Durch die Plattform «Worthaus», insbesondere die Beiträge von Siegfried Zimmer, ist ein Konflikt um die Bibel entflammt, der sich im Grundsatz bis auf die Reformation zurückführen lässt. Auf der einen Seite geht es um die moderne Bibelwissenschaft, wie sie heute an den Universitäten üblich ist. Auf der anderen Seite geht es um das evangelikale Schriftverständnis, das der Bibelwissenschaft distanziert gegenübersteht. In dieser sechsteiligen Serie untersuche ich die geschichtlichen Hintergründe und die theologischen Grundsätze beider Seiten und möchte einen Beitrag zur Klärung leisten.
In diesem ersten Teil werde ich darstellen, worin der Konflikt besteht. Ich werde noch keine Antworten bieten, sondern erst mal möglichst ausgewogen die Dynamik des Streits beschreiben. Mit vorschnellen Antworten und Schuldzuweisungen ist nichts gewonnen.
Die moderne Bibelwissenschaft legt die Bibel im Einvernehmen mit der Vernunft aus. Sie hat dazu überprüfbare Herangehensweisen an die biblischen Texte entwickelt, die zusammenfassend als «historisch-kritische Methode» bezeichnet werden. Ich werde sie in Teil 5 näher beschreiben. Evangelikale Theologen messen der historisch-kritischen Methode begrenzte Bedeutung zu. Sie betonen stärker die Notwendigkeit des vertrauensvollens Lesens der Heiligen Schrift und des Wirkens des Heiligen Geistes in der Auslegung.
Beide Seiten können auf eine lange Geschichte verweisen. Die Methoden der modernen Bibelwissenschaft begannen sich im Zuge der Aufklärung vor zweihundert Jahren zu entwickeln und sind von einem grossen Teil der theologischen Fachwelt anerkannt. Das evangelikale Schriftverständnis, das an vielen staatsunabhängigen Seminaren und Hochschulen vorausgesetzt wird, greift bis zum Pietismus und zur altkirchlichen Bibelauslegung zurück und weiss eine starke Bekenntnistradition hinter sich. Beide Seiten können gewichtige historische, theologische und weltanschauliche Argumente vorbringen.
Evangelikale Ausdifferenzierung
In Bezug auf das evangelikale Schriftverständnis ist zu berücksichtigen, dass die evangelikale Bewegung eine bunte Angelegenheit ist, in der theologische Positionen variieren können. Die evangelikale Bewegung ist, wie Gisa Bauer in ihrer Habilitationsschrift «Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche» nachweist, in jüngster Zeit von einer starken Ausdifferenzierung geprägt.[1]
Auf der einen Seite des evangelikalen Spektrums gibt es die Fundamentalisten, die an der Irrtumslosigkeit der Bibel festhalten und ein individualistisches Heilsverständnis vertreten. Der Tod Jesu am Kreuz war ein Sühnopfer, das vor dem Zorn Gottes rettet, sofern Christus durch Busse und Glauben angenommen wird. Die Evangelisation ist die vorrangige Aufgabe der Kirche. Der Fokus auf soziale Aufgaben wird als Verwässerung des Evangeliums beklagt. In ethischen und gesellschaftlichen Fragen vertreten Fundamentalisten konservative Positionen. Die Ehe ist für die Gemeinschaft zwischen Mann und Frau reserviert, Homosexualität wird von der Bibel verurteilt, Frauen dürfen in der Kirche weder lehren noch leiten.
Auf der anderen Seite gibt es die Post-Evangelikalen, die sich durch progressive Standpunkte von ihrer ursprünglichen evangelikalen Heimat absetzen.[2] Die Bibel enthält ihrer Auffassung nach nicht «statische Wahrheiten», wie sie Fundamentalisten aus den biblischen Texten ableiten. Die Bibel wird in Anlehnung an die moderne Bibelwissenschaft als menschliches Zeugnis vom Wirken Gottes gelesen. Das Heilsverständnis ist im Wesentlichen humanistisch. Jesus wird weniger als Retter wahrgenommen, der für uns starb, und stärker als Vorbild portraitiert, dem wir nacheifern sollen. Im Fokus steht weniger das Streben nach ewigem Leben und mehr die Gestaltung eines erlösten Lebens im Diesseits. In ethischen Fragen sind Post-Evangelikale progressiv. Mann und Frau sind einander gleichgestellt, in der Regel wird die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare befürwortet.
