Die Wurzeln der kirchlichen Abtreibungsaktivisten gehen weiter zurück als man denkt, in ein dunkles Kapitel der Menschheitsgeschichte, jenes der Eugenik. In diesem Artikel zeichne ich die Geschichte dieser Bewegung nach, beleuchte ihre Schweizer Wurzeln und die Gründe, warum sich US-Pastoren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für Eugenik und Rassenhygiene begeistern liessen.
Wer im Zusammenhang mit der heutigen Abtreibungspraxis das Wort «Eugenik» in den Mund nimmt, bewegt sich auf dünnem Eis. Das sei ’nicht nur geschmacklos, sondern schlicht eine dreiste Verdrehung der Wirklichkeit‘, las ich kürzlich in einem Kommentar in den sozialen Medien.
Ich kann diese Reaktion nachvollziehen, denn das Wort Eugenik ist heute untrennbar mit dem deutschen Nationalsozialismus verbunden. Am 14. Juli 1933 wurde im Deutschen Reich mit dem ‘Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses’ die Grundlage dafür gelegt, bestimmte Bevölkerungsgruppen durch Sterilisation unfruchtbar zu machen. Das Gesetz war ein Vorschatten auf die grausame Auslöschung ganzer Bevölkerungsgruppen im weiteren Verlauf des Dritten Reichs.
Ich besitze ein Exemplar des erläuterten Gesetzes. Mein Exemplar gehörte der evangelischen Pflegeanstalt Bethesda in Landau, Rheinland Pfalz. In einem Beiblatt zum Buch erläutert der ‘Zentralausschuss für die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche’, wie das Gesetz in ihren diakonischen Werken umzusetzen sei: Pflichtgemäss und wenn möglich unter freiwilliger Mitwirkung der Betroffenen[1].
Erläutert wird das Gesetz unter anderem von einem Mann, dessen Name erstaunlich schweizerisch klingt: Ernst Rüdin. Der Name klingt nicht nur schweizerisch, er ist es auch! Rüdin (1874–1952) ist ein ‘Bünzli-Schweizer’[2] aus dem Kanton St. Gallen und nebenbei einer der prominentesten Pioniere der eugenischen Bewegung[3]. 1932 wird er zum Präsidenten der ‘International Federation of Eugenics Organizations’ gewählt, dem weltweiten eugenischen Dachverband. Auch in Deutschland ist er auf dem steilen Weg nach oben in die Chefetagen von Hitlers Machtapparat, wo er bis zum Kriegsende dienen wird.
Was heute jedoch viele nicht verstehen: Eugenik entstand mitnichten als wahnwitzige Tötungsidee eines rechtsnationalistischen ‘braunen’ Regimes. Vielmehr war Eugenik das Ergebnis einer geistesgeschichtlichen Entwicklung, angeführt von progressiv-denkenden Intellektuellen, welche die Evolution des Menschen nicht einfach dem Zufall überlassen, sondern sie aktiv gestalten wollten. Eugenik verkörpert wie kaum ein anderes Thema, den ‘Zeitgeist’ der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts quer durch verschiedene politische Ideologien hindurch. Wer sich auf die Suche nach den führenden Köpfen dieser Entwicklung macht, stösst auf die versammelte Avantgarde der damaligen aufgeklärten westlichen Welt – einschliesslich erstaunlich vieler Pastoren und Pfarrer!
Drehscheibe Schweiz
Einen dieser Pfarrer finden wir in der Schweiz: Paul Pflüger (1865–1947). Er ist in den 1910er Jahren als Mitglied der Zürcher Stadtregierung für die Sozialpolitik zuständig. Seine sozialistische Familienpolitik stellt der ‘rote Pfarrer‘ in den Dienst der Rassenhygiene.
Kinder gehörten nicht bloss den Eltern, sondern seien in erster Linie ‚Glieder der Volksgemeinschaft‘[4], räsoniert Pfarrer Pflüger. Entsprechend sollte die Gesellschaft dem Bürger in Sachen Fortpflanzung auf die Finger schauen. So sollten Paare erst nach ärztlicher Untersuchung und mit entsprechender Gesundheitsbescheinigung heiraten dürfen[5]. Auf dem Weg zum idealen Proletarier musste ein wenig Nachhilfe geleistet werden[6]:
„Zur Verhütung einer Entartung der menschlichen Rasse ist in erster Linie erforderlich, dass minderwertige Eltern keine beziehungsweise möglichst wenig Kinder in die Welt setzen“
Die Ideen der Eugenik kamen vor allem aus England, von Francis Galton (1822–1911), dem Cousin von Charles Darwin. Wo Darwin natürliche Selektion in den Mittelpunkt der Evolution gestellt hatte, wandte sich Galton der Untersuchung von Vererbung geistiger Eigenschaften zu und schlug vor, durch „gute Zucht“ den Anteil positiv bewerteter menschlicher Erbanlagen zu vergrössern. Sein Hauptwerk «Inquiries into Human Faculty and its Development” aus dem Jahre 1883 fasst seine Lehre zusammen und begründet die Eugenik als neue Wissenschaft.
Doch wie gesagt: man muss nicht nach England schauen um Eugenik zu studieren. In der Schweiz gedeihen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eugenische Ideen betreffend den optimierten Menschen besonders gut.
Besonderen Gefallen an diesen Ideen fand beispielsweise der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1857–1939), unter dessen Aufsicht Paul Rüdin 1899 seine Assistenzzeit an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich absolviert hatte. Eines der ersten bekannten Werke von Bleuler aus dem Jahre 1896 heisst «Der geborene Verbrecher». Darin zeichnet Bleuler ein Bild vom Verbrecher als eigene anthropologische Kategorie – diagnostiziert Verbrechertum als quasi vererbbare Krankheit, die es zu behandeln oder noch besser mit medizinischen Eingriffen zu verhindern gilt. Für eine entsprechende Prophylaxe fehle zwar noch die gesetzliche Grundlage, meint Bleuler, aber diese werde sich schon noch ergeben, wenn einmal die Biologie des Verbrechers noch besser bekannt sein werde[7].
