In den ersten 5 Teilen habe ich Geschichte und Grundlagen des evangelikalen Schriftverständnisses und der modernen Bibelwissenschaft dargestellt. Wir haben gesehen, dass es sich um einen langen Konflikt handelt, der bis zur Reformation zurückgeht. Abschliessend wage ich den Versuch einer Verständigung. Gibt es Brücken des Verständnisses zwischen beiden Auslegungstraditionen? Schliessen sie sich gegenseitig aus? Welches sind die Chancen, wo liegen die Gefahren?
Wir haben in Teil 1 gesehen, dass es bereits im 19. Jahrhundert zu Konflikten zwischen theologisch konservativen Kräften und der modernen Bibelwissenschaft kam. Dabei entstand immer wieder der Eindruck, es handle sich um eine Auseinandersetzung zwischen Wissenschaftlichkeit auf der einen und Leichtgläubigkeit auf der anderen Seite. Auch heute noch hält sich diese Betrachtungsweise. Den einen sei die Vernunft und die Wissenschaft wichtig (den Vertretern der modernen Bibelwissenschaft), den anderen ein naiver Glaube (den Evangelikalen). Dieses Narrativ ist falsch.
Wissenschaft und Glauben
Wissenschaft und Glauben sollte man nicht undifferenziert miteinander vergleichen. Wenn man das evangelikale Schriftverständnis mit der modernen Bibelwissenschaft vergleicht, stehen sich nicht Wissenschaft und Glaube gegenüber. Es geht vielmehr um zwei weltanschaulich konkurrierende Konzepte, mit je eigenen Voraussetzungen und eigener Berechtigung. Die moderne Bibelwissenschaft fordert, dass die Bibel im Einvernehmen mit der Vernunft ausgelegt wird. Viele übersehen, dass damit kein rein wissenschaftlicher Anspruch erhoben wird. Wenn die Vernunft Massstab der Auslegung sein soll, wird für dieses Vorgehen eine weltanschauliche Glaubensaussage geltend gemacht. Was ist eine «weltanschauliche Glaubensaussage»?
Wir haben uns in Teil 3 mit dem Aufsatz «Über historische und dogmatische Methode in der Theologie» von Ernst Troeltsch befasst. In diesem Aufsatz räumte Troeltsch ein, dass die historisch-kritische Methode «aus der metaphysischen Annahme eines Gesamtzusammenhangs des Universums» hervorgeht.[1] Es lohnt sich, diese anspruchsvolle Aussage näher zu prüfen. Troeltsch sagt, dass alles Geschehen in der Welt rein immanente (innerweltliche) Ursachen hat. Es gibt kein göttliches Eingreifen von aussen in die menschliche Geschichte. Nach Troeltsch ist diese Sicht eine «metaphyische Annahme». Eine metaphysische Annahme aber ist nichts anderes als ein Glaube! Es handelt sich, wie der Ausdruck besagt, um eine Annahme, die über (meta) den physischen (mit den Mitteln der Vernunft oder der Sinne) wahrnehmbaren Dingen steht.
Einen Glauben oder eine Annahme kann man nicht wissenschaftlich beweisen. Es geht deshalb, wenn man das evangelikale Schriftverständnis mit der modernen Bibelwissenschaft vergleicht, nicht um Glauben einerseits und Wissenschaft anderseits. Vielmehr stehen sich Glaube und Glaube im Sinne von zwei Weltanschauungen gegenüber. Es geht um den Glauben, dass Gott ist und dass er zum Heil der Welt in den Verlauf der Geschichte einwirkt einerseits (im evangelikalen Schriftverständnis), und den Glauben, dass dieses Einwirken nicht möglich ist anderseits (in der modernen Bibelwissenschaft wie sie Troeltsch darlegte). In beiden Fällen handelt es sich um Annahmen, die über den physisch erfassbaren Dingen liegen und damit um Glaubensdinge.
Es müsste in der Diskussion um das rechte Schriftverständnis klarer dargelegt werden, dass hier zwei Glaubenssysteme aufeinanderprallen. Die moderne Bibelwissenschaft müsste darauf hinweisen, dass ihre Ansichten vorläufig sind. Stattdessen werden viel zu oft Annahmen als Gewissheiten verkauft. Wenn man beispielsweise davon ausgeht, dass Jesus nicht von den Toten auferstanden sein kann, wird eine weltanschauliche Glaubensaussage gemacht (es ist nicht möglich, dass jemand von den Toten aufersteht). Das ist zwar vernünftig nachvollziehbar, aber nicht sehr wissenschaftlich. Denn ausgeschlossen ist es nicht. Wenn man mit solchen Grundvoraussetzungen die Bibel interpretiert, schliesst man Gottes Wirken zum Vornherein aus. Die Methoden der Auslegung sind dann wie ein Zug, der den Ausleger in eine ganz bestimmte Richtung mitnimmt. Es nützt nichts, wenn man in einen falschen Zug einsteigt und dann im Gang entgegen der Fahrtrichtung läuft, um das berühmte Diktum von Dietrich Bonhoeffer zu gebrauchen.
Die Spannung zwischen Vernunft und Offenbarung, die seit der Reformation Theologen und Denker beschäftigt, bleibt ein ungelöstes Problem. Religiöse Offenbarung und dogmatische Glaubenssätze entziehen sich dem vernünftig Fassbaren. Erfahrungen und Überzeugungen lassen sich rational nun mal nicht nachweisen, weshalb Glaubensätze mit vernünftigen Mitteln weder beweisbar noch zu widerlegen sind. Das gilt sowohl für den Glaubenssatz «Jesus ist auferstanden» als auch den Satz «Es gibt keine Wunder».