Zwischen diesen beiden Polen befindet sich der klassische Evangelikalismus, der den überwiegenden Teil der Bewegung ausmacht. Das gilt sowohl für die weltweite evangelikale Community als auch für den deutschen Sprachraum. Im evangelikalen Mainstream haben je nach kirchlicher Prägung und theologischen Präferenzen konservative und progressive Positionen Platz. Der Evangelikalismus ist, bedingt durch seine Geschichte, schon immer vielgestaltig gewesen. Zusammengehalten wird er durch das Bekenntnis zur Bibel als Wort Gottes. Während der fundamentalistische Flügel von Anfang an Teil der evangelikalen Bewegung war, hat der Post-Evangelikalismus mit der Jahrtausendwende der bunten evangelikalen Bewegung einen weiteren, kräftigen Tupfer hinzugefügt.
Auffallend ist, dass Post-Evangelikale sich den Methoden der modernen Bibelwissenschaft annähern, um die Bibel zu interpretieren. Die in jüngster Zeit wachsenden Differenzen innerhalb der evangelikalen Bewegung ergeben sich aus dieser Annäherung. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass die verschiedenen theologischen Positionen wie «konservativ» über «progressiv» bis «liberal» auf die Art und Weise zurückgeführt werden können, wie die Bibel gelesen wird. Es handelt sich, auch wenn ethische Fragen verhandelt werden, also um einen Grundsatzkonflikt.
«Worthaus» und Siegfried Zimmer
In den letzten Jahren ist die Debatte über das rechte Schriftverständnis hauptsächlich in Blogs sowie auf der Plattform «Worthaus» geführt worden. Worthaus möchte in wissenschaftlich verantwortbarer Weise biblische Inhalte einem postmodernen Publikum nahebringen. Man will nach eigenen Angaben Einsichten der modernen Bibelwissenschaft zugänglich machen und einen unverstellten Blick auf den christlichen Glauben ermöglichen. Siegfried Zimmer, Mitbegründer von Worthaus, gehört zu den prominentesten Rednern. Als emeritierter Professor für evangelische Theologie und Religionspädagogik bringt er ein breites Fachwissen mit. Charakteristisch für seine beliebten Referate sind die Verständlichkeit der von ihm vermittelten Stoffe und seine Polemik gegen Evangelikale und Fundamentalisten. Zimmer arbeitet in bewusster Abgrenzung zum evangelikalen Schriftverständnis mit den Methoden der modernen Bibelwissenschaft.
In seinem Referat «Warum das fundamentalistische Bibelverständnis nicht überzeugen kann» legt Zimmer sein Bibelverständnis in Anlehnung an Luther dar und bringt seine Argumente gegen das evangelikale Schriftverständnis vor. [3] Obwohl sich Zimmer der Unterschiede zwischen evangelikalem und fundamentalistischem Schriftzugang bewusst ist, verschwimmen diese in seinem Referat, so dass der Eindruck entsteht, evangelikale Auslegung sei grundsätzlich fundamentalistisch. Ich werde in einem späteren Teil auf die Unterschiede zwischen dem evangelikalen und dem fundamentalistischen Schriftverständnis eingehen.
Zimmer unterscheidet in seinem Referat markant zwischen Jesus und Gott auf der einen und der Bibel auf der anderen Seite. Jesus sei die «primäre» Offenbarung Gottes, die Bibel als von Gottes Geist inspiriertes Zeugnis von Menschen die «sekundäre» Offenbarung. Die Bibel enthalte unzählige Fehler, in «Heilsdingen» besitze sie hingegen eine «verlässliche Orientierungskraft». In seinem Buch «Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?» legt Zimmer sein Schriftverständnis ausführlich und auf verständliche Weise dar und grenzt sich auch hier dezidiert vom evangelikalen Schriftverständnis ab.