Der prominenteste Schweizer Verfechter von Eugenik war aber sicher der Universalgelehrte und Ameisenforscher Auguste Forel (1848–1931). In seinem einflussreichen Werk ’Die sexuelle Frage’ schreibt er 1905[8]:
„Es ist hohe Zeit, dass […] eine rationelle und wohlüberlegte Zuchtwahl Platz greift. Den Kranken, den Unfähigen, den Blöden, den Schlechten, den inferioren Rassen, muss man den Neomalthusianismus konsequent beibringen. Den kräftigen, Gesunden und geistig höher Stehenden dagegen muss man, wie schon mehrmals hier gesagt, eine kräftige Vermehrung ans Herz legen.“
Damit ist auch dargelegt, um was es bei Eugenik geht: Weltverbesserung durch Anwendung von Zuchtprinzipien. Der menschliche Wald muss ‚ausgeforstet‘ werden; die Wiese muss ‚gejätet‘ werden. Dabei wird die Menschheit in zwei Hälften geteilt. Auf der einen Seite steht die sozial brauchbare, gesunde ‚obere Hälfte‘. Dieser sollte zu möglichst kräftiger Vermehrung verholfen werden (positive Eugenik). Auf der anderen Seite steht die ‚untere Hälfte‘ – Menschen mit Gebrechen, Geistesgestörte, Nervenkranke, Verbrecher oder schlicht und einfach sozial schädliche Menschen. Diese Hälfte sollte es als soziale Pflicht betrachten, unter allen Umständen die Erzeugung von Kindern zu vermeiden (negative Eugenik) [9].
Teil der Eugenik war aber auch die Zuordnung von Rassen zur oberen respektive unteren Hälfte der Menschheit. In der oberen Hälfte waren die Arier respektive die Anglo-Saxonen. In der unteren Hälfte: der Rest. Das grosse Problem: die niederen Rassen in der unteren Hälfte bedrohten durch ihre rasante Vermehrung die obere Hälfte. Auguste Forel diagnostiziert diese drohende Gefahr[10]:
„Eines scheint dagegen festzustehen, nämlich die mit geistiger Minderwertigkeit einhergehende heftige, ungezügelte Leidenschaft der Neger.“
Unter anderem an Burghölzli-Patienten führt Forel die ersten Kastrationen und Sterilisationen aus sozialen Gründen durch – die ersten in Europa. Daneben ist er ein akademischer Superstar. Auf sozialkritische Studenten übt er eine ungeheure Anziehungskraft aus. Einer seiner Studenten ist Alfred Ploetz (1860–1940). Dieser wird später zusammen mit Wilhelm Schallmayer zum Begründer der Eugenik in Deutschland und prägt den Begriff der Rassenhygiene.
Genau: die Inspiration der deutschen Eugeniker kam unter anderem aus der Schweiz. Und es geht nicht lange bis die neue Wissenschaft (welche rückblickend als Pseudowissenschaft bezeichnet werden muss) ihren Weg in verschiedene Gesetzgebungen hinein findet. So wird auf der Grundlage der Ideen Forels 1928 im Kanton Waadt ein Gesetz zur Sterilisation Geisteskranker verabschiedet[11]. Die Schweizer waren ihrer Zeit voraus; es würde noch 5 Jahre dauern bis in Nazi-Deutschland das vergleichbare Gesetz erlassen wurde. Ungeachtet dieses schwerwiegenden Vermächtnisses ziert ab 1976 und bis ins Jahr 2000 Auguste Forel die Schweizer 1000er Note, die berühmte „Ameise“.
In den USA: Eugenik im Namen Gottes
Forel hat nicht nur im ‘nördlichen Kanton’ seine Fans. Auch über dem grossen Teich lassen sich Menschen von ihm inspirieren. Eine davon ist Margaret Sanger (1879–1966). Die kontroverse Vorkämpferin für Frauenrechte, Verhütung und sexuelle Befreiung gibt 1912 ihren Job als Krankenschwester in New York auf und vertieft sich monatelang in den Bibliotheken der US-Ostküste in die revolutionären Ideen, welche zu jener Zeit vor allem aus Europa kommen. Auf ihrem Leseplan stehen die bekannten Sexualrevolutionäre: Iwan Bloch (Deutschland), Havelock Ellis (England) und… Auguste Forel[12]. Alle drei sozialistischen Denker teilten neben ihren liberalen Ansichten in sexualethischen Fragen auch eine Vorliebe für die ‘Verbesserung der Gesellschaft’ durch Mittel der Eugenik und Rassenhygiene[13]. Margaret Sanger wird eine der Ihren und bringt die Revolution in die USA.
Während die Eugeniker ihrer Zeit dringend Sterilisation empfehlen, setzt Margaret Sanger aber verstärkt auf Geburtenkontrolle. Die Gründe dafür liegen auf der Hand, denn mit Geburtenkontrolle waren gleich zwei ihrer grossen Ziele zu erreichen: die Befreiung der Frau vor dem ‘Zwang ungewollter Schwangerschaft‘ und die ‘eugenische und zivilisatorische Aufwertung der Gesellschaft‘. Mit im Programm ist bei Sanger auch eine radikale Ablehnung von Religion. «No Gods, No Masters» heisst es 1914 im Untertitel ihrer ersten Verteilschrift[14]. Doch bald würde Sanger merken, dass es unter den Religiösen auch nützliche Verbündete zu gewinnen gab. Einer der bekannteren Sätze von Sanger entlarvt sie als die Rassistin, die sie war, und zeigt den Nutzen auf, welcher Pastoren für sie hatten[15]:
“Wir wollen nicht, dass sich herumspricht, dass wir die Negerbevölkerung ausrotten wollen. Der Pastor ist der Mann, der solche Vermutungen aus der Welt schaffen kann, falls sie jemals bei einem aufmüpfigen Kirchenmitglied aufkommen sollte.”
Es gibt eine Kategorie von Pfarrern, welche sich in den Zwischenkriegsjahren besonders bereitwillig ins amerikanische eugenische Projekt einspannen liess: die zunehmend liberal gesinnten protestantischen Pastoren der Social Gospel Bewegung. Ja, die Social Gospel Bewegung ist von der ersten Stunde an besonders empfänglich für eugenische Ideen. Wie ich im zweiten Teil dieser Artikel-Serie erläutert habe, hatte die Social Gospel Bewegung ihren Ursprung im Anliegen, den grossen sozialen Missständen des ausgehenden 19. Jahrhunderts etwas entgegen zu setzen. In diesem Umfeld fand die Idee, gesellschaftliche Probleme ‘bei der Wurzel’ packen zu können, ihre ‘Quellen verstopfen’ zu können, rasch Freunde.