Zweifel oder Grundvertrauen
Es gibt keine voraussetzungsfreie Wissenschaft! Der virenfreie Raum, in dem der Bibelausleger mit der Bibel und nichts als der Bibel oder nur mit seinen wissenschaftlichen Grundsätzen am Tisch sitzt, gehört in den Bereich der Märchen. Das führt dazu, dass sich bei der Schriftauslegung darüber Rechenschaft zu geben ist, mit welchen Voraussetzungen man die Bibel liest. Ausgangspunkt der modernen Bibelwissenschaft ist der wissenschaftliche Zweifel am Bibeltext, während es in der evangelikalen Schriftauslegung das Grundvertrauen in die Bibel als Gotteswort ist. Die Bibel mit den Augen des Glaubens zu lesen ist in keiner Weise unwissenschaftlicher als sie mit Zweifel zu lesen. Was Helmuth Egelkraut für das Alte Testament sagt, gilt für die gesamte Bibel:
«Beim Umgang mit dem Alten Testament gehen wir von gewissen in der Bibel selbst verankerten Vorgaben aus, u.a. der, dass das Alte Testament Gottes Wort ist. Wir begegnen ihm deshalb nicht mit Skepsis, sondern mit Grundvertrauen und in dem Wissen, dass uns in ihm Gottes Weg zum Glauben und Leben gewiesen ist.»[2]
Mit seinem vertrauensvollen Lesen der Bibel schliesst sich das evangelikale Schriftverständnis an die altkirchliche und reformatorische Bibelauslegung an. Vom Kirchenvater Augustinus ist der Satz «Wir glauben, damit wir erkennen, wir erkennen nicht, damit wir glauben» überliefert. Er trägt dem Umstand Rechnung, dass die Bibel beansprucht, Gottes Wort zu sein und dass man Gott nur im Glauben richtig begegnen kann (Hebr 11,6). Wenn die Bibel Anrede Gottes an uns ist, kann es einen fruchtbaren Umgang mit der Bibel nur geben, wenn man sie nicht mit kritischer Distanz, sondern vertrauensvoll liest. Darauf haben schon die Reformatoren hingewiesen. Nach Luther müssen einem beim Lesen der Heiligen Schrift «Sinn und Verstand stracks verzagen», weil man sie nur mit «rechter Demut und Ernst zu Gott» und durch die Hilfe des Heiligen Geistes recht verstehen kann:
«Erstlich sollst du wissen, dass die Heilige Schrift ein solches Buch ist, das aller andern Bücher Weisheit zu Narrheit macht, weil keines vom ewigen Leben lehrt als dies allein. Darum sollst du an deinem Sinn und Verstand stracks verzagen. Denn damit wirst du es nicht erlangen, sondern mit solcher Vermessenheit dich selbst und andere mit dir stürzen vom Himmel (wie es Lucifer geschah) in den Abgrund der Hölle. Sondern kniee nieder in deinem Kämmerlein und bitte mit rechter Demut und Ernst zu Gott, dass er dir durch seinen lieben Sohn wolle seinen heiligen Geist geben, der dich erleuchte, leite und Verstand gebe.»[3]
Luther ist das beste Beispiel, dass das vertrauensvolle Lesen der Bibel nicht im Gegensatz zum historischen Erforschen der Schrift steht. Für Luther war klar, dass der menschliche Verstand nicht in der Lage ist, göttliche Dinge zu erfassen. Der Bibelleser braucht den Heiligen Geist, der den Verstand erleuchtet. Entscheidend für Luther war, dass sich die Schrift selbst auslegt. Luther griff die Autorität der katholischen Kirche frontal an und berief sich dabei auf die Schrift. In seiner Abhandlung «Assertio omnium articulorum» von 1520 stellte er sich der Frage, aus welcher Autorität heraus er Kirche und Papst anzweifelte. Seine Antwort:
«Sag mir, wenn du kannst, durch welches Urteil eine Frage abschliessend beantwortet werden kann, wenn die Aussprüche der Väter einander widerstreiten? Man muss nämlich hier mit der Schrift als Richter ein Urteil fällen, was [aber] nicht geschehen kann, wenn wir nicht der Schrift in allen Dingen, die den Vätern beigelegt werden, den ersten Rang einräumen. Das heisst, dass sie selber durch sich selbst ganz gewiss ist (ut sit ipsa per sese certissima), ganz leicht zugänglich (facillima), ganz leicht verständlich (apertissima), ihr eigener Ausleger (sui ipsius interpres), alles von allen prüfend, richtend und erleuchtend (omnium omnia probans, iudicans et illuminans).»[4]
Mit der berühmten Formulierung, dass die Heilige Schrift ihr eigener Ausleger ist («sui ipsius interpres»), war das protestantische Schriftprinzip geboren. Weil die Schrift gewiss und aus sich selbst klar ist, kann man ihr nach Luther vertrauen. Das Zeitalter der Aufklärung zerstörte dieses Vertrauen. Der wissenschaftliche Zweifel verunmöglichte es, sich die Bibel als Gottes Wort geben zu lassen. Dadurch schuf man eine Distanz zwischen Schrift und Leser, so dass das leicht Verständliche und in sich selbst Gewisse der Schrift verlorenging. Die Berechtigung des evangelikalen Schriftverständnisses liegt wesentlich darin, dass sie sich an das vertrauensvolle Lesen der Schrift anschliesst, wie die Reformatoren es forderten und praktizierten.
Einzelergebnisse und Gesamtanspruch
Es gibt «die» historisch-kritische Methode nicht. Sie stellt einen Apparat zur Verfügung, dem unterschiedliche Voraussetzungen zugrunde liegen. Deshalb muss zwischen Einzelergebnissen der modernen Bibelwissenschaft und ihrem Gesamtanspruch unterschieden werden. Einzelne Arbeitsmethoden der modernen Bibelwissenschaft sind im Rahmen eines evangelikalen Schriftverständnisses anwendbar und in manchen Fällen gar unabdingbar. Wenn sie mit Augenmass angewendet werden, leisten sie wertvolle Hilfen zum Verständnis von biblischen Texten. Geht es um den Gesamtanspruch der modernen Bibelwissenschaft einerseits und das evangelikale Schriftverständnis anderseits, sind die Differenzen nach meinem Verständnis kaum überbrückbar.
Für die Evangelikalen ist die Bibel Offenbarungszeugnis des lebendigen Gottes, für die moderne Bibelwissenschaft ist sie das Resultat allmählicher Religionsentwicklung. Der Gesamtanspruch des kritischen Arbeitens an der Bibel lässt im besten Fall ein deistisches Weltbild zu (es gibt einen Gott, aber er greift nicht in die Geschichte ein), so wie es in der Frühaufklärung der Fall war, als man einen Ausgleich zwischen Vernunft und Offenbarung suchte. Die Existenz Gottes wird vorausgesetzt oder geduldet, aber Gott scheidet als Kausalursache (ursächlicher Grund) aus, weil er nicht in den Verlauf der Geschichte eingreift.
In ihrer reinsten Form ist die moderne Bibelwissenschaft die Systematisierung des Unglaubens. Es gibt keine absolute Wahrheit und Gott ist eine Projektion menschlicher Vorstellungen und Wünsche. Die biblischen Texte sind eine Mischung aus Legenden, Fehleinschätzungen und absichtlicher Geschichtsverfälschung. Beide Spielarten schaffen eine Distanz zwischen dem Bibeltext und dem Leser, weil die Bibel nicht als Anrede Gottes gelesen, sondern wie ein Gegenstand untersucht wird.
