USA im Entscheid Griswold v. Connecticut, wo es um die Legalisierung von Verhütungsmitteln ging, mit dem Recht auf Privatsphäre argumentiert. In Roe v. Wade wird diese Argumentation weitergeführt und auch auf Abtreibung ausgedehnt. Das reimt sich mit dem Geist jener Zeit, welcher auf Maximierung menschlicher Freiheit und Minimierung moralischer Verpflichtung ausgerichtet ist. Auch die Evangelikalen übernehmen diese Sichtweise: Die Abtreibungsfrage wird in den Ermessensraum des ‘mündigen Christen’ verlegt, weil man in der Heiligen Schrift angeblich ‘kein ausdrückliches Verbot’ von Abtreibungen gefunden habe.
3. Empfänglich für die Narrative der Zeit
Es ist offensichtlich, dass das säkulare Narrativ das Denken der evangelikalen Gilde stark beeinflusst hat und Themen in den Hintergrund gedrängt hat, welche die Bibel durchziehen und zum festen Bestandteil der jüdisch-christlichen Überlieferung gehören.
Eines der wichtigsten Narrative der 60er-Jahre war die Population-Bomb, also die Idee, dass das Bevölkerungswachstums ausser Kontrolle geraten sei. Der Historiker Dr. Allan Carlson bestätigt in einem Interview den starken Einfluss, welchen die bewusst geschürte Angst vor einer weltweiten Überbevölkerung auch auf kirchliche Verbände hatte[18]. Es ist kein Zufall, dass das evangelikale Statement betont, dass Geburtenkontrolle nicht nur das Bedürfnis von Einzelpersonen sei, sondern wir müssten auch die Bedürfnisse von ‘Nationen und Völkern’ berücksichtigen. Dabei muss ich klarstellen: Abtreibung als ‘Dienst an der Gesellschaft’ ist ein äusserst gefährliches Narrativ, welches als Druckmittel ausgenutzt werden kann, um schwache Menschen in ihren Entscheidungen zu beeinflussen oder staatliche Massnahmen zu rechtfertigen.
In die gleiche Kategorie gehört auch die Thematisierung von Abtreibung als ein Menschenrecht. Die 60er-Jahre sind eine Zeit der starken Bürgerrechtsbewegungen. Niemand will in der Menschenrechts-Debatte auf der falschen Seite stehen! So wird die Kampagne für legale Abtreibung als Menschenrecht für Frauen inszeniert. Sie sollen freien Zugang bekommen zu dem, was ihnen bislang vorenthalten war. Aus dem Blickfeld geraten dabei die Rechte des Kindes; man benutzt die angebliche Ambiguität betreffend der Identität des ungeborenen Kindes, um Gewissens-Spielraum zu schaffen und Abtreibung zu rechtfertigen. Diese Argumentation haben leider auch die Evangelikalen beschritten. Individuelles Glück und gesellschaftliche Planbarkeit rücken auch bei ihnen in den Vordergrund. Der Wert des menschlichen Lebens muss hinten anstehen.
Das säkulare Narrativ der Zeit ist die Linse, mit der die evangelikale Gilde sogar die Bibel interpretiert. Denn eigentlich ist Fruchtbarkeit und Vermehrung in den Augen Gottes kein Problem, sondern ein gesegneter Auftrag. Christen waren historisch gesehen schon immer Leidenschaftlich für den Schutz des Lebens.
«Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und mehrt euch!» (1Mo 1:22), lesen wir am Anfang der Bibel. Derselbe Auftrag wird in 1.Mose 1:28 wiederholt und ergeht dort auch an Noah und seine Söhne (1Mo 9:1 und 1Mo 9:7). Dieser Auftrag wird im weiteren Verlauf der Bibel nirgends ausser Kraft gesetzt und nährt die positive Sicht auf werdendes Leben und menschliche Vermehrung. Kinder sind ein Segen, ein Geschenk des Herrn (Ps 127:3). Sie sind bereits im Mutterleib Gottes gebildetes Wunderwerk (Ps 139:13). Nachwuchs zu bekommen ist ‘das Glück auf unserer Seite’ (Ps 127:5). Der Segen Isaaks an seinen Sohn Jakob ist ein Segen der Fruchtbarkeit und Vermehrung (1Mo 28:3), welcher Gott selbst im Traum bestätigt (1Mo 28:14). Grosse Männer Gottes wie Simson, Jeremia, Jesaja oder Johannes der Täufer sind ‘vom Mutterleib an’ für ihre Dienste auserwählt, sogar mit dem heiligen Geist erfüllt (Richter 13:7 / Jer 1:5 / Jes 49:5 / Lk 1:15). Eheliche Treue ist ein Abbild von Gottes Treue und der richtige Raum, in den Kinder hineingeboren werden sollen (Mal 2:10–16). Ungeborenes Leben wird voll und ganz als Leben wahrgenommen und beschrieben (Lk 1:41–45). Und diese lebensbejahenden Grundausrichtung der Bibel, welche auch ungeborenes Leben als kostbar und gottgewirkt sieht, steht unter dem Schutz des Gebotes: Du sollst nicht töten (2Mo20:13).