Für Zimmer ist die Bibel bei aller Wertschätzung ein menschliches Buch und kritische Forschung darum möglich und sachgemäss. Zimmers Schriftverständnis lässt sich einem gemässigten historisch-kritischen Ansatz zuordnen. Als Referent wird er bis weit ins evangelikale Lager hinein gerne und zum Teil unkritisch gehört und ist auf freikirchlichen Veranstaltungen in den Rednerlisten zu finden.
Vernunft oder Offenbarung?
Evangelikale Schriftauslegung und moderne Bibelwissenschaft sind keine völligen Gegensätze. Beide Ansätze verbindet der Glaube, dass Gottes Wort in einer geschichtlichen Situation an uns ergangen ist und die Auslegung der Bibel unter Berücksichtigung dieser Situation interpretiert werden muss. Welche Methoden dabei anzuwenden sind und welche Gültigkeit die einzelnen Texte haben, ist Gegenstand eines langen Streits. Der Konflikt mit seinen scheinbar unversöhnlichen Standpunkten ist nichts grundsätzlich Neues. Es handelt sich, wie Jörg Breitschwerdt in seiner Dissertation «Theologisch konservativ» über die evangelikale Bewegung zeigt, um einen innerprotestantischen Bibelstreit. Er wurde besonders heftig im 19. Jahrhundert und um die Mitte des 20. Jahrhunderts geführt und lässt sich bis zur Reformation zurückführen. Im Grundsatz geht es um eine nicht geklärte Spannung zwischen Reformation und Humanismus. Für die Reformation steht Martin Luther mit seinem Schriftprinzip, für den Humanismus sein katholischer Gegenspieler Erasmus von Rotterdam. Breitschwerdt zeichnet den Streit um die Bibel akribisch nach und stellt fest:
«Im Hintergrund der grossen theologischen Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts steht die Frage nach der Geltung bzw. Interpretation des protestantischen Schriftprinzips.»[4]
Das protestantische Schriftprinzip besagt, dass die Bibel Gottes Offenbarung und sein verbindliches Wort an uns ist und dass es durch das innere Zeugnis des Geistes richtig ausgelegt werden kann. Die Schrift steht über jeglicher Tradition und den Anmassungen der menschlichen Vernunft. Seinen prägnantesten Ausdruck findet das protestantische Schriftprinzip im Wahlspruch der Reformation «sola scriptura».
Das protestantische Schriftprinzip beruht auf dem Grundsatz der Verständlichkeit der Schrift. Die Schrift ist nach Luther klar und im Glauben zugänglich. Gott offenbart sich nicht in logischen Kategorien, weshalb der menschliche Verstand nicht in der Lage ist, göttliche Dinge zu erfassen, sondern der Heilige Geist die richtige Hilfe in der Auslegung bieten muss. Dem gegenüber betonte Erasmus im Streit mit Luther, dass es viele dunkle Stellen und sogar Widersprüche in der Schrift gäbe. Es sei deshalb «nicht möglich, allein die Schrift zum Massstab für theologische Urteile zu nehmen, da dies (aufgrund der konstatierten vielen dunklen Stellen der Schrift) nur zu unsicheren Auslegungen führe. Von daher sei die Theologie auf die Überlieferung der Väter und das Urteil der Amtsträger verwiesen, die in der Nachfolge der Apostel stünden.»[5]
Für Luther stand die Schrift vor jeder Theologie und Tradition. In Erasmus Schriftverständnis war das Urteil menschlich dazu befähigter Zwischeninstanzen (in seinem Fall Roms Lehrautorität) nötig, um die Heilige Schrift richtig zu interpretieren. Der Streit zwischen Reformation und Humanismus bekam vom 17. Jahrhundert an eine neue Dimension durch die geistesgeschichtlichen Umwälzungen der Aufklärung. Sie führten zu einer Dauerkrise des protestantischen Schriftprinzips, die bis heute anhält.