Trotzdem ist die moderne Bibelwissenschaft nicht grundsätzlich abzulehnen. Es gibt Vertreter, die sich die Bibel als Wort Gottes geben lassen. Zu ihnen gehört Peter Stuhlmacher. Er ist einer der wenigen, der den steinigen Mittelweg zwischen evangelikalem Schriftverständnis und moderner Bibelwissenschaft beschritten hat und dafür von beiden Seiten angefeindet (aber auch respektiert) wurde. Ich teile nicht alle Einsichten von Stuhlmacher, aber ich bin dankbar für seinen Versuch, die Vernunft als gute Gabe des Schöpfers in die Auslegung einzubringen, und die Bibel gleichzeitig vertrauensvoll zu lesen. Es lohnt sich, in einige Aussagen von Stuhlmacher hineinzuhören, auch wenn der Inhalt eher anspruchsvoll ist:
Stuhlmacher fordert, sich der historischen Methode «in allem Ernst und mit aller Nüchternheit zu bedienen».[5] Er nennt aber auch die Voraussetzungen, unter denen diese Indienstnahme fruchtbar sein kann: Die biblischen Texte können dann angemessen ausgelegt werden, wenn man sich ihnen unbefangen nähert und sich das Evangelium von der Schrift vorgeben lässt:
«Die Bibel ist mehr als eine historische Quellensammlung; sie ist der Kanon, den sich die Kirche aus Gehorsam gegenüber dem Evangelium gegeben hat und aus dem heraus sie bis heute die Stimme Gottes und seines Christus vernimmt. Die gesamtkirchliche und individuelle Glaubenserfahrung, dass sich Gott in eigener Autorität durch das biblische Zeugnis vernehmen lässt, gibt der Bibel ihre aller wissenschaftlichen Exegese vorausliegende und transzendierende kirchliche Autorität. Biblische Schriftauslegung hat der Bibel in diesem ihrem Wahrheitsvorsprung zu dienen … Die Bibel ist ein Buch der Geschichte. Jedes ihrer Einzelbücher ist in bestimmter historischer Situation von Menschen für Menschen verfasst. Darum wird man der Bibel am besten gerecht, wenn die Schriftauslegung diesen historischen Charakter der Schrift ausarbeitet und in ihm das alle Zeiten überholende Gotteszeugnis vernehmbar macht.»[6]
Stuhlmacher spricht sich dafür aus, dass der Ausleger bereit ist, auf das zu hören, was die Texte von sich aus sagen wollen:
«Man kann dies nur dann versuchen, wenn man willens ist, die Rolle des Kritikers, der stets das letzte und entscheidende Wort behalten will, zu vertauschen mit dem Part dessen, der zu hören bereit ist, was die Texte aus sich selbst heraus zu sagen haben. Biblische Hermeneutik kann nicht Emanzipation von der Schrift, sondern nur Eröffnung eines Gesprächs mit der Bibel sein wollen, und zwar eines Gespräches, in dem der Einsatz darin besteht, zu vernehmen und verantwortlich zu erwägen, was von den Texten gesagt wird.»[7]
Das Ziel eines solchen Umgangs mit der Bibel geht über die wissenschaftliche Analyse hinaus. Es besteht letztlich in Gehorsam und Gotteslob:
«Die Texte laden uns ein, in den Lobpreis des einen einzigen Gottes einzustimmen, der als Schöpfer der Welt der Gott ist, der Israel zu seinem Eigentumsvolk erwählt hat, und sie geben uns im Kern das Evangelium von Jesus als dem Christus dieses Gottes vor. Die Auslegung der Bibel kommt dort zum Ziel, wo das Evangelium gehorsam nach-gedacht und die Einladung zum Gotteslob angenommen wird, d.h. in der Verständigung mit den Texten über den Glauben.»[8]
Stuhlmachers Beispiel zeigt, dass es möglich ist, das vertrauensvolle Lesen der Bibel mit intellektueller Redlichkeit und der Anwendung historischer Methoden zu verbinden, so dass der Bibeltext sagen kann, was er will. Wenn es gelingt, die biblischen Texte für sich sprechen zu lassen und ihnen mit Vertrauen zu begegnen, können einzelne Arbeitsschritte der modernen Bibelwissenschaft erheblich zum Textverständnis beitragen und die Auslegung bereichern.
Inspiration und Offenbarung
Abschliessend müssen wir uns mit den Themen Inspiration und Offenbarung befassen. In der Auseinandersetzung zwischen evangelikalem Schriftverständnis und historisch-kritischer Auslegung fällt die Debatte immer wieder auf die Frage der Inspiration zurück.
Die Inspiration wirkt wie eine Wasserscheide. Wer sie bejaht, begegnet der Bibel mit Vertrauen. Er nimmt sie als Heilige Schrift wahr und hört in ihr Gottes Wort. Wer den Inspirationsgedanken ablehnt, erblickt in der Bibel ein religiöses Buch wie viele andere. Die Bibel ist für ihn nicht Gottes Wort, sondern Ausdruck der menschlichen Suche nach dem Heiligen. Der Unterschied zwischen beiden Lesarten ist von entscheidender Tragweite. Wir müssen, um die Frage der Inspiration zu klären, nach dem Wesenskern der Bibel fragen. Ich beschränke mich auf drei wesentliche Fragen:
Erstens ist zu fragen, welche Punkte hinsichtlich der Inspiration zwischen evangelikalem Schriftverständnis und moderner Bibelwissenschaft strittig sind. Für evangelikale Christen wie mich ist die Bibel inspiriertes Gotteswort, das uns als verbindliche Weisung gegeben ist. Nach unserem evangelikalen Verständnis bedeutet die Lehre von der Inspiration, dass die Bibel Anteil hat am Wesen und an der Wahrhaftigkeit Gottes, weil es das Wort ist, das von ihm ausgeht. Die moderne Bibelwissenschaft bestreitet diese Wesenseinheit aus weltanschaulichen Gründen. Moderate Vertreter wie Siegfried Zimmer sprechen zwar von Inspiration, aber nicht von einer Wesensverbindung zwischen Gott und seinem Wort. Zimmer erklärt:
«Es ist nämlich ein ganz bestimmter Punkt, an dem in der Christenheit die Wege auseinandergehen. Und diesen Punkt müssen wir genau lokalisieren und genau verstehen. Die entscheidende Frage, die ein Teil der Christenheit mit Ja beantwortet und der andere Teil der Christenheit mit Nein, diese Frage lautet: Folgt aus der Wirkungseinheit zwischen Gott und der Bibel, dass die Bibel selber göttliche Eigenschaften hat? Das ist die entscheidende Frage … Hat die Bibel Anteil an Gottes Absolutheit und Vollkommenheit? Darauf antwortet ein Teil der Christenheit in allen Kirchen und in allen Konfessionen mit einem ganz klaren Nein … Ein anderer Teil der Christenheit in allen Kirchen und Konfessionen antwortet darauf mit einem ganz klaren Ja.»[9]
Zimmer spricht von einer «Wirkungseinheit» zwischen Gott und der Bibel. Die Bibel sei das hauptsächliche Werkzeug, durch das Gott zu uns spreche. Trotzdem bestehe insofern eine «kategoriale Unterscheidung» zwischen Gott und seinem Wort, als die Bibel keinen Anteil an Wesen und Vollkommenheit Gottes habe. Nach Zimmer gibt es zwischen der Bibel und Gott eine Wirkungseinheit, aber keine Wesenseinheit. Für den kritischen Umgang mit der Bibel sei diese Unterscheidung wesentlich:
«Die kategoriale Unterscheidung zwischen Gott und der Bibel schafft den Raum und die Freiheit zur wissenschaftlichen Erforschung der Bibel. Ohne eine solche Unterscheidung ist der wissenschaftliche Umgang mit der Bibel, wie er an den Universitäten praktiziert wird, nicht möglich.»[10]
Zimmers moderat kritischer Zugang lässt in Heilsdingen Raum für den Gedanken der Inspiration. Bei konsequenter Anwendung der historisch-kritischen Arbeitsmethoden hingegen scheidet der Gedanke der Inspiration aus. Die biblischen Texte werden der Kritik der Vernunft unterworfen. Was nicht vernünftig erklärbar ist, gilt als phantasievolle Schöpfung, Mythos oder Irrtum. Das Geheimnis des Glaubens wird rationalistisch wegerklärt.