So hatte auch die USA ihre ‘Verbrecherstudie’. War diese in der Schweiz der Feder des Psychiaters Bleuler entsprungen, so entstand sie in den USA als Forschungsarbeit eines Pastors: Rev. Oscar McCulloch. McCulloch (1843–1891) war ein engagierter Geistlicher aus Indiana und Gründer einer Vielzahl sozialer Einrichtungen in der Stadt. Ein Besuch bei einer Familie der gesellschaftlichen Unterschicht bewegt ihn 1877 dazu, mit Stammbaumforschungen zu beginnen. 1888 präsentiert er seine berühmte Studie über die ‘Ben-Ishmael Tribe’ an der nationalen Konferenz der Sozialwerke. McCulloch begründet in seiner Studie die Vererbbarkeit von sozialer Degenerierung und plädiert dafür, diese Vererbung zum Mittelpunkt sozialer Arbeit zu machen[16].
In den folgenden Jahrzehnten kommt es in den USA zu einer faktischen Fusion von Social Gospel und der eugenischen Bewegung. Die neue ‘Wissenschaft’ weckt dabei nicht nur Hoffnung auf eine sehr grundlegende Lösung sozialer Probleme; sie bedient auch die latenten Ängste der gut gestellten weissen Pastoren bezüglich dem Gedeihen ihrer eigenen Rasse. Denn auch in den USA war es die untere ‘Tableau-Hälfte’, welche sich wesentlich rascher vermehrte als die obere. Daneben löste die Eugenik ein weiteres grosses Problem der Pastoren, nämlich das Dilemma, ihren Glauben mit Gegenwartskultur und Wissenschaft zu versöhnen. Dank Eugenik konnten sie nun ihrem christlichen Ziel der Weltverbesserung mittels ‘wissenschaftlichen Methoden’ nachgehen. So viel Begeisterung versprühten Pastoren in der Propagierung dieser neuen Ideologie, dass sich die New York Times 1929 zum Kommentar bewogen sieht, der Staat «hinke bei der Anerkennung der Wahrheiten der Eugenik hinter der Kirche her»[17].
Eugenik wurde zu einem Lackmus-Test dafür, ob man als Pastor gleichzeitig intelligent, modern UND ein ernsthafter Christ war[18]. Kaum ein anderer verkörperte diese neue Haltung so klar, wie Rev. Harry Emerson Fosdick (1878–1969), der populäre liberale Superstar seiner Zeit[19]. Seine gigantische ‘Riverside Church’ in New York zierten nicht nur Figuren aus der christlichen Tradition, sondern Statuen von Persönlichkeiten aus Wissenschaft (von Hippokrates bis Albert Einstein), Philosophie (von Pythagoras bis Ralph Waldo Emerson) und Religion (von Moses bis David Livingstone)[20]. Die Kirche von Fosdick war, wie es das Times Magazine formulierte, ‘inklusiv’. Vor allem aber war sie gut finanziert: John D. Rockefeller, Ölbaron, reichster Amerikaner seiner Zeit, selbst glühender Verfechter von Bevölkerungskontrolle und Eugenik[21], hatte das Millionenprojekt aus seiner Portokasse bezahlt.
Bereits 1907 trat in den USA das weltweit erste Gesetz[22] zur Zwangssterilisierung in Kraft, in Indiana, dem gleichen Bundesstaat in dem Rev. Oscar McCulloch einige Jahre zuvor seine Studie über den ‘Ben-Ishmael Tribe‘ gemacht hatte. Das war kein Zufall!
Die eugenische Predigt
Für die treibenden Kräfte hinter der eugenischen Bewegung in den USA waren Pastoren die möglicherweise wichtigste Zielgruppe. Denn Pastoren waren optimale und glaubwürdige Multiplikatoren. Fosdick wurde zusammen mit weiteren Geistlichen in den Beirat der American Eugenics Society (EAS) berufen. Diese hatte den grössten Teil ihres Werbebudget auf eine ganz bestimmte Personengruppe ausgerichtet: Pastoren!
Ab 1926 wurde im Rahmen eines Predigtwettbewerbes jährlich nach der besten eugenischen Predigt gesucht. Die Predigt – das war das perfekte Instrument, um die breite Streuung eugenischer Inhalte zu garantieren. Gleichzeitig wusste man, dass auch Pastoren für Ruhm, Ehre und Geld empfänglich sind. Das Preisgeld von 500 Dollar für den Gewinner war für damalige Verhältnisse ein kleines Vermögen.
Ganze Ausgaben des periodischen Magazins ‘Eugenics’ wurden in den späten 1920er Jahren religiösen Themen gewidmet. Und mit Rev. Kenneth MacArthur wurde gar ein Geistlicher zu einem festen ‘Bestandteil‘ des Redaktionsteams gemacht.
Es lohnt sich, einige Einblicke in die ‘christlichen‘ Beiträge des Magazins zu werfen:
«Eugenik ist von überragender Bedeutung für die Kirche, weil sie der Kirche die Möglichkeit gibt, einen scheinbaren Widerspruch zu eliminieren, den Widerspruch zwischen dem Gesetz der Liebe, welches einerseits als Essenz des Christentums die Sorge für die Schwachen, Hilflosen und Untauglichen gebietet, und andererseits dem wissenschaftlichen Gesetz vom Überleben der Stärksten. […] Eugenik gibt uns eine Synthese zwischen diesen zwei Gesetzen, indem sie sowohl den Dienst an den Geistesschwachen, und Fehlgeleiteten hochhält und zugleich verhindert, dass diese ihren korrumpierenden Einfluss auf ihre Nachkommen übertragen. So kann, ohne jegliches Massakrieren und ohne der Liebe Christi zuwiderhandeln zu müssen, die Entwicklung der Rasse weitergehen hin zu einer idealen Gesellschaft, bis wir alle die Fülle der Gestalt Christi erlangen.»[23]
«Die einflussreichsten Führer der Religion in Amerika sind bereits erwacht zur Erlösung, welche den eugenischen Programmen innewohnt.»[24]?