Bei der aktuellen Diskussion um das rechte Schriftverständnis ist im Auge zu behalten, dass der Streit um die Bibel ein Kind der Moderne ist, und die neuerlichen Fragen rund um die Bibel, die durch das Phänomen des Post-Evangelikalismus aufgetaucht sind, den Umwälzungen der Postmoderne geschuldet sind. Im Grunde genommen wird die Diskussion um das protestantische Schriftprinzip unter veränderten Vorzeichen weitergeführt. Die evangelikale Theologie beruft sich hauptsächlich auf Luther (obwohl sie ihm in seinem Schriftverständnis nicht in allem folgt), während Vertreter der modernen Bibelwissenschaft den humanistischen Ansatz von Erasmus weiterdenken (für Johann Salomo Semler, ihr prominentester Vordenker, war nicht Luther, sondern Erasmus der wahre Reformator).[6] Vertreter der modernen Bibelwissenschaft wie Siegfried Zimmer berufen sich aber auch auf Luther, weil dieser Teile der Bibel kritisch las. Davon später mehr.
Konservative Proteste
Der Konflikt um die Bibel ist also nicht neu. Hier lohnt sich der Blick ins vorletzte Jahrhundert. Als sich im 19. Jahrhundert in der universitären Theologie die kritische Interpretation der Bibel immer mehr durchsetzte, kam es zu einer von konservativen Kreisen angeführten Protestbewegung. Breitschwerdt konstatiert folgende Situation zu Beginn des 19. Jahrhunderts:
«Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der theologische Rationalismus in vielen Gebieten Deutschlands sehr wirkmächtig – viele Pfarrer waren von ihm geprägt, auch in den Kirchenleitungen. An den evangelisch-theologischen Fakultäten in Deutschland setzte sich zudem im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr die historisch-kritische Methode zur Erforschung der Schriften des Alten und Neuen Testamentes durch. Diese Entwicklung wurde jedoch bei vielen Gemeindegliedern und Gemeindepfarrern nicht mit vollzogen, so dass sich zwischen Gemeindefrömmigkeit und theologischer Wissenschaft eine immer grössere Kluft auftat, die während des gesamten 19. Jahrhunderts als Konfliktherd schwelte.»[7]
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stehen sich mit dem theologischen Rationalismus, der sich der Aufklärung als Interpretationsmuster bedient, und den evangelikal geprägten Erweckungsbewegungen, zwei grosse Ströme gegenüber, «wobei von den erweckten Theologen vor allem die Sündhaftigkeit des Menschen und seine daraus folgende Verlorenheit, die Gottheit Jesu Christi und der Sühnetod Jesu als nicht aufgebbarer christlicher Lehrbestand deklariert, von den von liberalem und rationalistischem Gedankengut bestimmten Theologen dagegen die hinter den biblischen Berichten liegende moralische Wahrheit betont wurde.»[8]
Es entwickelt sich eine enorme Dynamik: Im Laufe des 19. Jahrhunderts dringt die kritische Theologie immer weiter an die Universitäten vor. Sie erobert einen festen Platz in der Pfarrausbildung und gelangt von dort an die kirchliche Basis. Es kommt zu Unsicherheiten und Konflikten in den Kirchgemeinden. Der modernen Bibelwissenschaft verpflichtete Pfarrer bestreiten die Autorität der Bibel. Sie vermögen die von den konservativen Kräften betonten «Heilstatsachen» nicht mehr zu glauben und ersetzen sie mit «Vernunftwahrheiten», die sie rationalistisch aus der Bibel ableiten. Zu den «Heilstatsachen» zählen die Konservativen die Jungfrauengeburt Jesu und seine Göttlichkeit, die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, Jesu Sühnetod zur Rechtfertigung des Sünders, seine leibliche Auferstehung und sein Wiederkommen als Weltenrichter. Diese Heilstatsachen bilden einen Grundbestand des Glaubens, der konservative und erweckliche Kreise weit über das 19. Jahrhundert hinaus eint. Bald müssen sich die Landeskirchenleitungen mit Pfarrern befassen, die das apostolische Glaubensbekenntnis im Gottesdienst nicht mehr sprechen wollen, sowie mit Professoren, welche die «Heilstatsachen» nicht mehr vertreten.[9]