Es handelt sich beim Streit um die Inspiration um unterschiedliche Gewichtungen, hinter denen je eine Weltanschauung steht. Die moderne Bibelwissenschaft betont stärker die menschliche Seite der Bibel und damit ihre Irrtumsfähigkeit. Für Evangelikale überwiegt die göttliche Seite und damit ihre Verlässlichkeit.
Gotteswort oder Menschenwort
Zweitens gilt es zu fragen, ob die gesamte Bibel Gottes Wort ist oder ob Teile davon als Menschenwort kritisch relativiert werden müssen. Es geht um die entscheidende und seit dem 18. Jahrhundert strittige Frage, ob «Heilige Schrift» und «Wort Gottes» in eins gesetzt werden können oder nicht. Die entsprechende Diskussion kann bis auf Luther und die Reformation zurückgeführt werden.
Für Luther waren die Worte der Bibel vom Heiligen Geist erzeugte Worte, die Kraft und Klarheit haben. Eine ausgebildete Inspirationslehre findet sich in Luthers umfangreichem Schriftwerk nicht. Trotz seiner Hochschätzung der Bibel waren für ihn Bibelwort und Gotteswort nicht völlig identisch. Wie wir in Teil 4 festgestellt haben, war für Luther entscheidend was «Christum treibet». Schriften oder Teile der Bibel, die seiner Auffassung nach nicht auf Christus und seine freimachende Gnade hinwiesen, mass Luther geringere Bedeutung bei als etwa dem Römerbrief oder dem Johannesevangelium. Gotteswort war für ihn nicht einfach die Bibel an sich, sondern das Wort, das Christum treibet und durch Gottes Geist am Hörer wirkt.
In Luthers Prinzip von der Mitte der Schrift ist ein kritischer Mechanismus angelegt, den die Vertreter der modernen Bibelwissenschaft unter Berufung auf Luther gerne bedienen. Bei Luther hatte er noch keine negativen Auswirkungen auf den Umgang mit der Bibel, weil Luther keinen aufklärerischen Zweifel an der Schrift kannte.
Nach der Reformation wurden in der Orthodoxie und im Calvinismus das Verhältnis zwischen Wort Gottes und Schrift dahingehend präzisiert, dass Schrift und Offenbarung gleichgesetzt wurden. Diese Gleichsetzung wurde mit einer voll ausgebildeten Verbalinspiration dogmatisch abgesichert. Heilige Schrift und Wort Gottes wurden jetzt als von Gottes Geist gewirkte Einheit begriffen. So lautet der erste Satz des Zweiten Helvetischen Glaubensbekenntnisses von 1566:
«Wir glauben und bekennen, dass die kanonischen Schriften der heiligen Propheten und Apostel beider Testamente das wahre Wort Gottes sind, und dass sie aus sich selbst heraus Kraft und Grund genug haben, ohne der Bestätigung durch Menschen zu bedürfen.»
Die grosse Wende in der Frage nach dem Wesenskern der Bibel wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert eingeleitet. Mit der aufkommenden Bibelkritik wurde die Einheit von Wort Gottes und Schrift systematisch bestritten. Johann Salomo Semler führte 1771 in seiner «Abhandlung von freier Untersuchung des Canon» die Unterscheidung von Wort Gottes und Heiliger Schrift ein und berief sich dabei auf Luther. Sein berühmter Satz «Heilige Schrift und Wort Gottes ist gar sehr zu unterscheiden» wurde zum kritischen Programm, das bis heute nachwirkt. Nach Semlers Auffassung gehören alttestamentliche Bücher wie Rut, Ester oder Hoheslied zur Heiligen Schrift, aber nicht zum Wort Gottes, weil sie die Menschen nicht «weise machen zur Seligkeit» und nicht der moralischen Besserung der Menschen dienten.[11] Die moderne Bibelwissenschaft folgt in dieser Hinsicht ganz Semlers Spuren.
Mit Semlers kategorialen Unterscheidung ist der Offenbarungsgehalt der Bibel in Frage gestellt. Wenn man wie Semler Heilige Schrift und Wort Gottes voneinander unterscheidet, muss man von eingeschränkter Offenbarung reden. Man muss dann Luthers Impuls folgen und kritisch nach der Mitte der Schrift suchen. Was das Offenbarungsgeschehen im Neuen Testament betrifft, muss man zwischen Jesus einerseits und den neutestamentlichen Schriften anderseits unterscheiden. Der historische Jesus ist der Höhepunkt der Offenbarung Gottes in Person. Die neutestamentlichen Schriften sind dieser Höhepunkt selbst nicht, sondern dienen der Erinnerung an Jesus. Je nach dem können einzelne Schriften dieser Erinnerung besser oder weniger gut dienen und entsprechend diesem Kriterium sind sie wie im Falle des Jakobusbriefs für Luther dann «stroherne Episteln». Folgt man dieser Linie kann von der Heiligen Schrift nicht uneingeschränkt als «Wort Gottes» die Rede sein.
Die Schwierigkeiten, die sich aus diesem Standpunkt für den Glauben ergeben, sind offensichtlich. Wir kennen Jesus gar nicht anders als durch die neutestamentlichen Schriften. Der Satz «Ich glaube nicht an die Bibel, ich glaube an Jesus» führt sich selbst ad absurdum. Er ist nur in einem sehr eingeschränkten Sinn richtig, nämlich in dem Sinn, dass Christen an Gott glauben, nicht an die Bibel. Man kann «der» Bibel glauben (Joh 2,22; Lk 24,35; Apg 24,4), aber nicht «an» die Bibel, denn der Gegenstand des Glaubens ist allein Gott. Trotzdem ist der Satz nicht zielführend, weil wir gar nicht anders als «durch» die Bibel an ihn glauben können. Wir haben ganz einfach keine anderen Quellen (ausser einer handvoll ausserbiblischen Texten, die Jesu Existenz als historische Person bestätigen), die uns mit Jesus bekanntmachen. Die Evangelikalen haben sich darum stets auf den Standpunkt gestellt, dass Christus und das Neue Testament eins sind. Ohne diese Einheit ist der Grundbestand des Glaubens gefährdet und die Rede von der Autorität der Heiligen Schrift nicht haltbar, so dass letztlich alles relativ wird. Nach evangelikalem Verständnis ist die gesamte Bibel Gottes Wort. Die massiven Fehlleistungen der modernen Bibelwissenschaft (ein Ausdruck, den Stuhlmacher verwendet) sind der fehlerhaften Unterscheidung von Heiliger Schrift und Wort Gottes geschuldet.