«Das einfachste und fundamentalste Gesetz der Biologie, das erste Prinzip der Vererbung, trägt den Abdruck von Christus selbst wenn er sagt: «Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. (Mt 7:18)»[25]
«In den vergangen Jahren sind sich progressive christliche Denker der Notwendigkeit bewusst geworden, an den Quellen von Verbrechen, Lastern, Armut und Krieg anzusetzen. Auch wenn wir die vielen Bibelstellen missachten, welche klare eugenische Bedeutung haben, so müssen wir doch erkennen, dass die Kontrolle über die menschliche Vererbung eine sehr mächtige Waffe hergibt, um den Kampf des Herrn zu kämpfen und die Hochburgen des Bösen zu zerstören.»[26]
Solche Beispiele zeigen, wie die Ideologie der Eugenik im Gewand religiösen Vokabulars dem gläubigen Volk schmackhaft gemacht wurde. Die Eugeniker folgten auch darin einem ‘biblischen’ Prinzip: dem Juden ein Jude, dem Griechen ein Grieche. Selbst Eugeniker, welche für die Kirche nur Abscheu übrig hatten, bedienten sich fleissig biblischen Vokabulars, wenn es der Sache diente. So zum Beispiel Albert Wiggam. Dieser hatte zwar eine gewisse Bewunderung für Jesus, nicht aber für dessen zeitgenössischen Nachfolger. Dies hielt ihn nicht davon ab, in seinen äusserst populären Büchern und Vortragsreisen tief in die Kiste biblischer Begriffe und Symbole zu greifen. In seinen Erläuterungen brauchte er vom biblischen Gleichnis des vierfachen Acker[27] bis zur Goldenen Regel so ziemlich alles, was man sich vorstellen konnte. 1923 brachte sein Buch «The new Decalogue of Science» den Lesern die 10 Gebote in neuer eugenischer Fassung. Das Labor sei der neue ‘Berg Sinai’ meinte Wiggam und Eugenik das neue erste Gebot.
Willkommen in der Kathedrale der neuen Religion: der Wissenschaft. Oder besser gesagt: der progressiven Pseudowissenschaft. Nun, bereits der Begründer der Eugenik, Francis Galton, hatte das biblische Gleichnis von den anvertrauten Talenten bemüht, um seinen Standpunkt darzulegen[28]: «Wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.» (Mt 25:29)
Die Wasserscheide
Sehr gründlich untersucht wurde die Geschichte der predigenden US-Eugeniker durch die Journalistin Christine Rosen (*1973) in ihrem Buch «Preaching Eugenics» (2004). Man würde, bilanziert Rosen, ein wenig mehr Zögern erwarten von religiösen Leitern in Sachen der eugenischen Bewegung, welche Gott als Gestalter der Menschheit faktisch durch die Wissenschaft ersetzte. Und man würde von diesen auch etwas mehr Respekt für die leibliche Unversehrbarkeit des Individuums erwarten, welches ja ein Markenzeichen der jüdisch-christlichen Tradition sei[29].
Wie konnten religiöse Leiter sich so einfach über Kernwerte der jüdisch-christlichen Weltsicht wie Menschenwürde, Anerkennung der Heiligkeit der Ehe oder Akzeptanz menschlicher Unvollkommenheiten hinwegsetzen? Gemäss Christine Rosen verlief die Wasserscheide der Meinungsbildung entlang einer klaren und eindeutigen Linie[30]:
«Die Beweislage ergibt ein klares Bild darüber, wer sich für eugenische Reformen starkmachte und wer nicht. Religiöse Leiter verfolgten Eugenik präzise dann, wenn sie sich von traditionellen religiösen Lehren wegbewegten. Die Liberalen und Modernisten in ihren Glaubensvorstellungen – diejenigen die ihre Kirchen aufforderten, sich den modernen Gegebenheiten anzupassen – wurden die begeisterten Unterstützer der eugenischen Bewegung.»
Die Theologie, mit der die progressiv-liberalen Theologen die eugenischen Konzepte ihren Schäfchen schmackhaft machten, sei ‘bewusst vage’ gewesen[31], meint Rosen. Zu Hilfe sei ihnen dabei die Ambiguität der eugenischen Theorien gekommen[32], welche viel Spielraum für kreative Ausgestaltung gelassen haben . Die liberalen religiösen Leiter hätten es zugelassen, so Rosen, dass ihre Weltanschauung durch die Versprechen der neuen Wissenschaft umgestaltet wird. Treibend dabei war immer wieder auch die Angst, bei den Entwicklungen ihrer Zeit im Abseits zu stehen. Diese Grundangst der progressiven Bewegung hatte schon Walter Rauschenbusch (1861–1918), der theologische Mastermind der Social Gospel Bewegung, in Worte gefasst[33]:
«Theologie muss immer das beste Gedankengut ihres Zeitalters verkörpern, oder das Zeitalter wird Religion ausserhalb der Theologie suchen.»
Religiöse Leiter, welche sich aufgrund ihres Festhaltens an Lehrtradition, Doktrin oder Unfehlbarkeit der Bibel gegen die Eugenik stellten, seien für ihre Ablehnung dieser neusten wissenschaftlichen Disziplin mit Spott bedeckt worden, schreibt Rosen. Zu diesen gehörten neben den Katholiken vor allem die sogenannten protestantischen ‘Fundamentalisten’[34], welche die Lehren Darwins ablehnten und an der Inspiration und Unfehlbarkeit der biblischen Schriften festhielten. Über die Beteiligung dieser Gruppen an den Institutionen der eugenischen Bewegung in den USA schreibt Rosen[35]:
«Kein einziger protestantischer Fundamentalist trat jemals der eugenischen Bewegung bei und um 1937 hatten auch die beiden katholischen Mitglieder der EAS […] schon lange die Organisation verlassen wegen deren Unterstützung von Zwangssterilisation, Geburtenkontrolle und der Liberalisierung von Scheidungen.»
Zumindest was die Situation in den USA betrifft kann also festgehalten werden: Während sich die ‘fortschrittlichen’ und nach eigenem Anspruch ‘dem Leben zugewandten’ kirchlichen Leiter von den Versprechen der Eugenik verführen liessen, scheinen es die verpönten theologisch konservativen Bewegungen gewesen zu sein, welche in diesem Fall die Stamina und die Schutzmechanismen auf ihrer Seite hatten, und so der Verwicklung ins Unrecht der eugenischen Bewegung entgingen. Dies muss nicht heissen, dass diese Gruppierungen vor Fallstricken gefeit wären. Wie heisst es doch in der Bibel: «Wer meint, er stehe, soll zusehen, dass er nicht falle.» (1Kor 10:12). Trotzdem kann festgestellt werden: die stärkere Gründung in der Schrift, im christlichen Bekenntnis und in der jüdisch-christlichen Weltanschauung, scheinen einen Beitrag dazu geleistet zu haben, dass sowohl Katholiken als auch theologisch konservative Protestanten nicht einfach zu Mitläufern dieser pseudowissenschaftlichen Modeerscheinung wurden.