Konservative Kräfte sehen den Grundbestand des Glaubens in Gefahr und schliessen sich zu lokalen Protestbewegungen zusammen. Sie gelangen an ihre Kirchenleitungen und fordern, dass Pfarrer, die das Glaubensbekenntnis nicht sprechen, aus ihrem Amt entfernt werden und dass Professoren, welche die «Heilstatsachen» leugnen, auf ihre Professur verzichten und in andere Fachbereiche wechseln. Breitschwerdt fasst die konservativen Proteste wie folgt zusammen:
«Insgesamt kam es in den Auseinandersetzungen um die ‘moderne Theologie’ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem inhaltlichen Konsens breiter theologisch konservativer Kräfte, der sich argumentativ gegen verschiedene Angriffe auf die Historizität der Heilsgeschichte entfaltete… Im Zuge der Ausbreitung diverser Erweckungsbewegungen kam es auf mehreren Ebenen zu Zusammenschlüssen ganz unterschiedlicher theologischer Prägungen, die sich allerdings in der Ablehnung zentraler Ergebnisse der theologischen Aufklärung einig waren: Der Neben- oder Überordnung der Vernunft über die Aussagen der Heiligen Schrift, der Bestreitung der Identität von Heiliger Schrift und Wort Gottes, der Bestreitung der Historizität der in den Evangelien überlieferten Ereignisse und der Bestreitung des Glaubens als Voraussetzung für eine rechte Auslegung der Heiligen Schrift.»[10]
Die Konservativen beharren mit dem Hinweis auf die biblischen Heilstatsachen auf einem Grundbestand des Glaubens, den sie in Anlehnung an die altkirchliche und reformatorische Auslegung aus der Bibel ableiten. Der theologische Richtungsstreit des 19. Jahrhunderts ist im Grunde genommen also ein Bibelstreit. Die Parallelen zum gegenwärtigen Konflikt um die Bibel sind offensichtlich.
Mehr als Theologenstreit
Im Konflikt zwischen dem evangelikalen Schriftverständnis und der modernen Bibelwissenschaft stellen sich grundlegende Fragen: Ist die Bibel inspiriertes Gotteswort oder bezeugen hier einfach Menschen ihren Glauben? Je stärker von den einen der Inspirationsgedanke betont wird, desto stärker ist das Vertrauen in die Heilige Schrift als von Gott kommendes Wort. Je stärker andere sich die Bibel als menschliches Zeugnis von Gottes Handeln denken, desto mehr werden im Prozess dieses Zeugnisgebens menschliche Fehler einkalkuliert. Wer hat recht in diesem Streit? Kann von der Bibel als göttlicher Offenbarung gesprochen werden und sie entsprechend mit der Hilfe des Heiligen Geistes ausgelegt werden? Oder ist die Bibel ganz im Einvernehmen mit der menschlichen Vernunft zu interpretieren? Dies war die Kardinalfrage im Bibelstreit des 19. Jahrhunderts und ist es im Grunde genommen geblieben. Der Streit hat Auswirkungen auf aktuelle gesellschaftliche Fragen. Kann die Bibel unter den Denkvoraussetzungen der Postmoderne noch als moralische Instanz angerufen werden? Oder ist sie in der veränderten Situation von heute nicht mehr in der Lage, in ethischen Fragen Leitlinien vorzugeben?
Die Debatte ist also mehr als Theologenstreit. Sie rührt an die Grundfesten des Glaubens. Was zum christlichen Glauben gehört und wie dieser Glaube gelebt werden soll, entscheidet sich schon früh am Schriftverständnis. Mit dem Schriftverständnis werden Weichen gestellt, die vom Glauben in ganz bestimmte Richtung befahren werden und darüber entscheiden, zu was sich dieser Glaube bekennt und wie er gestaltet wird. In den nächsten beiden Teilen werde ich beschreiben, welche Weichen in welche Richtung gestellt wurden. Die Beschäftigung mit den entsprechenden geschichtlichen Entwicklungen ist unumgänglich, wenn man den Konflikt um die Bibel verstehen will.
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Fussnoten:
[1] Bauer, Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland.
