Das evangelikale Schriftverständnis hat viele Gesichter. Es ist vom Vertrauen geprägt, dass die Bibel Gottes Wort an uns ist. In diesem Teil beschreibe ich das evangelikale Schriftverständnis und vergleiche es mit dem Fundamentalismus und dem Post-Evangelikalismus. Die Unterschiede zwischen diesen einander verwandten Ansätzen der Auslegung ergeben sich aus ihrer Geschichte und ihrem Weltbezug.
Weil die Evangelikalen weder eine Kirche noch eine Denomination sind, sondern eine Bewegung mit unscharfen Grenzen, ist das Schriftverständnis nicht eindeutig festgelegt. Das erstaunt für eine Bewegung, die sich wesentlich durch ihre Bibelhaltung definiert. Es zeigt aber auch, dass die Bewegung trotz ihrer grundsätzlich konservativen Ausrichtung theologisch dynamisch und formbar ist. Das Spektrum reicht von der teilweisen Akzeptanz historisch-kritischer Forschungsergebnisse und der Ablehnung der Verbalinspiration (Gott diktierte den biblischen Verfassern den Text) bis zum Festhalten an der völligen Irrtumslosigkeit der Bibel. Trotz dieser Breite kann man von einer dreifachen Grundorientierung sprechen, welche die Bewegung zusammenhält.
Geschichtlichkeit und Verlässlichkeit
Evangelikale verbindet erstens der Glaube an die historische Verlässlichkeit der Bibel Alten und Neuen Testaments. Die biblischen Geschichten sind nicht Legenden, sondern von Gott in Raum und Zeit gewirkte Geschehnisse, von denen glaubwürdige historische Zeugnisse vorliegen.
Die Bibel ist nach evangelikalem Verständnis eine Einheit. Das Alte Testament als das Buch der Anfänge ist auf das Neue Testament als das Buch der Erfüllung angelegt. Das Neue Testament setzt die alttestamentlichen Texte, ihre Kenntnis, ihre Kraft und ihre Geltung voraus. Nur aufeinander bezogen können beide Teile richtig verstanden werden. Die meisten evangelikalen Christen lesen die Bibel deshalb «heilsgeschichtlich». Der Begriff besagt, dass die Bibel einen göttlichen Heilsplan enthält. Gott lenkt die Geschichte durch sein Einwirken so, dass sich daraus ein zusammenhängendes Geschehen ergibt, das auf die Verherrlichung Gottes und das Heilwerden der Schöpfung zielt. Die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments reflektiert dieses zusammenhängende Geschehen durch ihre theologische Einheit. Die biblische Story ist zwar äusserst vielgestaltig, was Themen und Ereignisse betrifft. Trotzdem ist die Bibel mehr als ein Kompendium von Gotteserfahrungen. Ihr eigentlicher Autor ist Gott, der durch die Schriften der Bibel seinen göttlichen Heilsplan offenbart.
Die heilsgeschichtliche Lesart der Bibel führt zur unauflöslichen Verbindung von Glauben und Geschichte. Dem Glauben kann nach evangelikalem Verständnis nur gewiss sein, was sich in der Geschichte ereignete. So hat Gott in der Auferstehung Jesu konkret in Raum und Zeit gehandelt, so wie er im Auszug aus Ägypten handelte oder zu den Propheten sprach. Dieses heilbringende Wirken Gottes in der Menschheitsgeschichte führt zur heilsgeschichtlichen Betrachtung der Bibel. Sie bringt die Überzeugung hervor, dass sie als echte «Geschichte» mehr als ein Kompendium von «Geschichten» ist, die blosse Ideen transportieren.
In der Verhältnisbestimmung von Glauben und Geschichte liegt ein Grundsatzkonflikt zwischen evangelikaler Theologie und moderner Bibelwissenschaft. Durch den Einfluss der Aufklärung begann die wissenschaftliche Theologie im 18. Jahrhundert Glaube und Geschichte voneinander zu trennen. Die Erzählungen der Bibel gäben nicht notwendigerweise historische Realitäten wieder und der Glaube sei auf diese auch gar nicht angewiesen. Demgegenüber hielten konservative Kreise an der Geschichtlichkeit der in der Bibel berichteten Erzählungen als Realgrund des Glaubens fest.