Wort Gottes und Offenbarung
Drittens ist zu fragen, was wir genau meinen, wenn wir davon sprechen, dass die Bibel Gottes Offenbarung ist. Die Begriffe «Wort Gottes» und «Offenbarung» sind in Bezug zueinander zu setzen. Ausgangspunkt ist der Glaube, dass der historische Jesus die entscheidende Offenbarung Gottes ist. Im Kern geht es um die Frage, ob die Schriften des Neuen Testaments Gottes Offenbarung in Jesus Christus «bezeugen» oder selbst auch Offenbarung «sind». Dieser kleine Unterschied ist im Grunde genommen ein ganz grosser und entscheidender.
Siegfried Zimmer (und auch Peter Stuhlmacher) sprechen von der Bibel als Gottes Wort. Sie möchten aber nicht von der Fehlerlosigkeit der Bibel sprechen. Zimmer geht weiter als Stuhlmacher, indem er sagt, dass die Bibel hunderte von Fehlern enthalte. Die Chicago-Erklärung, auf die ich in Teil 4 eingegangen bin, fasst den Offenbarungsbegriff weiter als Zimmer und Stuhlmacher:
Zum einen sind für die Verfasser der Chicago-Erklärung die Offenbarung durch die Schrift und die Offenbarung in Jesus Christus auf einer Ebene, so dass die Offenbarungsgestalt der Schrift nicht kritisch relativiert werden kann:
«Gott, der selbst die Wahrheit ist und nur die Wahrheit spricht, hat die Heilige Schrift inspiriert, um sich damit selbst der verlorenen Menschheit durch Jesus Christus als Schöpfer und Herr, Erlöser und Richter zu offenbaren. Die Heilige Schrift ist Gottes Zeugnis von seiner eigenen Person.»
Zum andern dehnt die Chicago-Erklärung den Offenbarungsbegriff ausdrücklich auf die Schriften des Neuen Testaments aus:
«Als Adam sündigte, überliess der Schöpfer die Menschheit nicht dem endgültigen Gericht, sondern verhiess das Heil und begann in einer Folge von historischen Ereignissen sich selbst als Erlöser zu offenbaren … Diese Linie der prophetischen Sprecher Gottes fand ihren Abschluss in Jesus Christus, der selbst ein Prophet war … und in den Aposteln und Propheten der ersten christlichen Generation. Als Gottes endgültige und auf den Höhepunkt zulaufende Botschaft, als sein Wort an die Welt in Bezug auf Jesus Christus gesprochen und von den Aposteln erläutert worden war, endete die Abfolge der Offenbarungsbotschaften.»[12]
Nach dieser Auffassung, die dem klassischen evangelikalen Schriftverständnis entspricht, sind die neutestamentlichen Schriften mehr als Erinnerungszeugnis an den historischen Jesus und mehr als bezeugtes Wort. Das Neue Testament ist nicht nur Zeugnis der Offenbarung, sondern durch den Geist gewirkte Offenbarung selbst. Diese Position entspricht dem Selbstanspruch der Bibel. Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament werden göttliche Offenbarungen so bezeugt und gedeutet, dass sie zu einer Einheit werden. Dabei ist nicht nur das Offenbarung, was bezeugt wird, der Vorgang der Deutung gehört ebenso zum Offenbarungsgeschehen. Von daher verstehen Evangelikale die Schrift «sowohl als Zeugnis von geschehener Offenbarung, als auch als göttlich inspiriertes Offenbarungswort».[13] Es ist dieser Glaube, der die weltweite evangelikale Bewegung zusammenhält und einen dynamischen, erwecklichen Glauben fördert.
Die moderne Bibelwissenschaft geht diesen Weg nicht mit und trennt geschehenes und bezeugtes Wort voneinander. Wenn man diese Trennung aufrechterhält, muss man kritisch nach der Mitte der Schrift suchen. Diese Mitte ist Jesus, weil in ihm die entscheidende Selbstoffenbarung Gottes geschehen ist. Jesus ist dann so etwas wie ein «Kanon im Kanon» und dient als Mittel, um die Aussagen der Bibel zu überprüfen und gegebenenfalls zu kritisieren. Das ist problematisch, wie das folgende Beispiel zeigt:
Nach Siegfried Zimmer widerspricht die zehnte Plage von der Tötung der ägyptischen Erstgeburt der Lehre Jesu von der Feindesliebe und kann deshalb nicht auf Gott zurückgeführt werden. Zimmer rechnet mit harten Widersprüchen zwischen einzelnen Bibeltexten und Jesus. In solchen Fällen gelte:
«Biblische Texte, die etwas anderes für richtig halten, als Jesus uns gelehrt hat, dürfen unser Gewissen nicht binden. Das Gottesverständnis Jesu, der Lebensstil Jesu und das Evangelium von Jesus Christus sind für uns der Massstab, an dem wir alles andere in der Bibel messen. Dann können wir nicht mehr alle Geschehnisse, die in biblischen Texten auf Gott zurückgeführt werden … auf Gott zurückführen … Im Konfliktfall argumentieren wir ohne jedes Zögern mit Jesus Christus gegen die Bibel.»[14]
Das Problem mit Zimmers Auffassung ist, dass im Fall des Alten Testaments eine Kritik dieser Art inkonsequent ist. Zimmer will im Konfliktfall «mit» Jesus «gegen» das Alte Testament argumentieren. Das erweist sich als unbiblisch. Es gibt nirgends in der Schrift eine Anleitung, Schrift mit Schrift abzulehnen.[15] Jesus kritisiert das Alte Testament nirgends, sondern anerkennt es als das wahre Gotteswort (Mt 5,18; Joh 10,35). Wie will man das Alte Testament mit Jesus kritisieren, wenn Jesus selbst an keiner Stelle erkennen lässt, dass solche Kritik angebracht ist, sondern im Gegenteil sein kategorisches Nein zu jeglicher Kritik am Alten Testament ausspricht?