[2] Vgl. Das Buch von Markus Till, Zeit des Umbruchs.
[3] www.worthaus.de (Referat vom 22.6.2014).
[4] Breitschwerdt, Theologisch konservativ, 37ff für das Folgende.
[5] Ebd., 41.
[6] Ebd., 61.
[7] Ebd., 81.
[8] Ebd., 83.
[9] Näheres bei Breitschwerdt, Theologisch konservativ, 153ff.
[10] Ebd., 151.
Zwei Bitten. Bei solchen Artikel-Serien fände ich es schön, wenn man beim Download als pdf auf die Bilder verzichten könnte. Pdf bedeutet ja häufig, dass man es ausdrucken will. Und außerdem wäre es schön, eine Möglichkeit zu schaffen, alle Folgen auf einmal als pdf herunterladen zu können. Nur so als Tipp. Danke für die Mühe und die tolle Arbeit. Jürgen Fischer
Hallo!
Das mag historisch alles richtig sein, trifft aber eigentlich nicht den Kern der Sache.
Der eigentliche Grund für die Ablehnung von Bibelstellen wie Sprüche 13, 24 hat mit Vernunft gar nix zu tun, sondern mit Gefühl und Empathie, wie sie durch andere Stellen der Schrift wie 1. Joh 4, 7–8 inspiriert werden. Das kann man auch bei Siegfried Zimmer heraushören.
Die Bibel selbst räumt der Vernunft eine hohe Position ein: Sprüche 13, 16: “Ein Kluger tut alles mit Vernunft”.
Daß “Widersprüche in der Schrift” sind, ist Absicht Gottes.
Ein krasser Widerspruch besteht z.B. zwischen 1. Joh 3, 6–10 und 1. Joh 1, 8–10.
Die übliche Auslegung scheint darin zu bestehen, 1. Joh 3, 6–10 zu relativieren und abzuschwächen, hingegen alle Stellen in 1.Joh, die nach sola gratia klingen, zu betonen und stark zu machen. Das ist aber nicht das, was der Text sagt.
Theologen haben keine Ahnung von formaler Logik. Die Beschwerden gegen “Widersprüche in der Schrift” unterstellen die Gültigkeit des “principle of explosion” https://en.wikipedia.org/wiki/Principle_of_explosion, das aber in der parakonsistenten Logik gar nicht vorausgesetzt wird https://de.wikipedia.org/wiki/Parakonsistente_Logik . Das “principle of explosion” ist eine menschliche Entwicklung aus dem 12.Jhd. auf der Basis des Studiums des Aristoteles (siehe dazu das Metalogicon des John of Salisbury). Die Beschwerden gegen “Widersprüche in der Schrift” stellen damit die menschliche Vernunft höher als die Bibel.
Nur weil man dunklen Stellen in der Bibel nicht versteht, muß man nicht gleich zum Papst rennen. Dann läßt man die Stellen halt dunkel stehen. Schlimm wäre es ja nur, wenn die eigentliche Heilsbotschaft dunkel wäre.
Viele Grüße!
Hallo,
bevor ich mich inhaltlich äußere… ich schreibe hier unter einem Pseudonym, nicht weil ich einen komplett anonymen Kommentar abgeben will, sondern einfach deswegen, weil ich keine Person des öffentlichen Lebens bin und meinen realen Namen einfach aus Datenschutzgründen hier nicht nennen möchte.
VORBEMERKUNG
Ich würde mich gerne noch viel ausführlicher und gründlicher äußern, doch schon allein aus zeitlichen Gründen ist mir dies nicht möglich, so dass mein Kommentar vielleicht eher stichpunktartig ist und eher Impulse, als durch und durch ausgearbeitet Argumente enthält.
GRUNDSÄTZLICHES ZUM ARTIKEL
Ich denke, das Anliegen dieses Artikels, diese Serie und auch das dieser Plattform ist klar: Es geht darum, um Klarheit zu schaffen, zu Fragen, die für den christlichen Glauben eine große Relevanz haben. Auseinandersetzung und Klärung dieser Fragen haben richtungsweisenden Charakter.