Die eine Seite geht also von einem ungeschichtlichen Glauben aus. Die geschichtliche Verankerung des Glaubens wird als zweitrangig betrachtet, weil es in der Bibel vornehmlich um überzeitliche Wahrheiten gehe. Die andere Seite ordnet die Geschichte dem Glauben vor. Nur was tatsächlich geschehen sei, könne dem Glauben als Realgrund dienen. Dieser Grundsatzkonflikt besteht als ungelöstes Problem zwischen evangelikalem Schriftverständnis und moderner Bibelwissenschaft bis heute fort.
Inspiration und Unfehlbarkeit
Der Glaube an die Verlässlichkeit der Bibel ergibt sich für Evangelikale zweitens aus dem Glauben an die Inspiration. Unter Inspiration ist ein übernatürlicher, durch göttliche Vorsehung bewirkter Einfluss des Heiligen Geistes gemeint, der die Verfasser der biblischen Schriften veranlasste, das zu schreiben, was dem göttlichen Willen entspricht, ohne dabei ihre Persönlichkeit auszuschalten. Nach evangelikalem Verständnis ist die Bibel Alten und Neuen Testaments vom Heiligen Geist gewirktes Zeugnis und als solches verbindliches Gotteswort.
Der Glaube an die Inspiration ist kein von aussen an die Bibel herangetragener Gedanke. Er ergibt sich aus dem biblischen Zeugnis Alten und Neuen Testaments, das uns die Propheten, Jesus und die Apostel hinterlassen haben. Die stehende Formel «so spricht der Herr» im Mund der Propheten ist Ausdruck davon, dass sie ihre Botschaften unter dem Eindruck niederschrieben, dass der Gott Israels durch sie sprach. Jesus billigte dem Alten Testament Autorität zu, er erläuterte seine Sendung aus dem Alten Testament, er machte davon Gebrauch als er Versuchungen widerstand, und er bestand auf der Verlässlichkeit der Schrift (Joh 10,35; Mt 4,1ff; 5,17). Paulus fasst den Glauben an die Inspiration des Alten Testaments in dem Satz «die Schrift ist von Gott eingegeben» zusammen (2Tim 3,16–17). Dieses biblische Selbstzeugnis ist nach evangelikaler Auffassung unbedingt ernstzunehmen, damit die Bibel von sich aus das sagen kann, was sie will.
Die hohe Wertschätzung des Alten Testaments wird von Evangelikalen auf die kanonischen Schriften des Neuen Testaments ausgedehnt (auf die sich Paulus noch nicht bezogen haben konnte, weil es das, was wir heute ganz selbstverständlich das Neue Testament nennen, damals noch nicht gab). Die Bibel in ihrer Gesamtheit ist nach evangelikalem Verständnis Gottes inspiriertes Wort.
Die verschiedenen Theorien der Inspiration, die sich im Laufe der Zeit ergeben haben, sind mit dem Gedanken der Irrtumslosigkeit der Bibel verbunden. Für weite Teile der evangelikalen Bewegung, auf jeden Fall für ihren fundamentalistischen Flügel, führt die Lehre von der Inspiration zur Lehre von der Irrtumslosigkeit der Bibel. Derek Tidball schreibt in seinem Grundlagenwerk:
«Zwei Begriffe, die man ständig mit evangelikalen Ansichten über die Bibel in Verbindung bringt, sind ‘Unfehlbarkeit’ und ‘Irrtumslosigkeit’. Sie deuten an, dass die Bibel in allen ihren Teilen ohne Fehler und in allen ihren Aussagen völlig vertrauenswürdig ist, nicht nur da, wo es um Glaubensfragen geht, sondern auch bei allen geschichtlichen, geographischen, philosophischen und anderen Fragen. Manchmal wird der Ausdruck ‘vollständige Verbalinspiration’ gebraucht, was heissen soll, dass alle vorkommenden Wörter im vollen Sinn inspiriert und deshalb wirklich Worte Gottes sind.»[1]
Die «Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel» (1978), die wichtigste Selbstdarstellung des Fundamentalismus (der auch viele Evangelikale zustimmen), fasst die Unfehlbarkeit der Bibel wie folgt zusammen:
«Da die Heilige Schrift Gottes eigenes Wort ist, das von Menschen geschrieben wurde, die der Heilige Geist dazu ausrüstete und dabei überwachte, ist sie in allen Fragen, die sie anspricht, von unfehlbarer göttlicher Autorität: Ihr muss als Gottes Unterweisung in allem geglaubt werden, was sie bekennt; ihr muss als Gottes Gebot in allem gehorcht werden, was sie fordert; sie muss als Gottes Zusage in allem aufgenommen werden, was sie verheißt. Der Heilige Geist, der göttliche Autor der Schrift, beglaubigt sie durch sein inneres Zeugnis und dadurch, dass er unseren Verstand erleuchtet, um ihre Botschaft zu verstehen. Da die Schrift vollständig und wörtlich von Gott gegeben wurde, ist sie in allem, was sie lehrt, ohne Irrtum oder Fehler. Dies gilt nicht weniger für das, was sie über Gottes Handeln in der Schöpfung, über die Geschehnisse der Weltgeschichte und über ihre eigene, von Gott gewirkte literarische Herkunft aussagt, als für ihr Zeugnis von Gottes rettender Gnade im Leben einzelner.»[2]
Die Debatte über die Irrtumslosigkeit ist ein neuzeitliches Phänomen. Ihre Wurzeln liegen in der konfessionellen Spaltung der Christenheit in der nachreformatorischen Periode.[3] Auf dem Konzil von Trient (1545–1563) lehnte die katholische Kirche das reformatorische «Sola Scriptura» ab und erklärte Schrift samt Tradition zur Grundlage des christlichen Glaubens. Die protestantischen Kirchen standen vor der Aufgabe das «Sola Scriptura» zu verteidigen, um so der Reformation eine theologische Grundlage zu geben. Zu diesem Zweck entwickelten sie die Lehre von der Verbalinspiration und sicherten damit gleichzeitig das protestantische Schriftprinzip. Trotzdem sind reformatorisches und evangelikales Schriftverständnis nicht identisch. Die Differenz lässt sich gut an Luthers Prinzip von der «Mitte der Schrift» ablesen.
Martin Luthers «Mitte der Schrift»
Das evangelikale und das fundamentalistische Verständnis der Inspiration gehen über das reformatorische Schriftverständnis hinaus. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass das evangelikale und das fundamentalistische Schriftverständnis auf kritische Distanz zu Luthers Prinzip von der «Mitte der Schrift» geht. Mit der Aussage, dass die Schrift «ohne Irrtum und Fehler» ist, geht die Chicago-Erklärung über Luther und das reformatorische Schriftverständnis hinaus. Wenn alle Teile der Heiligen Schrift gleichermassen inspiriert und ohne Irrtum sind, ist Kritik an Teilen der Bibel nicht möglich. Es ist dann nur schwer denkbar, von grundsätzlich stärker oder weniger zu gewichtenden Aussagen oder Bibelteilen zu reden. Zu solcher Kritik aber sah sich Luther genötigt, trotz seines Glaubens, keiner der Schreiber der Bibel habe geirrt, wie er sich einmal ausdrückte. Entscheidend für Luthers Schriftverständnis war seine Entdeckung von der Rechtfertigung aus Glauben. Für Luther war wegen dieser für ihn alles überragenden Entdeckung entscheidend, «was Christum treibet», denn Christus ist die Mitte der Schrift.
Luther übte von diesem entscheidenden Gedanken ausgehend Sachkritik an der Bibel. Die biblischen Bücher sind nach Luther darauf zu prüfen, ob sie der Mitte der Schrift, Jesus Christus und der Rechtfertigung aus Glauben, dienen. Wegen dieser Mitte konnte Luther den Jakobusbrief, der seinem Verständnis nach die Rechtfertigung aus Glauben unterlief, als «stroherne Epistel» bezeichnen. Aus demselben Grund hatte Luther ein gebrochenes Verhältnis zur Johannesoffenbarung, da seiner Auffassung nach in ihr Christus weder gelehrt noch erkannt wird, um seine Formulierung zu gebrauchen. Zum Hebräerbrief ging Luther auf kritische Distanz, weil er seinem Verständnis nach den Sündern zu wenig Raum für die Busse lässt, was gegen die Evangelien und die Briefe des Paulus sei.