Evangelikaler Glaube findet weltweit grossen Zulauf. Er ist wohl so erfolgreich, weil er im Einklang mit dem Trend zum ‘modernen Selbst’ das Individuum mit massgeschneiderten religiösen Inspirationen und Erbauung bedient. Derselbe Glaube erleidet aber Schiffbruch, wo er nicht bereit ist, das Wohlbefinden und die Selbstverwirklichung dieses Individuums aus biblischen Gründen in Frage zu stellen. Die evangelikale ‘Kundenorientierung’ leidet an der Tendenz, das Sperrige und Störendende aus marketingtechnischen Gründen hinter dem Vorhang verschwinden zu lassen, auch wenn dieses zum zentralen Bestandteil des Angebots gehören würde. Hand aufs Herz: Sind wir als Leiter in unserer Zeit nicht der gleichen Versuchung ausgesetzt?
Eine Wende bahnt sich an.
Die Positionierung der evangelikalen Elite in der Frage der Abtreibung vor 50 Jahren zeigt auf schmerzhafte Weise, wie anfällig sie war. Doch in den Jahren nach dem Entscheid Roe v. Wade tritt eine dramatische Wende ein. Für diese Wende werden nicht jene Leiter sorgen, welche bis dahin die Diskussion in evangelikalen Kreisen geleitet haben, sondern neue und bis dahin weitgehend unbekannte Figuren, allen voran Harold O.J. Brown, C. Everett Koop und Francis Schaeffer. Ich nenne sie die ‘drei Musketiere’ weil sie sich in die Schlacht werfen in einer Zeit, in der andere nicht bereit sind, dies zu tun. Dass sich ihre Wege in den Jahren vor Roe v. Wade kreuzen, ist nach meiner Ansicht eine göttliche Fügung.
Der Weg von Harold O.J. Brown kreuzt sich bereits 1961 mit Francis Schaeffer, als er einen Besuch in l’Abri in den Schweizer Bergen macht, wo Schaeffer damals eine christliche Kommunität aufbaut. Fast wäre es nie zu diesem Treffen gekommen! Dass sich Brown und Schaeffer kennenlernen und treffen, geschieht nur, weil sich Brown’s Schwester Judy 2 Jahre davor in Genf am Ufer des Sees verläuft. Dort wird sie von Priscilla Schaeffer, der Tochter von Francis, aufgegriffen und nach L’Abri eingeladen, wo sie mit dem christlichen Glauben in Berührung kommt[19]. Harold Brown, der zu dieser Zeit in Harvard Theologie studiert, kommt so zu seiner Einladung in die Schweiz. Schaeffer Biograf Barry Hankins beschreibt, wie sich Browns Perspektive durch diese Begegnung veränderte[20]:
«Anfänglich begegnete Brown dem Liberalismus in Harvard, indem er das, was er hörte, einfach ablehnte. Was Brown jedoch von Schaeffer in L’Abri lernte, war, dass er sich mit der Kultur um ihn herum auseinandersetzen musste. Es war schwieriger, das Christentum in einzelnen Punkten zu verteidigen, als über den Glauben als ganzheitliche und kohärente Weltanschauung zu sprechen. Als er nach Harvard zurückkehrte, begann er, sich mit der säkularen, liberalen akademischen Kultur dort aktiv anzulegen…»
1964 erwidert Brown dann die Einladung, indem er Francis Schaeffer aus den Schweizer Alpen für eine Vortagsserie nach Boston einlud. Dies war der Beginn von Schaeffers Popularität in den USA.
Ab 1973 legt Harold Brown durch seine Texte den Samen für eine evangelikale Wende in der Haltung zu Abtreibung. Brown wird Jahre später auf den Unwillen der meisten Evangelikalen hinweisen, den damaligen Gerichtsbeschluss Roe v. Wade auch nur zu hinterfragen[21]: «Die Amerikaner scheinen den Obersten Gerichtshof als unfehlbar und unbesiegbar zu betrachten.». Doch für ihn ist der Wert des ungeborenen Lebens Teil seiner ‘ganzheitlichen und kohärenten’ christlichen Weltanschauung. Dafür ist Brown bereit, in den Ring zu steigen.