Ich stimme damit überein, dass auch die Frage, wie wir diese Sammlung von Schriften, die wie Bibel nennen, betrachtet werden muss, eine wichtige ist.
Ich kann diese Frage allerdings nicht als einen Grundkonflikt in der Weise sehen, dass das ‘Schriftverständnis’ so etwas wie eine Weichenstellung ist, die darüber entscheidet, ob man in die Irre läuft oder ans Ziel kommen wird. Eine Ablehnung einiger Texte der Bibel, als das, was Gott den Menschen zu sagen hat, oder, nur das als historisch korrekt, oder in anderer Weise als relevant für unser dasein als Menschen zu betrachten, was mit den (aktuellen) Erkenntnissen (vor allem) der (Natur-) Wissenschaften in Übereinstimmung gebracht werden kann. würde ich eher als die Folge einer “Ungläubigkeit”, als dessen Ursache sehen.
Durch die Wahl des Begriffs ‘Grundkonflikt’ (ohne Fragezeichen dahinter) lässt sich schon erahnen auf was die ganze Argumentation hinaus laufen wird… was im zweiten Artikel zu dieser Serie vielleicht auch nochmals an dem Satz “Dem stellen die Evangelikalen entgegen, dass die Bibel nur mit einem Grundvertrauen gewinnbringend gelesen werden kann.” deutlich wird – auch wenn hier direkt noch keine eigene Stellung bezogen wird.
An andere Stelle wird der Begriff ‘Logik’ mit einer “ungeeigneten” Herangehensweise zum Verständnis der biblischen Schriften in Verbindung gebracht, was diese Vorausahnung auch nochmals bestärkt.
THEMATISCHES
Ich weiß nicht, ob dem Autor die Auseinandersetzung Francis Schaeffers, in seinem Werk ‘Wie können wir denn leben?’ mit dem Einzug des Existenzialismus in die Theologie, sowie mit dessen grundsätzliche Art, sich mit den Fragen in Zusammenhang mit Gott zu beschäftigen, bekannt ist.
Ich bin mir nicht sicher, aber dachte zumindest bisher, dass man Schaeffer zu den ‘Evangelikalen’ zählt (wenn man solch eine Einteilung machen will) Das was er schreibt steht aber aus meiner Sicht im krassen Gegensatz zu dem, wie hier ein evangelikales Bibelverständnis beschrieben wird.
Egal von welchem Standpunkt ich starte, und egal welche Methode ich anwende, es kommt doch darauf an, ob es mir wirklich darum geht, (die) Wahrheit zu finden – oder eher darum, mich in meinem Weg bestätigt zu sehen. Ich muss nicht, wie Grundkapital, ohne dass nichts geht, zuerst Vertrauen haben um zu relevanten und zielführenden Erkenntnissen zu gelangen. (Auch wenn eine Vertrauensfähigkeit eine gewisse Rolle spielen wird.) Vertrauen braucht eine Basis, es muss doch zugestanden werden, dass diese erst einmal geschaffen werden muss.
Wir sind doch Wesen, die Urteilsfähigkeit und Forscherdrang und Verständnisfähigkeit haben. Natürlich besteht immer wieder die Gefahr, sich allein, oder zumindest vor allem, auf solche Dinge zu verlassen. Doch Grundsätzlich, denke ich, sind diese Fähigkeiten dazu da, die Möglichkeiten unseres Lebens auszuschöpfen (Worüber sich Gott, als Geber dieser Gaben wohl unendlich freien würde…)
In der “christlichen Welt” (ich benutze jetzt einfach mal diesen Begriff, auch wenn ich ihn gar nicht so mag…), gab und gibt es so viele Dinge zu denen einfach gesagt wird: “Das muss man halt so glauben”. Warum auch immer hieß und heißt es, es gibt da nicht wirklich Argumente dafür, da ist nichts logisches dran usw.
Ich weiß nicht, ob solch eine Umgang aus Machtinteressen oder aus “Faulheit” zustande kam.
Ja , unser Erkenntnisse werden niemals vollständig sein können, aber das bedeutet nicht, das wir überhaupt nichts relevantes erkennen können, das unser Verstand zu überhaupt nichts taugt usw.