Die Chicago-Erklärung schiebt Sachkritik dieser Art einen Riegel, indem sie festhält, dass die Schrift «in allem», was sie sagt, «von unfehlbarer göttlicher Autorität» ist. Ein kritisches Ausscheiden von Texten, die nicht im Einklang mit der Mitte der Schrift sind, kann es so nicht geben. Obwohl nicht alle Evangelikalen den fundamentalistischen Standpunkt der Chicago-Erklärung teilten, lehnen die meisten evangelikalen Ausleger Luthers Prinzip von der Mitte der Schrift ab. Sie bestreiten damit nicht, dass Jesus das Zentrum der Schrift ist. Trotzdem verzichten sie auf das Konzept, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie würden Teile der Bibel als nicht inspiriert betrachten.
Gehorsam und Geltungsbereich
Als inspiriertes Gotteswort ist die Bibel für evangelikale Christen drittens verbindliche Grundlage für Leben und Glauben. Sie ist Gotteswort und Menschenwort gleichzeitig. Als von Menschen verfasstes Wort ist sie zunächst Zeugnis des Lebens und Glaubens Israels und der ersten Christen. Weil dieses Zeugnis von Gottes Geist geleitet ist, ist es wahrhaftig, verlässlich und normgebende Offenbarung für uns. Dadurch wird die Schrift die Zeiten überschreitendes Gotteswort. Ebenfalls ins Gewicht fällt, dass viele Evangelikale den Gedanken der «Unfehlbarkeit» der Idee der «Irrtumslosigkeit» vorziehen und ihn damit begründen, dass die Bibel sowohl eine göttliche als auch eine menschliche Seite hat.
Insgesamt steht das evangelikale Schriftverständnis, vor allem wenn es um die Inspiration geht, dem Fundamentalismus näher als der modernen Bibelwissenschaft. Im 19. und 20. Jahrhundert profilierte sich die evangelikale Bewegung dort, wo es galt, traditionelle christliche Lehren gegen den Modernismus und kritische Anwürfe zu verteidigen. Die evangelikale Antwort auf die durch die Moderne ausgelösten Krisen bestand stets im Beharren auf einem Grundbestand des Glaubens. Dieser Grundbestand wurde durch den Verweis auf die Bibel als inspiriertes Gotteswort und durch die wörtliche Auslegung dieses Wortes gesichert. Aus diesem Grund ist die evangelikale Bewegung immer eine Bibelbewegung gewesen. Was die Bewegung zusammenhält, ist das Bekenntnis zur Bibel als Gottes inspiriertes Wort.
Abgrenzung zum Fundamentalismus
Obwohl Evangelikale und Fundamentalisten oft gleichgesetzt werden, gibt es Unterschiede. Sie haben eine gemeinsame Geschichte und sie teilen wichtige theologische Standpunkte. Die Gemeinsamkeiten sind grösser als die Unterschiede, die Grenzen zwischen beiden Positionen unscharf. Was das Schriftverständnis betrifft, teilen sie den Glauben an die unbedingte Verlässlichkeit der Schrift sowie an ihre andauernde Gültigkeit. In Abgrenzung zum Evangelikalismus kann in Bezug auf das Schriftverständnis von einer dreifachen Tendenz im Fundamentalismus gesprochen werden:
Der Fundamentalismus weist erstens eine Tendenz zur gesellschaftlichen und akademischen Isolation auf. Der modernen Bibelwissenschaft wird mit grossem Misstrauen begegnet. Der Fundamentalismus nimmt nur begrenzt Teil an der wissenschaftlichen Erforschung der Bibel. Dort, wo man sich mit der modernen Bibelwissenschaft beschäftigt, erfolgt die Auseinandersetzung fast ausschliesslich im Modus der Ablehnung.
Die Evangelikalen haben mit dem Aufbruch der «New Evangelicals» in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Isolation hinter sich gelassen und nehmen am theologischen Diskurs teil. Obwohl viele Evangelikale der historisch-kritischen Auslegung distanziert gegenüberstehen, arbeiten sie teilweise mit ihren Methoden und gestehen ihnen ihren rechtmässigen Platz in der Auslegung zu. Sie haben weniger Schwierigkeiten Teilergebnisse der kritischen Forschung anzuerkennen und in ihre Theologie zu integrieren als Fundamentalisten. Unter Evangelikalen ist das Bedürfnis nach theologischen Grenzziehungen weniger stark ausgebildet als bei den Fundamentalisten. Man definiert sich weniger über das, was man bekämpft, und findet die eigene Identität mehr in positiven Glaubensinhalten. Das schafft Raum für gesellschaftliche Aufgeschlossenheit und ermöglicht eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Bibel.