Fundamentalisten, Katholiken
Die Fundamentalisten und Katholiken hatten das Heu mitnichten auf der gleichen Bühne. Aber sie kamen in der Frage der Eugenik zum grundsätzlich gleichen Ergebnis. Mit zwei einfachen Beispielen möchte ich diese ablehnenden Perspektiven dokumentieren. Als Beispiel der protestantischen Fundamentalisten kann die Perspektive des berühmten Evangelisten Billy Sunday (1862–1935) erwähnt werden[36]:
«Geh mit deinem wissenschaftlichen Trost in ein Zimmer, in dem eine Mutter ihr Kind verloren hat. Probiere deine Doktrin vom Überleben des Stärkeren bei dieser Frau mit dem gebrochenen Herzen aus. Sag ihr, dass das Kind, das starb, nicht so lebensfähig war wie das, das am Leben blieb. Wie soll dieser wissenschaftliche Schrott die Last von ihrem Herzen nehmen? […] Wenn Du mit deiner Wissenschaft, Philosophie, Psychologie, Eugenik, Sozialarbeit, Soziologie, Evolution, Protoplasmen und dem zufälligen Zusammentreffen von Atomen fertig bist, nehme ich die Bibel und lese Gottes Verheissung und bete — und ihre Tränen werden getrocknet und ihre Seele wird mit Ruhe überflutet wie ein kalifornischer Sonnenuntergang.»
Die Katholische Kirche hat sich im Jahre 1930 in der Enzyklika «Casti connubi» von Papst Pius VI deutlich von den destruktiven Praktiken der Eugenik distanziert[37]. In den USA war es der einflussreiche katholische Moraltheologe John A. Ryan (1869–1945), der sich in der eugenischen Debatte am stärksten engagierte. Im ‘Eugenics’ Magazin, vom Dezember 1928 gibt er seine – für die Redaktoren der Zeitschrift wohl vernichtende – Kritik wieder[38]:
«Das praktische Argument gegen diese Theorie ist, dass die Gesellschaft, sobald sie beschliesst, dass die Schwachen zu Recht dem Untergang geweiht sind, diesen Grundsatz auf alle so genannten minderwertigen Klassen ausdehnen wird. So wird das Wohlergehen der Gesellschaft letztendlich das Wohlergehen einiger weniger Übermenschen bedeuten, nämlich derjenigen, die mächtig genug waren, sich mit ihrer eigenen Bewertung durchzusetzen.»
Sowohl John A. Ryan als auch Billy Sunday schreiben nicht aus einer kühlen Distanz, welche sich nicht für die Sorgen und Probleme ihrer Zeit interessiert hätte. Sunday’s Perspektive war geerdet in den vielen seelsorgerlichen Gesprächen, welche sein Dienst mit sich brachte. Seine ‘natürlichen Instinkte’ scheinen geschärft gewesen zu sein für die ‘geistliche Kälte’ und Menschenverachtung, welche den evolutionären Ideen vom Überleben des Stärkeren innewohnen.
Auf Seiten der Katholiken lässt sich eine wesentlich intensivere und gründlichere Auseinandersetzung mit der Thematik feststellen. Diverse Schriften und Bücher wurden publiziert[39]. John A. Ryan’s Perspektive war genährt von seiner langjährigen Auseinandersetzung mit den sozialen Problemen des Landes, an deren Lösung er aktiv arbeitete, OHNE dabei in die süsse Falle der Eugenik zu tappen. So hatte sich Ryan intensiv für die Einführung des Mindestlohnes eingesetzt und in seinem Buch ‘Distributive Justice’ umfangreiche Vorschläge für sozialen Ausgleich präsentiert[40]. Auf der Grundlage eines christlichen Menschenbildes braucht es eben keine Eugenik, keine ‘Bemessung’ des Menschen, um sich ihm sozial-fürsorgerisch zuzuwenden und seine Situation zu bessern.
Auf der anderen Seite der Wasserscheide aber flossen die Wasser der Eugenik in die Abtreibungsbewegung unserer Tage.
Von Eugenik zur Abtreibung.
Nach den Schrecken des zweiten Weltkrieges wurde ‘Eugenik’ berechtigterweise zum Unwort. Dies führte international zu einer Umgestaltung der eugenischen Bewegung. Das Gesicht der Eugenik musste sich wandeln[41]. Doch die Themenfelder, die treibenden Ideologien und prägenden Leitfiguren sind geblieben.
Geblieben sind zum Beispiel die liberalen Pastoren wie ‘Superstar’ Rev. Harry Emerson Fosdick. In seinen 1956 veröffentlichten Memoiren lobt dieser Margaret Sanger, die von ihr gegründete Organisation Planned Parenthood und deren Anliegen in höchsten Tönen[42]:
«Ich war schon früh mit der Kampagne von Frau Margaret Sanger, mit der Sache von Planned Parenthood — Geburtenkontrolle – verbunden. Bei einigen Gelegenheiten hatte ich die Moglichkeit, ihr zu dienen. Eines der grundlegendsten Probleme der heutigen Welt […] ist das Bevölkerungsproblem. Solange die Menschheit nicht von ihrer sorglosen, beiläufigen, unüberlegten, zwecklosen, rein tierischen Vermehrung von Kindern zu einer wohlüberlegten Elternschaft erzogen werden kann, sind viele der größten Hoffnungen der Menschheit unmöglich. […] Daran glaube ich mit fester Überzeugung.»
Einige Jahre nach dem Ende des Krieges zeigt sich hier das neue Framing, mit der eugenische Anliegen in den Nachkriegsjahren vorwärtsgetrieben wurden: das Wort ‘Bevölkerungsproblem’ ersetzt jetzt Worte wie ‘Rasse’ oder ‘Degenerierung’. Überbevölkerung, Ernährungsknappheit, Babys, welche der Menschheit die Nahrung ‘wegfressen’ – das waren die gewandelten Argumente einer selbsternannte Elite. So konnten Ängste geschürt werden, ohne in die ‘Nazi-Schublade’ geschoben zu werden. Das Statement von Fosdick macht aber auch klar, dass die alten Vorkriegs-Seilschaften und ihre grundsätzlichen Anliegen geblieben sind. Nicht nur das. Fosdick fährt in seiner Argumentation fort[43]:
«In den letzten Jahren hat die Bemühung der Euthanasie-Gesellschaft […] meine Unterstützung gefunden. […] Der Mensch muss sich der ihm auferlegten Verantwortung stellen und einen Weg finden, die hoffnungslos Kranken gnädig von unnötigen Qualen zu befreien.»