Schlussfolgerung
Jede neue Generation von Christen muss sich dem Konflikt um die Bibel stellen. Die damit verbundenen Grundsatzfragen, die ich in dieser Serie behandelt habe, sind mehr als Theologenstreit. Sie berühren zentrale Fragen des Glaubens und der Lebensführung. Ich bin dankbar, dass die moderne Bibelwissenschaft in der Theologie das Bewusstsein geweckt hat, dass die Bibel als historisches Buch ernst genommen werden will. Einzelne Arbeitsmethoden der kritischen Forschung haben sich als essentiell für die Auslegung erwiesen. Aber ich kann den Gesamtanspruch, den die historisch-kritische Auslegung erhebt, nicht mittragen, weil er dem Selbstzeugnis der Schrift widerspricht. Nach meinem Verständnis gibt es eine Wesenseinheit zwischen Gott und seinem Wort. Weil die Bibel das Wort ist, das von Gott ausgeht, hat sie Kraft und die Zeiten und Kulturen überschreitende Autorität. Das evangelikale Schriftverständnis überzeugt dadurch, dass es dieses Wort ernstnimmt.
Bilder:
iStock
Fussnoten:
[1] Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie, 742.
[2] Egelkraut, Das Alte Testament, 13.
[3] WA 50, 659,5ff. Zitiert bei Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments, 17.
[4] WA VII, 97. Zitiert bei Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, 105–106.
[5] Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments, 223.
[6] Ebd., 222–223.
[7] Ebd.
[8] Ebd.
[9] Zimmer, Warum das fundamentalistische Bibelverständnis nicht überzeugen kann, 7:21ff.
[10] Zimmer, Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?, 40.
[11] Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, 19.
[12] Chicago-Erklärung, Kommentar, 12.
[13] Stadelmann, Evangelikales Schriftverständnis, 99.
[14] Zimmer, Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?, 91–93.
[15] Maier, Biblische Hermeneutik, 265.
Im Grunde geht es evangelikal Gläubigen um die Abwehr einer “Theologie”, die die Wunder und ein wortwörtliches Verständnis der Bibel infrage stellt. Doch selbst, wenn alle evangelikal denken würden, hätten wir längst noch nicht eine “der Sache” angemessene Bibelauslegung. So oder so haben wir n u r Schriftgelehrsamkeit. “Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geist Gottes…” (1. Kor. 2,14). Das ändert sich auch nicht, wenn man sich auf den Hl. Geist beruft, sondern nur wenn man selbst im Prozess der Heiligung und damit der Freiwerdung von allem Vernebelndem, Vorurteilshaften sich befindet. Dann, wenn man wirklich Freude am Heilwerden und an der Wahrheit entwickelt, entstehen schrittweise Erkenntnisse der Wahrheit. Dann erst hat man Vollmacht!
Siehe dazu auch bereits einige Jahrzehnte alte, immer noch gültige Text: https://www.academia.edu/21127861/Theologisieren_heute_Eine_notwendige_Besinnung (Zum Lesen mit dem cursor rechts scrollen).
“Gottes Geist bezeugt unserem Geist, dass wir Gottes Kinder sind” (Röm. 8,16; Joh. 1,12). Gottes Geist, den wir nicht fassen können, mischt sich bei uns ein. Da berührt sich das, was wir wissenschaftlich nicht erkennen und erklären können, mit dem, was wir selber mehr oder weniger verstehen, erklären erforschen und diskutieren können, unserer “Realität”. Es erinnert mich an den Bericht, in dem erzählt wird, dass da plötzlich etwas war, das den Saulus umhaute (Apg. 9,4). Er konnte sich das selber nicht (wissenschaftlich) erklären, was da mit ihm geschieht. Er erlebt, erfährt die wissenschaftlich unfassbare Seite an sich selber und erkennt Jesus, der von den Toten auferstanden ist. Er erkennt, dass es diese Realität auch gibt, nicht nur diejenige, die er mit seinem eigenen Verstand, seinem eigenen Wissen, seiner eigenen Logik, Bildung usw. fassen kann. Menschlich gesehen können wir diesen Konflikt des unterschiedlichen Bibelverständnisses vielleicht nicht überbrücken. Ich habe den Eindruck, das ist etwas Verborgenes, ein Geheimnis, das nur Gott selber uns offenbaren kann, uns die Augen dafür öffnen kann (so z. Bsp. auch dem Bileam und vielen anderen Menschen). Wenn Gott Menschen etwas offenbart, dann überzeugt das mit oder trotz allen bisherigen (wisschenschaftlichen) Erkenntnissen. Dann gilt auf einmal ohne Widerspruch die unverrückbare Realität Gottes, die für die für uns fassbare als auch für die für uns unfassbare Welt gilt. Und wir können/sollen vielleicht nicht anders, als das, was Gott zusammenfügt, nicht trennen — nicht nur bei Mann und Frau, sondern auch in Erkenntnissen.
Vielleicht muss ich damit beginnen, dass ich Roland Hardmeier (auch wenn ich ihn nicht persönlich kenne) wirklich mag :). Ich habe einige seiner Bücher und Gedanken mit Genuss und Gewinn gelesen. Auch die vorhergehenden 5 Blogs zum Thema haben mir von ihrer Analyse und Ausgewogenheit her gut gefallen. Diese Nr. 6 bringt mich aber in gewisse Verzweiflung! Natürlich ist Hardmeier evangelikaler Theologe mit evangelikalem Schriftverständnis, aber der Artikel lässt in meinem Mund den schalen Nachgeschmack (was sicherlich nicht Hardmeiers Absicht war, das bin ich mir bewusst!!) einer selbstgefälligen evangelikaltheologischen Sicht auf die moderne Bibelwissenschaft im Sinne von: “jaja… wenn man sie entkernt, auseinanderfriemelt und in ihre Einzelteile zerlegt, findet man sogar Nützliches unter dem ganzen Quatsch — aber unterjocht unter das richtige Verständnis muss sie sein!”
Spannend finde ich beispielsweise die “Verwendung” Luthers. Die Aussage, dass man die Schrift mit der Schrift auslegen kann, ist nach meinem Dafürhalten, an die Schrift herangetragen (was sie nicht grundsätzlich falsifiziert!), wird dann aber gerne genommen und konsolidiert. Luthers Idee von der Mitte der Schrift wird akzeptiert (mit dem Satz, dass sie bei Luther “noch” keinen Schaden angerichtet habe…), wenn jedoch bspw. ein David Gushee über dieses Argument die Ehe für LGBTQI+ fordert, ist schnell wieder Schluss mit damit.