Der Fundamentalismus spricht sich zweitens stärker als der Evangelikalismus für eine wörtliche Interpretation biblischer Texte aus. Zusammen mit dem Evangelikalismus besteht der Fundamentalismus darauf, dass die von den biblischen Autoren berichteten Geschehnisse historische Ereignisse wiedergeben und nicht blosse Literatur sind. Wenn es jedoch um den Gebrauch wissenschaftlicher Methoden in der Auslegung geht, zeigen sich erhebliche Unterschiede. So werden in der fundamentalistischen Auslegung literarischen Gattungen und den damit verbundenen Sprachformen wenig Beachtung geschenkt. Fundamentalisten legen möglichst wörtlich aus, während Evangelikale mehr Raum für Symbolik lassen. So glauben Fundamentalisten, dass die 1000 Jahre von Offenbarung 20 wörtlich zu interpretieren sind, während viele Evangelikale die Zahl symbolisch auslegen, weil die Offenbarung ihre Botschaft vorwiegend durch Zahlen und Symbole vermittelt.
Der Fundamentalismus weist drittens eine stärkere Tendenz zur Systematisierung biblischer Inhalte auf als der Evangelikalismus. Typisch für das fundamentalistische Schriftverständnis ist der Glaube, dass sich aus der Bibel ein geschlossenes System von theologischen Wahrheiten ableiten lässt. In Teilen des Fundamentalismus ist immer noch der Aufklärungsglaube wirksam (obwohl man sich ansonsten scharf von den Grundsätzen der Aufklärung abgrenzte), der besagt, dass sich jegliches theologische Problem lösen lässt, wenn man sich nur intensiv genug mit dem Gegenstand beschäftigt. Das führt dazu, dass Bibeltexte spekulativ aneinandergereiht werden, bis ein geschlossenes theologisches System entsteht. Besonders konsequent wird diese Überzeugung in Endzeitfragen angewendet, so dass ganze Endzeitfahrpläne erstellt werden.
Unterschiede zum Post-Evangelikalismus
Seit der Jahrtausendwende wird es immer deutlicher: Für eine wachsende Zahl evangelikaler Christen tut sich eine Diskrepanz auf zwischen dem, was sie in ihren Gemeinden gelehrt wurden, und dem, was sie als stimmig für ihren Glauben erachten. Das führt für viele zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Bibel und der Frage, ob biblische Texte nicht auch anders interpretiert werden können. Gibt es die Hölle wirklich? Gibt es alternative Heilswege neben Jesus? Ist die biblische Sexualethik nicht zeitbedingt und überholt?
Die Lösung für viele Post-Evangelikale liegt darin, sich der modernen Bibelwissenschaft anzunähern. Sie ermöglicht es ihnen, sich intensiv mit biblischen Texten auseinanderzusetzen, gleichzeitig können sie die als unzeitgemäss empfundenen Ergebnisse evangelikaler Auslegung hinter sich lassen und progressive Standpunkte einnehmen. Dave Tomlinson widmet in seinem Klassiker «The post evangelical» der Bibel als Wort Gottes ein Kapitel. Seiner Erfahrung nach werden viele Post-Evangelikale vom Glauben an die Irrtumslosigkeit («inerrancy») der Bibel umgetrieben. Dieser Geist müsse «ausgetrieben» werden.[4] Die Beschäftigung mit der Irrtumslosigkeit sei Zeitverschwendung, zumal die Bibel nirgends ihre eigene Irrtumslosigkeit behaupte.
Welches Verständnis von Gottes Wort steht hinter Tomlinsons schroff wirkenden Aussagen? Tomlinson geht davon aus, dass die Bibel Fehler, Irrtümer und Diskrepanzen aufweist und stellt die Frage, inwiefern die Bibel unter diesen Voraussetzungen «Gottes Wort» sein könne. Die Lösung findet Tomlinson in der Angleichung an die moderne Bibelwissenschaft mit ihrem kritischen Schriftzugang. Die Bibel «sei» nicht Offenbarung, sondern «bezeuge» sie. Sie sei deshalb nicht an sich Gottes Wort, sondern sie «werde» für den Gottes Wort, der sie im Glauben lese. Dieser Mittelweg zwischen moderner Bibelwissenschaft und traditioneller Auslegung eröffnet postevangelikale Spielräume. Unter der Voraussetzung, dass die biblischen Verfasser keinen fehlerlosen Text verfassten, sondern unter Umständen ihre begrenzte Sichtweise wiedergaben, können Fragen der Sexualmoral, der Bedeutung der nichtchristlichen Religionen oder des Sühnetodes Jesu neu interpretiert werden.