Übervölkerung als Problem. Tötung als unter Umständen ethisch legitimes Mittel zur Lösung menschlicher Probleme. Das ist eine toxische Mischung, die Fosdick, ein Meister der Ambiguität, gar nicht konsequent zu Ende denken muss. Das würden andere für ihn erledigen. Die Türe für Abtreibung als ‘Akt der Gnade’ ist weit offen und seine Fans würden hindurchschreiten: Howard Moody und Joseph Fletcher, mit denen ich mich im zweiten Artikel dieser Serie intensiv befasst habe. Beide waren leidenschaftliche Bewunderer von Fosdick. Sie würden in den 60ern zu den ‘christlichen’ Leitfiguren im Kampf für legalisierte Abtreibung werden.
Gerade die Argumentationen von Joseph Fletcher sind ja nichts Weiteres als eine Bewertung des Menschen, wie es die Eugeniker in der ersten Hälfte des Jahrhunderts taten. Man schaue sich beispielsweise die 15 Parameter[44] an, mit denen er in den 70er Jahren einen ‘lebenswerten’ Menschen definierte.
Geblieben sind nach dem Krieg auch Eugeniker wie zum Beispiel Alan Guttmacher (1889–1974). Dieser wird Nachfolger von Margaret Sanger bei Planned Parenthood und lenkt deren Geschicke von 1962 bis zu seinem Tod 1974 als Präsident. Unter seiner Leitung bekommt die Organisation ganz klare Schwerpunkte: man lobbyiert für Verhütung und Abtreibung und hilft gleichzeitig, die Ängste bezüglich Bevölkerungsexplosion zu befeuern. In seinem Buch ‘Babies by Choice or by Chance’ (1959) meint Guttmacher, die sogenannte ‘Population Bomb’ sei das potenteste Argument für Verhütung[45].
“Wenn wir das Bevölkerungswachstum verlangsamen wollen, muss dies durch Empfängnisverhütung geschehen. Dies kann durch eine Verringerung der Heiratsrate oder eine Anhebung des Heiratsalters, durch vermehrte Abtreibungen oder durch die Anwendung von Empfängnisverhütung und Sterilisation erreicht werden.”
Guttmacher sieht Abtreibung also als eines von mehreren legitimen Instrumenten für Bevölkerungskontrolle. Einem Arzt, der wegen der Durchführung einer illegalen Abtreibung verurteilt worden war, drückt er seine Bewunderung aus und schreibt[46]:
«Ich finde, dass die aktuellen Abtreibungsgesetze unrealistisch sind und derart abgeändert werden müssen, dass sie auch gesundheitliche Aspekte, Lebensumstände wie auch eugenische Überlegungen mit beinhalten.»
Guttmacher verkörpert wie kaum ein anderer das Gesicht der eugenischen Bewegung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie sein Nachruf in der New York Times aufzeigt, war er sich sehr bewusst, dass die Agenda der Eugenik nicht mehr durch staatliche Zwangsmassnahmen verwirklicht werden konnte, dass diese aber mindestens so effektiv durch die Hand des Individuums umgesetzt würde, wenn man diesem nur die nötigen Mittel in die Hand geben würde: pränatale Diagnostik, Geburtenkontrolle und legale Abtreibung.
Wer eine präzise Erörterung der Zusammenhänge zwischen Abtreibung und Eugenik möchte, der findet sie in einer Abhandlung aus dem Jahre 2019 von Clarence Thomas (*1948), Richter am Obersten Gerichtshof der USA. Der Zusammenhang ist ohne Zweifel gegeben. Die eugenische Bewegung ist mitnichten mit dem Ende des zweiten Weltkrieges gestorben. Vielmehr hat sie sich neu in einer Art ‘Eugenik-Light’ etabliert, wo das Individuum erledigt, was der Staat nicht mehr darf. Heute wird beispielsweise eine zunehmende Prozentzahl von behinderten Kindern vorgeburtlich abgetrieben[47]. Die erwünschte höhere Lebensqualität – ein wichtiges Ziel der eugenischen Bewegung – wird unter anderem durch sogenannte ‘Lifestyle-Abtreibungen’ erzielt. Konkret erfolgen in der Schweiz 93% der Abtreibungen nicht aufgrund einer gesundheitlichen Notwendigkeit sondern aus psychosozialen Gründen[48]: das Baby passt nicht in die Lebensplanung.
Fazit
«Du sollst nicht ein Kind durch Abtreibung morden, und du sollst das Neugeborene nicht töten.», schreibt der unbekannte Autor der Didache, des ältesten bekannten Kirchenkatechismus aus dem ersten Jahrhundert. Das Leitmotiv dieses Katechismus ist der folgende:
«Zwei Wege gibt es, einen zum Leben und einen zum Tode; der Unterschied zwischen den beiden Wegen aber ist gross.»
Die Geschichte der Abtreibungsbewegung in den USA mit ihren kirchlichen Helfern gehört zur zweiten Sorte: der ‘Weg zum Tode’ wurde beschritten.
Im ersten Artikel dieser Serie habe ich untersucht, wie es zu einem Schulterschluss zwischen der Bewegung der sexuellen Revolution und der feministischen Bewegung mit einer eher radikalen Ausprägung des liberalen Protestantismus kam. Im zweiten Artikel habe ich mich damit befasst, die theologische Begründung zu entdecken, mit der Pastoren in den 60er Jahren in den USA ihre illegalen Abtreibungsvermittlungen rationalisierten.
In diesem Artikel habe ich erarbeitet, wie die eugenische Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen starken Einfluss auf die Social Gospel Bewegung ausübte, wie das eugenische Gedankengut auch die Zäsur des zweiten Weltkrieges überlebt hat und sich in der Theologie und den Argumenten derer wiederfinden lässt, welche in den 60er Jahren zum Sturm auf die restriktiven Abtreibungsgesetze blasen.