Der Weg von C. Everett Koop kreuzt sich mit demjenigen von Francis Schaeffer auf genauso wunderliche Weise im Jahre 1947. Francis Schaeffer befindet sich mit seiner Frau Edith kurz vor der Ausreise Richtung Europa, das noch stark vom Krieg gezeichnet ist. Dort wollen sie als Missionare wirken. Während sie temporär noch bei der Mutter von Francis leben, muss Tochter Priscilla wegen einer mysteriösen Krankheit in das Spital eingeliefert werden. Die Ärzte sind ratlos bis ein junger Arzt zufälligerweise dazustösst und eine kaum bekannte Krankheit diagnostiziert, welche er zufälligerweise gerade studiert hatte: Mesenteric Adenitis. Der junge Arzt ist niemand anderes als Koop. Koop erfährt dabei, dass die Eltern der Patientin bald als Missionarin nach Europa ausreisen will. Die Verbundenheit ist augenblicklich, denn er selbst ist erst wenige Wochen zuvor Christ geworden. Aus dem jungen Arzt wird einer der bekanntsten Kinderärzte der USA. Er möchte Leben retten, nicht Leben vernichten. 30 Jahre nach dem ersten Treffen wird Koop wieder mit Schaeffer vereint sein im gemeinsamen Kampf für das Recht auf Leben der Ungeborenen[22].
1980, nur sieben Jahre nach dem Entscheid des Obersten Gerichtshofes zugunsten legaler Abtreibung, wird mit Ronald Reagan (1911–2004) ein Präsident gewählt, welcher sich hinter das Pro-Life-Anliegen stellt und einen der ‘drei Musketiere’ zum Gesundheitsminister ernannt: den evangelikalen Arzt und Pro-Life Aktivisten C. Everett Koop. Wie es dazu kommt, und wie die ambivalente Sicht der Evangelikalen auf Abtreibung zu einer klaren Pro-Life Sicht wird, beschreibe ich im nächsten und letzten Artikel dieser Serie.
Mein Gespräch zum Thema mit Dr. Allan Carlson:
Die Serie im Überblick:
Abtreibung (1/5) – ein heiliges Werk?
Abtreibung (2/5) — eine Theologie
Abtreibung (3/5)– Prediger der Eugenik
Abtreibung 4/5 – Evangelikale am Scheideweg
Abtreibung 5/5 – Wenn Umkehr Fortschritt bedeutet
Weitere Artikel im Zusammenhang:
DNA (3/10): Leidenschaftlich für den Schutz des Lebens
Chesterton und das Wunder von England.
Fussnoten:
[1] https://de.catholicnewsagency.com/story/die-kirche-und-der-skandal-des-sexuellen-missbrauchs-von-papst-benedikt-xvi-4498
[2] Christianity Today, 4. März 1966, How to decide the Birth control issue, eigene Übersetzung
[3] Christianity Today, 4. März 1966, How to decide the Birth control issue, eigene Übersetzung
[4] Vgl. Times Magazine, 07. April 1967, The Pill, eigene Übersetzung
[5] Vgl. Times Magazine, 07. April 1967, The Pill, eigene Übersetzung
[6] Carlyle S. Saylor (ed.), Birth Control and the Christian, 1969
[7] Christianity Today, 8. November 1968, eigene Übersetzung
[8] Christianity Today, 8. November 1968
[9] Christianity Today, 8. November 1968, eigene Übersetzungen
[10] Christianity Today, Mrz 1973, S39, zitiert aus Randall Balmer, Bad Faith, 2021, S34, eigene Übersetzung
[11] Lawrence Lader, Abortion, 1966, S102
[12] Allan Carlson, Godly Seed, 2012, S132-133
[13] Der evangelikale Grundreflex in den ersten Jahrzehnten der Bewegung war tendenziell die einer Abgrenzung gegenüber den fundamentalistischen Kreisen, aus denen die Gründerfiguren der Evangelikalen kamen. Lieber suchte man die Annäherung an weniger konservative Bewegungen. So hat Billy Graham in den 50ern da und dort Fundamentalisten eine Absage erteilt zugunsten von anderen Kooperationen.
[14] Vgl. z.B. Joseph Fletcher, The Ethics of Genetic Control, 1974, S22
[15] Vergleiche zum Beispiel: https://cac.org/evolving-in-love-2018–11-08/
[16] https://religiondispatches.org/pierre-teilhard-de-chardins-legacy-of-eugenics-and-racism-cant-be-ignored/
[17] Christianity Today, November 1968, eigene Übersetzung
[18] Schriftliche Korrespondenz zwischen kirchlichen Funktionären und dem Hugh Moore Fund bestätigen diesen Befund. Vgl. Lawrence Lader, Breeding ourselves to death, 1971, S30; siehe auch unser Interview mit Allan Carlson: https://youtu.be/81wzY_yTIpM?t=1756
[19] Barry Hankins, Francis Schaeffer and the Shaping of Evangelical America, 2008, S64
[20] Barry Hankins, Francis Schaeffer and the Shaping of Evangelical America, 2008, S64-65, eigene Übersetzung
[21] https://www.illinoisreview.com/illinoisreview/2007/04/mr_president_te.html
[22] Barry Hankins, Francis Schaeffer and the Shaping of Evangelical America, 2008, S33
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