Dann der Satz: “In ihrer reinsten Form ist die moderne Bibelwissenschaft die Systematisierung des Unglaubens” und der darauf folgende kurze Abschnitt sind mich traurig stimmende Polemik. Natürlich findet man das, wenn man das finden will. Genauso könnte ich sagen “kontemporäres evangelikales Schriftverständnis ist die Systematisierung von ignorantem Fundamentalismus” — und auch ich würde belege und Argumente dafür finden. Inwiefern hilft diese Aussage dem Diskurs weiter? Ausserdem ist es nicht einfach die Kritik der reinen Vernunft, welche Distanz zwischen Mensch und Bibeltext schafft… genauso kann evangelikaler Biblizismus grosse Distanz zwischen Mensch und Bibel (nicht zu sagen zwischen Mensch und Gott) schaffen. Man kann beide Seiten mit ähnlichen Argumenten kritisieren, aber wie gesagt… den Diskurs bringt das nicht weiter, im Gegenteil…
Die Aussage, dass die Bibel Anteil am Wesen Gottes hat, finde ich faszinierend (meine ich jetzt ohne ironischen Unterton). Mein Problem mit der Aussage ist nicht, dass ich die Bibel nicht für das Wort Gottes halte, auch nicht, dass ich mich ihr nicht über meine Vernunftsgrenze hinaus anvertrauen möchte und auch nicht, weil ich in die leidige Diskussion zwischen “Ist sie Wort Gottes, oder enthält sie Wort Gottes” einsteigen möchte. Mein Problem wurzelt darin, dass wenn sie Teil am Wesen Gottes hat, sie ja irgendwo in der Wesensart Gottes eingegliedert sein muss. Hier komme ich an die Grenze einer heiligen Vierfaltigkeit, also zur “bibliolatrie”. Ich weiss, dass sie von evangelikaler Seite gerne irgendwo mit Jesus verknüpft wird (lebendiges Wort bietet sich natürlich an…) aber was ist sie dann? Bill Johnson nennt sie gerne “Jesus in print”… ist sie das? Ist sie Teil des Messiasgeheimnisses? Ist sie ein von der Patristik noch undiskutierter Teil Gottes, eine vergessene (oder noch in der Zukunft liegende) Hypostase? Wie gehört sie zur substantia Gottes? Nur weil sie von ihrem Wesen her von Gott zu unterscheiden ist, heisst das ja nicht, dass sie deshalb weniger autoritatives, verbindliches Wort Gottes ist, durch welches Gott alles bewirken kann, was er möchte. Es bedeutet aber, dass wir uns nicht einfach hinter einer absichernden Prämisse verstecken können.
Ein für mich immer fehlender Teil in dieser Bibeldiskussion ist auch, dass Gott nicht Subjekt meiner Verstehensbedingungen ist. Ich kann Gott falsch verstehen (tue ich ja auch… er ist einfach zu gross :)), dadurch verändert sich aber Gott selbst nicht. Der Inhalt Gottes wird nicht angetastet durch mein falsch-verstehen, weil er eben nicht Subjekt meines Verstehens ist — die Bibel aber schon! Sie ist uns gegeben ohne Gebrauchsanleitung! Natürlich sind die ganzen Diskussionen ums Schriftverständnis nötig, weil wir eben Versuchen, unser Annähern an die Bibel zu normen, aber genau das zeigt doch, dass sie eben nicht wie Gott ist, denn ihre Aussage und Absicht verändert sich, je nachdem mit welcher Brille wir sie lesen. Gott selbst ist aber wie er ist. Wenn wir ihn falsch verstehen, verändert er sich und sein Wirken nicht, wenn wir aber die Bibel so oder so auslegen, dann verändert es definitiv ihren Einfluss auf unser aller Leben. Durch unsere Verstehensbedingungen könne wir uns die Bibel quasi “Untertan” machen — Gott nicht.
Die Aussage “ich glaube nicht an die Bibel, aber ich glaube an Jesus” ist sicherlich kein Absurdum, ausser natürlich, wenn man sie nur auf die Quellenlage beschränkt, dann mag das vielleicht sein (obwohl ich Geschichten von Menschen kenne, denen ist Jesus einfach so begegnet, einfach so an der Bibel vorbei…). Natürlich berichtet die Bibel verlässlich über Jesus. Aber ich glaube nicht “an” die Bibel im Sinne einer Gottheit, sondern im Sinne einer verlässlichen Vermittlung zu eben diesem einen Gott. Da ich aber diesen Gott kennengelernt habe, erfahren habe, wenn man so will “gespürt habe”, dies ist für mich die Bestätigung der Bibel und nicht umgekehrt (obwohl man natürlich mein Argument genau auch ins Gegenteil verdrehen kann — vielleicht ist das so ein Paulus/Jakobus Ding — wurde Abraham jetzt wegen Glaube oder Tat erlöst? Glaube ich durch Gott an die Bibel, oder durch die Bibel an Gott?). Wenn ich mir ein Buch kaufe “wie bastle ich einen Drachen?” und ich folge diesem Buch und schlussendlich habe ich einen Drachen, den ich steigen lassen kann, dann hat diese Tatsache den Inhalt des Buches bestätigt, aber ich lasse doch nicht das Buch steigen, weil das (abgesehen von der Tornado Saison) nicht funktioniert und auch nicht Sinn der Sache ist.
@Michael Kämpf: Ich stimme dir zu: Den Satz im Schlussabschnitt über die “Wesenseinheit” zwischen Gott und der Bibel sehe ich auch als hochgradig problematisch — ist mir beim ersten Lesen nicht mal aufgefallen! Der Begriff war zentral in der langen Diskussion im 4. Jh. über die Gottheit Christi und ist bezüglich der Bibel fehl am Platz. Was man m.E. sagen kann, ist, dass die Bibel einige von Gottes Eigenschaften teilen kann, so wie wir als Menschen das auch können.
@Andreas Hahn: Finde ich schön ausgedrückt :). Für mich ist diese Diskussion eben Teil der Suche nach einem gesunden Verhältnis zur Bibel. Sie ist unverzichtbarer, integraler Bestandteil dessen, wie Gott mit uns Menschen unterwegs sein möchte. Aber ich scheue mich davor und sehe es auch als nicht notwendig, sie durch eine Wesensverbindung mit Gott irgendwie “absichern” zu müssen.
Danke an Roland Hardmeier für die Beiträge. Ich finde die Darstellung insgesamt gelungen. Ein paar spontane Anmerkungen hätte ich dazu:
— Ich frage mich, ob Peter Stuhlmacher ein passendes Beispiel für einen “steinigen Mittelweg” zwischen einem evangelikalen und einem historisch-kritischen Bibelverständnis ist. Wie ich seinen Ansatz in Erinnerung habe, akzeptiert er die Troeltzschen Kriterien (grundsätzliche Kritik, Analogie, Korrelation), möchte sie aber erweitern durch eine Grundhaltung des Vertrauens. Ob das möglich ist und dann in der Auslegung der Bibel durchzuhalten ist, würde ich in Frage stellen.
— Zur Thematik “Offenbarung in Christus und Offenbarung in der Schrift”: Dazu bietet Kevin Vanhoozer einige hilfreiche Überlegungen: Christus und die Schrift sind beide Offenbarung Gottes, jedoch nicht im gleichen Sinn: Christus ist der gott- menschliche Handlungsträger Gottes (eine Person), die Schrift ist der gott-menschliche Sprechakt Gottes (ein Text). Ausführlich in verschiedenen Publikationen, u.a. First Theology: God, Scripture and Hermeneutics, 2002.