Wer sich diese Geschichte zu Gemüte führt, der wird heute hoffentlich mit der nötigen Vorsicht Bewegungen bewerten, welche nach grossangelegter gesellschaftlicher ‘Transformation’ aufrufen – möglicherweise auch mit christlichen Jargon. Es gilt, die Substanz der Argumente im Lichte der Bibel, der jüdisch-christlichen Weltanschauung und der grundlegenden christlichen Bekenntnisse zu prüfen.
Natürlich gilt es auch, das Erbe der Social Gospel Bewegung differenziert zu beurteilen und Gutes zu würdigen. Ihrem ursprünglichen Grundanliegen, sich aus christlicher Nächstenliebe den sozialen Problemen der Zeit zuzuwenden, ist auf jeden Fall zuzustimmen! Doch ein Teil ihres Erbes ist und bleibt die Verstrickung mit der eugenischen Bewegung und die Anfälligkeit ihrer Leitfiguren, nichtchristliche Konzepte aus zeitgeistigen Gründen in ein christliches Gewand zu kleiden und dabei moralischen Schiffbruch zu erleiden.
Am besten zeigt sich dieser Schiffbruch wenn man entdeckt, dass das Mantra des ‘Heiligen Werkes’, welches die Pastoren der Abtreibungsbewegung der 60er geprägt haben, möglicherweise nicht von ihnen stammt, sondern von einem leidenschaftlichen Eugeniker der Zwischenkriegsjahre: dem Arzt und Sexologen William J. Robinson (1867–1936). Dieser war ein Mitstreiter von Margaret Sanger, Atheist, Rassist und leidenschaftlicher Advokat für legalisierte Abtreibung. 1928 prägte er in seinem Buch «Sex, Love and Morality»[49] das Vokabular, welches wir bald 100 Jahre später immer noch in der Abtreibungsbewegung unserer Tage vorfinden[50]:
«Das Motto des Menschenfreundes muss lauten: Machen wir die Abtreibung unnötig, überflüssig, aber bis dahin machen wir sie legal!»
Damit nimmt er den Slogan von Bill und Hillary Clinton vorweg, welche in ihren jeweiligen Wahlkämpfen die bekannte Redewendung geprägt haben, Abtreibung müsse “safe, legal, and rare” sein – also ‘sicher, legal und selten’[51].
Weiter nimmt Robinson die Trimester-Regelung vorweg, welche später Roe v. Wade in den USA etabliert hat:
“Ein Schwangerschaftsabbruch bis zum Ende des dritten Monats sollte völlig legal sein, wenn er von einem Arzt und auf Wunsch der Frau durchgeführt wird.”[52]
Nicht zuletzt nimmt Robinson den religiösen Jargon vorweg, mit dem Pastoren in den kommenden Jahrzehnten Abtreibung als moralisch vorbildlichen, spirituellen Akt darstellen würden[53]:
Wir sind uns völlig darüber im Klaren, dass es unter den heutigen Bedingungen Fälle gibt, in denen die Einleitung einer Abtreibung nicht nur moralisch zulässig ist, sondern zu einer HEILIGEN PFLICHT[54] wird, und die Weigerung, eine Abtreibung vorzunehmen, ein gemeines, feiges Verbrechen darstellt.
Unter diese ‘heilige Pflicht’ fallen für Robinson ausdrücklich auch Abtreibungen, welche die ‘Scham’ einer ungewollten Schwangerschaft verhindern sollen. Es geht also keineswegs um lebensbedrohliche Situationen. Für Robinson ist das menschliche Glück das höchste moralische Prinzip. Was auch immer dieses Glück erhält oder fördert ist in seinen Augen legitim, ja geboten.
Ein Atheist liefert also die religiöse Argumentation für die Pastoren der Zukunft und macht Abtreibung und deren Unterstützung zur ‘heiligen Pflicht’: Der Tod wird zum religiösen Ritual, zur Essenz einer Bewegung. Erhellend ist, in was für einem Verlag das Buch erscheint: im ‘Eugenics-Verlag’ in New York. Deutlicher kann der Zusammenhang zwischen Abtreibungsbewegung und Eugenik nicht auf den Punkt gebracht werden.
Mein Gespräch zum Thema mit Dr. Allan Carlson:
Die Serie im Überblick:
Abtreibung (1/5) – ein heiliges Werk?
Abtreibung (2/5) — eine Theologie
Abtreibung (3/5)– Prediger der Eugenik
Abtreibung 4/5 – Evangelikale am Scheideweg
Abtreibung 5/5 – Wenn Umkehr Fortschritt bedeutet
Aus unserer DNA-Serie:
DNA (3/10): Leidenschaftlich für den Schutz des Lebens
Fussnoten:
[1] Rundschreiben 3 vom 18. Juli 1934 der Auskunftsstelle des Central-Ausschusses für Innere Mission betr. ‘Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses’
[2] Rüdin war Doppelbürger Schweiz / Deutschland.
[3] Vergleiche zum Beispiel sein Buch «Fortpflanzung Vererbung Rassenhygiene» aus dem Jahr 1911
[4] Paul Pflüger, «Einführung in die soziale Frage», 1910, S184
[5] Paul Pflüger, «Einführung in die soziale Frage», 1910, S183
[6]Paul Pflüger, «Einführung in die soziale Frage», 1910, S183
[7] Eugen Bleuler, «Der geborene Verbrecher», 1896, S87
[8] August Forel, «Die sexuelle Frage», 1905, S456
[9] August Forel, «Hygiene der Nerven und des Geistes». In gesundem und kranken Zustande, 1903, S225; Zitiert aus Willi Wottreng, «Hirnriss», S259
[10] August Forel, «Die sexuelle Frage», 1905, S193
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Auguste_Forel
[12] Vgl. Margaret Sanger, «The Autobiography of Margaret Sanger», 1938, S94
[13] Bloch war unter anderem 1913 Mitgründer der ‘Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik’ in Berlin. Die eugenischen Ideen vom Havelock Ellis können in seinem Buch «The Task of Social Hygiene», 1912, nachgelesen werden. Margaret Sanger würde in ihrem Magazin «The Birth Control Review» mit dem Slogan «Birth Control: To Create a Race of Thoroughbreds.» arbeiten (übersetzt: «Geburtskontrolle: für die Schaffung einer Rasse von Vollblütern»), Vgl z.B. die Ausgabe vom Nov. 1921
[14] https://en.wikipedia.org/wiki/No_gods,_no_masters#/media/File:The_Woman_Rebel,_March_1914,_Vol_1,_No._1.gif
[15] 1939, Brief an Dr. C. J. Gamble. Es ging um das gezielte lancieren von Programmen zur Geburtenkontrolle in den mehrheitlich von Schwarzen bewohnten Gebieten des Landes. Eigene Übersetzung. Siehe zum Beispiel: https://eu.usatoday.com/story/opinion/2020/07/23/racism-eugenics-margaret-sanger-deserves-no-honors-column/5480192002/
[16] Christine Rosen, «Preaching Eugenics», 2004, S28-29
[17] New York Times, 29. Mai 1929
[18] Christine Rosen, «Preaching Eugenics», 2004, S116
[19] Gleich zweimal zierte er in den Zwischenkriegsjahren das Cover des Times Magazine: 1925 und 1930
[20] Times Magazine, October 6, 1930
[21] https://www.devex.com/news/devex-newswire-ford-rockefeller-and-a-history-of-eugenics-101763
[22] Viele weitere US-Bundesstaaten würden in den kommenden Jahren mit ihren eigenen Sterilisierungsgesetzen folgen.