Ich steige jetzt nicht tiefer in diese Thematik ein, denke aber, dass so etwas wie ein großes Vakuum unter Christen vorhanden ist, das eigentlich nach einer “eher rationalen Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben verlangt, (nicht ausschießlich, aber ‘auch’) weil diese ein grundlegendes Bedürfnis ist, das leider under Christen viel zu stark vernachlässigt, teils verpönt, teils verboten war uns immer noch ist.
WORTHAUS
Wenn es eine Initiative gibt, deren Anliegen es ist, “dem unverstellten Blick” näher zu kommen, ist das in meinen Augen grundsätzlich eine sehr begrüßenswerte Aktivität.
Biblische Texte sind es wert, auch mit den intensivsten und evtl. aufwendigsten wissenschaftlichen Methoden untersucht zu werden. Es ist unsere Aufgabe als Menschen, so etwas zu tun; doch möglicherweise hat die Ablehnung dessen, diesen Gegensatz zwischen Bibel-Wissenschaft und “einfachem Glauben” erst heraufbeschworen. (Wenn die Bibel “wahr” ist, wird sie jeder wissenschaftlichen Erkenntnis stand halten, oder vielleicht sogar auch einmal die ein oder andere in den Schatten stellen.)
Ich sah es als ein Anliegen des ‘Worthauses’ diese (gewinnbringende und eigentlich unabdingbare) Qualität der Auseinandersetzung, des sich befassens, einer breiten Zuhörerschaft nahe zu bringen.
Ich habe die Worthaus-Vorträge seit dessen Gründung bis ca. zum Jahr 2015 rauf und runter gehört, klar auch deswegen, weil darin so viel war, zu dem ich zuvor noch nie etwas gehört habe. Aber es sind auch viele Erkenntnisse, dabei, die ich gewonnen habe und nicht mehr missen möchte.
Ich schätze und mag Siegfried Zimmer. ich bin ihm ein paar mal begegnet, wir hatten miteinander gesprochen und uns per e.mail geschrieben. Heute, nach bestimmten Auseinandersetzungen und neuer Erfahrungen würde ich sagen, dass ich mit Dr. Zimmer in zumindest einigen, aber doch solchen Punkten, die ich als sehr wesentlich betrachte, eindeutig nicht übereinstimme. (Was ich sehr schade finde…)
SCHLUSSBEMERKUNG
Ich ziehe nun kein inhaltliches Fazit zur Auseindersetzung mit biblischen Texten oder mit der Bibel als ganzes, sondern schreibe hier mal (frei von der Leber weg), dass ich einen Artikel wie diesen, für mich nicht in Übereinstimmung mit dem Anspruch einer “Daniel-Option” sehen kann.
Für mich geschieht die Auseinandersetzung mit der Thematik nicht gründlich genug, bringt nicht in Richtung Wurzel vor, sondern wirkt aufgesetzt. Ich denke nicht, dass sie dazu dienen kann, solche eine unvorstellbare Brücke zwischen ganz gegensätzlichen Positionen zu bauen, wie es einst Daniel trotz Gefangenschaft und trotz Verabscheuung des Kultes in Babylon, tat.
Ich meine, dass hier so eine Gelegenheit verpasst wird und das ganze eher dazu beträgt, dass sich gegensätzliche Lager noch mehr abriegeln, es einfach zeigt, dass man niemals dazu bereit sein wird, eine Brücke zu bauen, eine Verbindung herzustellen, dann, wenn Gott das wollte.
Ich bitte darum, diese Kritik möglichst als konstruktiv zu betrachten und nicht als grundloses “Geschimpfe”…
… und verbleibe mit Segenswünschen
Danke liebe/r Eisbach. (Setz einfach deinen Namen ein), dass du dir die Zeit genommen hast, ausführlich zu schreiben. Die Auseinandersetzung wird im Verlauf der nächsten Artikel gründlicher werden. Ich denke, du wirst da noch viel wichtiges und interessantes finden. Ich sehe diese Serie als wichtig und richtungsweisend und freue mich auf alle Interaktion 👍