— Zum Themenkreis “Schrift und Wort Gottes”: Der Wort-Gottes-Begriff ist sicher weiter als die Schrift (vgl. Offb 19,13, wo Christus “das Wort Gottes” genannt wird). Doch könnten wir die Schrift als das bezeichnen, was uns heute vom ergangenen Wort Gottes direkt zugänglich ist. Die altprotestantische Orthodoxie hatte das recht gut erfasst mit der Formulierung, dass die Schrift das auf Buchstaben “heruntergebrochene” Wort Gottes ist.
Soviel mal in aller Kürze, und nochmals vielen Dank.
“Die moderne Bibelwissenschaft”, “ein, oder das evangelikale Bibelverständnis” – mir scheint es hier eher um weitere Lagebildung oder Verfestigung von Lagergrenzen zu gehen, als um eine ernsthafte, ernstzunehmende Auseinandersetzung.
“Jeder” weiß doch heute, dass es solche einheitlichen Stimmen von größeren Gruppierungen nie geben kann-
Was ist denn überhaupt ein (offenbar absolut statisches) “evangelikale Bibelverständnis”? Wer braucht so etwas? Hat irgendjemand bei (sogenannten) Evangelikalen irgendetwas unterschrieben und kommt jetzt auf Gedeih und Verderb nicht mehr davon los? (Verzeiht mir die, auf diese Semantik bezogene Ironie…)
Und wenn man diesen Begriff des evangelikale Bibelverständnisse gelten lassen würde, dann würde dieses Verständnis nach meinem Empfinden, doch einem stark existentialistisch geprägten entsprechen… immer wieder diese Anspielungen, dass ‘Begreifen’ in Bezug auf Gottes Handeln nicht möglich ist – die Vernunft, wenn überhaupt zu irgendetwas zu gebrauchen, dann für eine doch sehr untergeordnete Rolle. (Vielleicht konnte die Aufklärung nur, oder zumindest maßgeblich dadurch zustande kommen, dass viele Christen, “die Vernunft” viel zu stark außen vorgelassen haben… aber das ist jetzt mal einfach eine Vermutung von mir…)
Man wird die biblischen Schriften in der Weise verstehen, wie man sie verstehen will… wenn man nicht bereit ist, sein eigenes (bisheriges) Verständnis zu hinterfragen, oder hinterfragen zu lassen.
Ohne diese Bereitschaft macht es gar keinen Sinn, sich mit der Thematik zu beschäftigen… Doch mit dieser Bereitschaft mag der Ausgangspunkt dann gar nicht mehr so entscheidend sein, sondern die Weise, wie man seinen Weg geht.
Ich meine, wir sind als Menschen auch dazu da, damit Weiterentwicklungen stattfinden können. Wo ist bei den ganzen sechs Artikeln hier irgendetwas innovatives, etwas was einen wirklich weiterbringen kann zu finden? Nicht einmal wesentliche Dinge, die einigen zwar bekannt, aber wohl für viele neu und bereichernd zu wissen wären, werden erwähnt. Es scheint die ganze Zeit hauptsächlich darum zu gehen, etwas zu verteidigen und nicht darum, den Dienst einer gründlichen Ausarbeitung mit Weite und Tiefe zu tun, um die Leser damit zu bereichern.
Es ist mit Sicherheit ein großes Wunderwerk, dass wir heute ein Buch haben, in dem ausgerechnet die Werke in der Weise zusammengefasst sind, wie wir sie jetzt haben. Das ist kein Zufall – meine Ansicht. Gott selbst scheint es irgendwie so arrangiert zu haben, dass das ganze so zustande kam.
Aber Menschen haben die Texte aufgeschrieben, auf der Basis dessen, was sie selbst erlebt haben, wovon sie gehört hatten, sie in besonderer Weise Erkenntnis erlangt hatten, was ihre Meinung war usw. Die Texte wurden immer wieder (nicht immer fehlerfrei) abgeschrieben; bei der Kanonisierung wurde (auch aus-) sortiert, in Büchern zur Bibel ist auch von ‘verloren gegangenen Schriften die Rede usw.…
Jesus selbst hat offenbar nicht begonnen eine schriftliche Zusammenstellung wesentlicher Inhalte o. ä.zu organisieren, aufzubauen usw. Und auch Paulus hat fing wohl nicht damit an, eine Art “Heilsbuch” zusammenzustellen. Ich finde man muss sich das mal vor Augen halten: Die ersten Christen hatten jahrhundertelang keine Bibel. Das es die Bibel so gibt, wie heute, entstand im lauf der Kirchen- oder mit einem anderen Begriff, der christlichen Gemeindegeschichte.
Das, finde ich, ist ein ganz wesentlicher Punkt – immer wenn es um die die Auseinandersetzung mit den biblischen Schriften geht.
Heute ist soviel zum Entstehen und zum ursprünglichen Umfeld der biblischen Texte bekannt, zu dem die meisten Christen keinen Zugang vermittelt bekommen. (Klar gibt es bei diesen Dingen wohl auch vielerlei Annahmen, Wahrscheinlichkeiten usw., Erkenntnisse ändern sich… Peter van der Veen zeigt in seinem Buch ‘Keine Posaunen vor Jericho?’ wunderbar auf, wie sich “wissenschaftliche Erkenntnisse” – dort zur frühen Geschichte Israels – immer wieder geändert haben… von solch einem Umgang mit Fakten und Interpretation wäre für die Auseinandersetzung mit den biblischen Schriften vielleicht einiges zu lernen…).
Das die Bibel jedermann zugänglich sein sollte, ist sehr wichtig. Immer wieder kann Gottes persönliche Stimme beim lesen hörbar werden.
Auf der anderen Seiten ist die Bibel aber auch ein sehr anspruchsvolles Buch. (Die Aussage, dass davon auszugehen ist, dass jedes Wort, das einst niedergeschrieben wurde, mit schier unvorstellbarer Sorgfalt ausgewählt wurde, stammt auch von Siegfried Zimmer) Vieles kann man erst durch intensives forschen verstehen, historisch, literarisch, theologisch usw. Diese Art von ‘Beschäftigung mit der Bibel’ sind wir ihr schuldig… also nach meiner Ansicht, kein ‘kann’, sondern ein ‘muss’. (wird aber wohl von so vielen Christen sträflich vernachlässigt.. Und auch das sei noch gesagt: Auch Gelehrte können irren.)
Gut.
Ich hab’ mich hier nun durch das schreiben etwas “abreagiert”… steht jetzt viel mehr das, als ich anfangs dachte, dass es wird.
Jetzt stehen hier außer ein paar ’spitzen Bemerkungen’ auch einige Argumente und jeder der das hier lesen wird, kann selbst urteilen, was er davon hält.