[23] Eugenics, Dezember 1928, S9, Rev. Kenneth Mac Arthur. Eigene Übersetzung.
[24] Eugenics, Dezember 1928, S33, Redaktioneller Beitrag. Eigene Übersetzung.
[25] Eugenics, Februar 1930, S9, Kenneth Mac Arthur. Eigene Übersetzung.
[26] Eugenics, Dezember 1930, S9, Kenneth Mac Arthur.
[27] Albert Edward Wiggam, «The next Age of Man», 1927, S21
[28] Christine Rosen, «Preaching Eugenics», 2004, S132
[29] Christine Rosen, «Preaching Eugenics», 2004, S132
[30] Christine Rosen, «Preaching Eugenics», 2004, S132, eigene Übersetzung
[31] Christine Rosen, «Preaching Eugenics», 2004, S184
[32] Christine Rosen, «Preaching Eugenics», 2004, S11
[33] Zitiert aus; Christine Rosen, «Preaching Eugenics», 2004, S16, eigene Übersetzung
[34] Nicht zu verwechseln mit heutigen Definitionen von Fundamentalismus. Vgl: https://en.wikipedia.org/wiki/Fundamentalist%E2%80%93Modernist_controversy
[35] Christine Rosen, Preaching Eugenics, 2004, S169, eigene Übersetzung
[36] Auszug aus seiner Predigt «Spiritual Food for a Hungry World», eigene Übersetzung: https://www.hopefaithprayer.com/books/billysundaysermons.pdf
[37] «Casti Connubi», Absätze 68 bis 71
[38] Eugenics, A Journal of Race Betterment, Dez. 1928, S21, eigene Übersetzung
[39] In England zum Beispiel das Buch «Birth Control : A Statement of Christian Doctrine Against the Neo-Malthusians. », Halliday G. Sutherland, 1922. In den USA zum Beispiel: «Family Limitation and the Church and Birth Control», John A. Ryan, 1916
[40] Weitere katholische Vertreter bemühten sich in der Zeit um sozialen Ausgleich. Ein Beispiel dafür ist die Abhandlung von Donald A. MacLean «The Basis of Industrial Peace», The Homiletic and Pastoral Review, August 1925.
[41] Der Artikel 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 entstand nicht von ungefähr. Er war eine Reaktion auf die Schrecken von Eugenik und Rassenhygiene im Dritten Reich: «Heiratsfähige Männer und Frauen haben ohne jede Beschränkung auf Grund der Rasse, der Staatsangehörigkeit oder der Religion das Recht, zu heiraten und eine Familie zu gründen.“
[42] Harry Emerson Fosdick, «The Living of these Days», 1956, S284, eigene Übersetzung
[43] Harry Emerson Fosdick, «The Living of these Days», 1956, S284-285, eigene Übersetzung
[44] Vgl. The Hastings Center Report , Nov. 1972
[45] Alan F. Guttmacher, «Babies by Choice or by Chance», 1959, S57; Vgl. S51, eigene Übersetzung
[46] Alan F. Guttmacher, «Babies by Choice or by Chance», 1959, S57; Vgl. S138-139, eigene Übersetzung
[47] «Seit Anfang der 2000er Jahre in Island pränatale Screening-Tests eingeführt wurden, hat die überwiegende Mehrheit der Frauen — fast 100 Prozent -, die einen positiven Test auf Down-Syndrom erhalten haben, ihre Schwangerschaft abgebrochen. […] Andere Länder liegen bei den Abbruchquoten für das Down-Syndrom nicht allzu weit zurück. Nach den neuesten verfügbaren Daten liegt die geschätzte Abbruchrate bei Down-Syndrom in den Vereinigten Staaten bei 67 Prozent (1995–2011), in Frankreich bei 77 Prozent (2015) und in Dänemark bei 98 Prozent (2015).» Quelle: https://www.cbsnews.com/news/down-syndrome-iceland/
[48] Gemäss den statistischen Untersuchungen des Bundesamtes für Gesundheit der Schweiz aus dem Jahr 2014 erfolgen 93% der Interventionen erfolgen aus psychosozialen Gründen: «Dabei geben die Frauen in den meisten Fällen an, die finanzielle Situation ermögliche es ihnen nicht, das Kind zu behalten, bereits genug Kinder zu haben, sich nicht imstande zu fühlen, ein Kind aufzuziehen, ein Kind zu haben sei mit der Erwerbstätigkeit oder der Ausbildung nicht vereinbar oder die Familienplanung sei für den Partner kein oder noch kein Thema.» Quelle: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/reproduktive/schwangerschaftsabbrueche.assetdetail.350139.html
[49] «Sex, Love and Morality» ist möglicherweise das erste Buch in den USA, in dem ausführlich für eine Liberalisierung der Abtreibungsgesetze geworben wird. Robinson wird 1933 mit einem weiteren Buch nachdoppeln, welches ausschliesslich dem Thema Abtreibung gewidmet ist.
[50] Dr. William J. Robinson, «Sex, Love and Morality», 1928, S135, eigene Übersetzung
[51] https://www.vox.com/2019/4/10/18295513/abortion-2020-roe-joe-biden-democrats-republicans
[52] Dr. William J. Robinson, «Sex, Love and Morality», 1928, S134-135, eigene Übersetzung
[53] Dr. William J. Robinson, «Sex, Love and Morality», 1928, S132, eigene Übersetzung
[54] BETONUNG durch den Autoren. Eigene Übersetzung
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