Nach postevangelikaler Lesart ist die Bibel weniger ein Buch, das unveränderbare Wahrheiten enthält, und mehr ein Kompendium schriftlicher Zeugnisse vom Handeln Gottes. Es sei deshalb nicht so sehr nach statischen Dogmen zu suchen, und es gehe mehr darum, sich von den biblischen Texten existenziell ansprechen und für das Leben in der Nachfolge inspirieren zu lassen. Die klassische Bibelauslegung verliert im Post-Evangelikalismus an Bedeutung, an ihre Seite tritt eine narrative Lesart und ein intuitives Hineinfühlen in die Texte. Das führt zu Standpunkten, die sich stark vom klassischen Evangelikalismus unterscheiden und eine grosse Nähe zu bibelkritischen Positionen haben.
Ergebnis
Ich halte das traditionelle evangelikale Schriftverständnis für sehr ausgewogen. Es entspricht im Vergleich mit den anderen in dieser Serie untersuchten Bibelzugängen (fundamentalistisch, postevangelikal, bibelkritisch) dem biblischen Selbstanspruch am besten. Es überzeugt, weil es theologisch weniger eng ist als das fundamentalistische, weil es den Wortlaut des Bibeltextes ernster nimmt als die narrative Lesart vieler Postevangelikaler, und weil sie nicht die Vernunft zum Richter über Gottes Wort macht wie die moderne Bibelwissenschaft, sondern Gottes Wort im Glauben liest.
Das Schriftverständnis der Evangelikalen kann wie folgt zusammengefasst werden: Die Bibel legt verlässlich Zeugnis ab vom geschichtlichen Handeln Gottes, so dass die biblischen Schriften ein solides Fundament für den Glauben an Jesus als den Christus Israels und Retter der Welt bieten. Die Bibel ist als dieses verlässliche Zeugnis Wort Gottes, das unter dem Antrieb des Heiligen Geistes entstand, und uns in Fragen des Lebens und des Glaubens unfehlbar mit dem Willen Gottes bekanntmacht. Die Botschaft der Bibel erschliesst sich uns durch eine sorgfältige Auslegung und durch das Wirken des Heiligen Geistes. Als Wort Gottes hat die Bibel Autorität. Sie ist nicht nur ein Gegenstand, den wir untersuchen, sondern zugleich Anrede Gottes an uns. Sie lehrt uns nicht alles, was wir wissen möchten, aber sie lehrt uns alles, was wir zu einem dem Willen Gottes entsprechenden Leben wissen müssen.
Fussnoten:
[1] Tidball, Reizwort Evangelikal, 146.
[2] Teil 1: Zusammenfassende Erklärung.
[3] Für das Folgende Zimmer, Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?, 120–121.
[4] Tomlinson, The post evangelical, 85ff.
Hallo!
Danke für die interessanten Ausführugen.
Oft bekommt man ja den Eindruck, wer nicht “evangelikal” ist und nicht glaubt, daß ein gewisses Dokument aus Chicago eine irrtumslose, verbalinspirierte, heilige Schrift ist, der ist ein im Abfallen begriffener historisch-kritischer Irrlehrer der liberalen Theologie, für den Jesus nur ins Kerygma auferstanden ist.
Aber hier wird klar: Man kann auch einfach Lutheraner oder Reformierter sein und erkennen, daß die Ankündigung der Bestrafung der Edomiter durch den Propheten Obadja vielleicht doch nicht so wichtig ist wie die Stimme Christi, die von seinen Schafen erkannt wird.. Gut zu wissen!
Viele Grüße!
Lieber Paul und Roland
Danke für diese wertvollen Texte. Warte richtig auf den nächsten! Weiter so.
Thx Geru!
Wir sind zwar erst bei Teil 4 von 6, ich möchte mich bereits jetzt aber herzlich bedanken, für die tollen, fundierten und nachvollziehbaren Aufsätze!
Danke! Meld’ doch deine Fragen auf dieser Plattforma anbringen. Wir machen mit Roland einen Video Podcast, in dem wir Leserfragen einbringen.